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Prolet und Prophet
von Ramin Taghian

Im Winter 2006/07 und im gesamten folgenden Jahr erlebte Ägypten die größte Streikbewegung seit den 1950er Jahren, die nicht nur die ägyptische Wirtschaft, sondern auch das politische System der Mubarak-Diktatur tief erschütterte. Ramin Taghian über Chancen und Herausforderungen einer ArbeiterInnenbewegung.

Offizielle Stellungnahmen der ägyptischen Regierungsbehörden zur eskalierenden Bewegung versuchten die Verantwortung der Muslimbruderschaft und vom Ausland finanzierten agents provocateurs in die Schuhe zu schieben. Dies passt hervorragend in die bisherige Vorgehensweise der ägyptischen herrschenden Klasse in der Auseinandersetzung mit jeglicher Art von Opposition. Wenn nur das Wort „Muslimbruderschaft“ fällt, gilt das seit jeher als Legitimation, um mit äußerster Härte gegen Kritik am Regime vorzugehen. Tatsächlich ist die Muslimbruderschaft die größte politische Oppositionskraft in Ägypten. Doch ihre Rolle im „ArbeiterInnenaufstand“ des vergangenen Jahres war relativ marginal gemessen an ihrer Größe und ihrer oppositionspolitischen Stärke. Auch andere politische Gruppierungen, insbesondere der Linken, hatten bisher nur wenige Kontakte zur ArbeiterInnenbewegung etablieren können. Was waren die Beweggründe und Motive für den Ausbruch der Streikbewegung und in welchem Verhältnis steht sie zur politischen Opposition?

Ökonomische Restrukturierung

Die ägyptische Wirtschaft befindet sich seit den frühen 1990er Jahren in einer Umbruchsphase. Infolge der Verstaatlichungspolitik unter Gamal Abdel Nasser in den 1960er Jahren war ein großer Teil der Wirtschaft, besonders die Großindustrie, in staatlicher Hand und ArbeiterInnen genossen durch klientelistische Politik immerhin gewisse soziale Sicherheiten. In einem Interview meinten zwei der Streikführer der Mahalla Textilfabrik, Muhammad ‘Attar und Sayyid Habib, dass sie die niedrigen Löhne bisher nur deswegen akzeptiert hatten1, weil sie als ArbeiterInnen im öffentlichen Sektor zumindest eine Jobgarantie fürs Leben haben und Rente bekommen.2 Doch selbst diese minimalen Sicherheiten sind nun in Gefahr.

Das Mubarak-Regime vollführte seit 1991 eine scharfe Trendwende hin zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, nachdem ein „Economic Reform and Structural Adjustment Program“ mit IWF und Weltbank unterzeichnet wurde.3 Trotz einer Reihe von Streiks wurden hunderte Betriebe privatisiert oder geschlossen, tausende ArbeiterInnen arbeitslos gemacht und Löhne seither nicht mehr angehoben oder an die Inflation angeglichen.4 Die Kontrolle des Privatkapitals über die Baumwollindustrie stieg zum Beispiel von 1992 bis 2000 von 8 auf 58 Prozent.5 Gleichzeitig fand eine Verschiebung der öffentlichen Investitionen statt. Der Staat investierte nicht mehr in die Landwirtschaft, Industrie und (Aus-)Bildung, sondern nun profitierten Finanziers und besonders ImmobilienspekulantInnen von der staatlichen Wirtschaftspolitik.6 Durch Korruption und die Verschmelzung von politischer und ökonomischer Macht profitiert Ägyptens „politische Klasse“7 vom Ausverkauf. Eine kleine Minderheit wird reicher, alle anderen ärmer.

Die Maßnahmen, die die ägyptische Exportwirtschaft beleben und ausländisches Kapital nach Ägypten locken sollten, konnten jedoch die ökonomische Krise Ende der 90er Jahre nicht verhindern. Die Antwort der Regierung war eine noch radikalere neoliberale Offensive. Eines der wichtigsten Ziele dieser Offensive liegt in der Privatisierung des traditionell wichtigen und größten industriellen Sektors, der Textilindustrie. In einer Serie von Arbeitskämpfen haben sich TextilarbeiterInnen seit 2004 gegen die Zerschlagung des staatlichen Sektors gewehrt. Diese Kämpfe kamen im vergangenen Jahr zu ihrem Höhepunkt, als sich die Bewegung auf andere Sektoren auszubreiten begann.

Year of discontent

Ausgangspunkt des ägyptischen winter of discontent waren die Kämpfe der ArbeiterInnen der Textilindustrie im Nildelta, genauer gesagt in Ägyptens größtem staatlichen Betrieb, der Misr Spinning and Weaving Company in Mahalla al-Kubra südlich von Alexandria, der 27.000 ArbeiterInnen beschäftigt.8 Nachdem die jährlichen Zuschüsse viel geringer ausfielen als versprochen, weigerten sich die ArbeiterInnen ihr Gehalt anzunehmen, traten am 7. Dezember in den Streik und besetzten die Fabrik.

Die Staatsmacht traute sich aufgrund der großen Überzahl von ArbeiterInnen nicht mit Gewalt gegen die Streikenden vorzugehen. Nach nur vier Tagen gaben die Behörden den Forderungen der ArbeiterInnen nach. Motiviert durch diesen Sieg folgten immer mehr Belegschaften in anderen Fabriken dem Beispiel der Mahalla-ArbeiterInnen. Betroffen waren vor allem die gesamte Textilbranche, das Baugewerbe, die verarbeitende Industrie, sowie auch der Personennahverkehr in der Hauptstadt Kairo. Die Radikalität und Streikbereitschaft nahm solche Ausmaße an, dass selbst die SteuereintreiberInnen in einen mehr-wöchigen landesweiten Streik traten, deren Forderungen Anfang dieses Jahres vollends erfüllt wurden.

Die Rolle der Arbeiterinnen in der Initiierung, sowie im gesamten Verlauf der Streikbewegung ist besonders zu betonen. Erst als 3.000 Näherinnen von Mahalla al-Kubra am Beginn der Streikbewegung ihre Arbeit niederlegten, durch die Fabrik marschierten und riefen: „Wo sind die Männer? Hier sind die Frauen!“, wurde die Produktion komplett gestoppt. Muhammad Attar, einer der Streikführer von Mahalla al-Kubra meinte in Bezug auf die Militanz der Frauen: „Die Frauen nahmen fast jeden auseinander, der vom Management kam, um zu verhandeln.“9 Arbeiterinnen spielten auch in den Kämpfen des letzten Jahres in anderen Betrieben eine zentrale Rolle. Ein herausragendes Beispiel ist der Kampf von Hagga Aisha, der Streikführerin der Hennawi Tabak-Fabrik. Als Mitglied des Gewerkschaftsausschusses der Fabrik musste sie sich gegen den Ausverkauf der ArbeiterInneninteressen seitens der Gewerkschaftsführung wehren und führte einen erfolgreichen Streik, sowie eine Kampagne zur Absetzung der lokalen Gewerkschaftsführung an. Zwar wurde Hagga Aisha wegen ihrer Rolle im Arbeitskampf sowohl vom Fabriksmanagement als auch von der nationalen Gewerkschaft schikaniert und von ihrem Gewerkschaftsposten entlassen, für ihr Engagement und ihre Standhaftigkeit erntete sie aber von der weiblichen wie auch der männlichen Belegschaft den höchsten Respekt und die Belegschaft bestätigte, dass im Laufe des Streiks viele Barrieren zwischen Männern und Frauen gefallen waren.

Strategie des Staats

Der Umfang der Arbeitskämpfe hat seit dem „winter of discontent“ ein enormes Ausmaß angenommen. Joel Beinin, Direktor des Instituts für Middle East Studies an der Amerikanischen Universität von Kairo, meinte, dass dies die größte und längste Streikbewegung seit dem Herbst 1951 sei. Mit 386 Arbeitskämpfen zwischen Jänner und Juli 2007 im privaten und staatlichen Sektor wurden die Zahlen der letzten Jahre bei weitem übertroffen.10

Bemerkenswert an der Streikbewegung ist nicht nur die Dynamik und die Breite der Beteiligung, sondern auch die Reaktion der herrschenden Klasse Ägyptens. Politische Demonstrationen und Auseinandersetzungen werden in Ägypten in der Regel bereits im Keim erstickt. Die Repression ist das wichtigste Mittel zur Verhinderung einer Machtverschiebung und zur Sicherung der politischen und ökonomischen Interessen der Eliten. Die Reaktion auf die jüngsten ArbeiterInnenkämpfe ist jedoch tendenziell anders. Besonders bei großen Betrieben halten sich die Sicherheitskräfte überraschend im Hintergrund und viele der Forderungen wurden nach nur wenigen Tagen erfüllt. Diese Nachgiebigkeit von seiten des Regimes reflektiert die Angst vor weiteren Unruhen. Ein Mitarbeiter des Hisham Mubarak Law Center, eine ägyptische NGO zur Verteidigung von Opfern von Menschenrechtsverletztungen, meinte: „Es ist eine Sache, eine Demonstration mit 50 Intellektuellen im Stadtzentrum Kairos aufzulösen… es ist eine andere Sache, tausende ArbeiterInnen einer großen Fabrik mitten in einer dicht besiedelten Wohngegend niederzuknüppeln. Das könnte Probleme für die Regierung bedeuten.“11 Die Strategie des Staates beschränkte sich demnach darauf ArbeiterInnen in ihren Betrieben zu isolieren und nicht heraus zu lassen. So wurden zum Beispiel ArbeiterInnendelegationen daran gehindert Demonstrationen vor den Büros des staatlichen Gewerkschaftsbunds in Kairo zu veranstalten.

Gewerkschaftsbürokratie

Die aktuellen Kämpfe wirken noch beeindruckender, wenn man berücksichtigt, dass beinahe alle Streiks in Ägypten illegal geführt werden. Grund dafür ist, dass zwar Streiks an sich erlaubt sind, aber vom dominierenden allgemeinen Gewerkschaftsbund („Egyptian Trade Union Federation“ – ETUF) genehmigt werden müssen. Dieser muss jedoch faktisch als Teil des Staatsapparats bezeichnet werden, weshalb es auch keine legalen Streiks in Ägypten gibt. Die Funktion der ETUF liegt primär in der Bereitstellung von sozialen Dienstleistungen und der politischen Mobilisierung für die regierende NDP12. Unnötig zu sagen, dass die Gewerkschaft höchst undemokratisch und bürokratisch organisiert ist, sowie deren Spitze ein effektives Werkzeug in den Händen der regierenden NDP und verbündeten Geschäftsleuten zur Legitimierung der Privatisierungspolitik ist.

Die ETUF zeichnete sich während der Streikbewegung durch eine enge Kollaboration mit den lokalen Geschäftsführungen gegen die streikenden ArbeiterInnen aus und argumentierte systematisch gegen die Forderungen der durch ArbeiterInnen gegründeten Fabrikskomitees. Durch dieses Vorgehen verlor sie die Unterstützung selbst der eher gemäßigten und dem Mubarak-Regime treuen ArbeiterInnen. Die Absetzung der lokalen Gewerkschaftsführungen und die Wahl neuer und von unten kontrollierter Gewerkschaften wurde zentraler Bestandteil der Forderungen vieler Fabriksbelegschaften, die den GewerkschaftsführerInnen berechtigerweise Korruption und Wahlfälschungen vorwarfen. Besonders radikale ArbeiterInnen wie jene der Mahalla Textilfabrik drohten mit Massenaustritten und der Gründung neuer „echter“ Gewerkschaften.13 Muhammad al-Attar, welcher neben seiner Funktion als Streikführer auch Mitglied des linken „Center for Trade Union & Workers Services“ (CTUWS) ist, sagte in einem Interview nach seiner Freilassung am 27. September: “Wir wollen eine Änderung in der Struktur und Hierarchie des Gewerkschaftssystems in diesem Land… So wie Gewerkschaften von oben nach unten organisiert sind, ist grundlegend falsch. Es wird so dargestellt, als ob wir unsere RepräsentantInnen selbst gewählt hätten, obwohl sie in Wirklichkeit von der Regierung ernannt wurden.“14

Dieser Umstand könnte nicht nur für die Gewerkschaft, sondern für das gesamte Regime fatale Konsequenzen haben, welches eine Beteiligung der ArbeiterInnen an der politischen Opposition kaum verkraften könnte. Aus diesem Grund fanden seit dem Ausbruch der Streikbewegung zwar weniger repressive Maßnahmen gegen die Belegschaften selbst, dafür aber Repression gegen Organisationen, die sich für ArbeiterInnenrechte und eine radikale ArbeiterInnenbewegung einsetzten, statt. Seit März wurden Büros der CTUWS in Kairo und Mahalla geschlossen und mehrere Mitglieder verhaftet. Das CTUWS wurde beschuldigt (natürlich neben der Muslimbruderschaft) für die Streiks verantwortlich zu sein.

Nichtsdestotrotz gibt es auch große Hindernisse für die Etablierung einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung. Der Kampf muss über den ökonomischen Rahmen hinausgetragen werden und sich mit der politischen Oppositionsbewegung vereinen, um die Herrschenden auf mehreren Ebenen herausfordern zu können. Während die Repression ein Zeichen der Schwäche des Regimes ist, zeigt sich die Schwäche der politischen Opposition in der bisherigen Unfähigkeit, effektive Verbindungen zum Kampf der ArbeiterInnen aufzubauen.

ArbeiterInnenbewegung und politische Opposition

Die ArbeiterInnenbewegung des vergangenen Jahres hatte unmittelbar ökonomische und soziale Ursachen. Dennoch begannen sich Teile der ArbeiterInnenschaft während der Streikbewegung zu politisieren und das Regime selbst für ihre missliche Lage verantwortlich zu machen. Besonders in Mahalla al-Kubra, definitv einer der radikalsten Betriebe Ägyptens, mischten sich immer wieder Anti-Regime-Slogans in die Sprechchöre der ArbeiterInnen. Ihr populärster Streikführer, Muhammad al-Attar, sagte auf einer Versammlung während der zweiten großen Streikaktion des Betriebes in einem Jahr: „Ich möchte die ganze Regierung abtreten sehen… Ich möchte das Mubarak-Regime zu einem Ende kommen sehen. Politik und ArbeiterInnenrechte sind untrennbar. Arbeit ist selbst schon Politik. Was wir hier [im Streik] gerade erleben ist so demokratisch, wie es nur sein kann.“15

Obwohl bei der aktuellen ArbeiterInnenbewegung noch nicht von einer politischen Oppositionsbewegung gesprochen werden kann, stellt sie dennoch eine der größten Herausforderungen für das Regime dar.

Die Frage die sich in dem Zusammenhang stellt ist: Wie verhält sich nun die politische Opposition und insbesonders die ägyptische Linke und die Muslimbruderschaft zu dieser Bewegung?

Muslimbruderschaft

Die Muslimbruderschaft gilt als die größte Oppositionskraft Ägyptens (innerhalb des Paralaments mit 80 Abgeordneten als auch außerhalb) mit einem weitverzweigten Mitgliederstamm.

Ihr Aufstieg gestaltete sich jedoch beileibe nicht als lineare Erfolgsstory, sondern verlief über Brüche, Niederlagen und Rückschläge. Unter Nasser wurde sie in den 50er Jahren aufgrund ihrer politischen Stärke und ihrer Opposition zum Nasserismus in die Illegalität getrieben und verlor in Folge fast komplett an Bedeutung. Erst in den 1970er Jahren gelang es ihr wieder an Einfluss zu gewinnen. Aufgrund ihrer Konzentration auf moralische Predigt, ihrer Ablehnung einer Konfrontationspolitik gegen den Staat, und der leisen Duldung des Sadat-Regimes konnte sie sich neu gruppieren. Darüberhinaus half die Muslimbruderschaft dem Staat gegen die linke und nasseristische Opposition, welche zu dieser Zeit am lautesten gegen die wirtschaftsliberale Wende und die pro-israelische Haltung Sadats demonstrierte.

Seit den 70er Jahren charakterisiert die Muslimbruderschaft ihre Kompromisshaltung gegenüber dem Staat und die Akzeptanz der vom Staat gesetzten Grenzen. Der Aufbau einer „islamischen Wirtschaft“ (islamische Banken, Firmen…), eines islamischen Sozialnetzwerkes für die Armen und religiöser Einrichtungen verhalf der Muslimbruderschaft zu einer Massenverankerung in der ägyptischen Gesellschaft. Dazu kommt, dass sie seit den frühen 1990er Jahren erfolgreich in der Rekrutierung mittelständischer Berufsgruppen wie Ärzten, Juristen, Journalisten, usw. war. Dementsprechend konnte sie einen hohen Einfluss in den Vertretungen dieser Berufsgruppen aufbauen. Auch auf den Universitäten stellt sie heute die dominante Kraft in den Studierendenorganisationen dar. Eine andere Frage ist jedoch, in welchem Verhältnis sie zur ArbeiterInnenklasse steht.

Die Bruderschaft hatte in ihrer Vergangenheit immer wieder Verbindungen zur ägyptischen ArbeiterInnenklasse aufgenommen. Tatsächlich wurde sie sogar 1928 von Hasan al-Banna in der Stadt Isma’iliyya zusammen mit Arbeitern der Suez-Kanal-Gesellschaft gegründet. In den 1940er Jahren weitete sie ihre Aktivitäten in den Betrieben aus. Anti-Kommunismus und die Konfrontation mit KommunistInnen, wo immer sie Einfluss hatten, war hier ein ausschlaggebender Faktor. Sie lehnten die Unabhängigkeit der Gewerkschaften und ArbeiterInnenmilitanz ab. Klassenkampf wurde dementsprechend kritisiert, da dadurch Konflikt und sozialer Unfriede zwischen MuslimInnen geschaffen würde.16 Nach wie vor hält sie den sozialen Frieden und die „Sozialpartnerschaft“ zwischen den Klassen hoch. Eine islamische „moralische Wirtschaft“ (moral economy) regelt das Verhältnis zwischen den Klassen und schreibt ihnen Rechte sowie Pflichten zu.17

Das „Klassenparadox“ der MB wird heute im widersprüchlichen Verhältnis zur ArbeiterInnenbewegung deutlich. Während einige AktivistInnen die ArbeiterInnenkämpfe des letzten Jahres begrüßt und verbal unterstützt haben, scheint es, als ob es zwischen den wohlhabenden Geschäftsleuten, welche den Großteil der Führung bilden, und den BasisaktivisInnen aus der niederen Mittel- und Unterschicht grobe Unterschiede gibt. Dies konnte in der Debatte über die Gründung eines neuen Gewerkschaftsverbandes beobachtet werden. Saber Abul Fattouh, Parlamentsabgeordneter der Muslimbruderschaft und ihr Koordinator für die Gewerkschaftswahlen 2006, drohte, dass im Falle manipulierter Wahlen die Muslimbruderschaft einen unabhängigen Verband nach dem Vorbild der vereinten unabhängigen Studierendenkomitees gründen würde. Nachdem jedoch deutlich wurde, dass die Wahlen tatsächlich manipuliert waren, ruderte die Muslimbruderschaft wieder zurück und meinte vorsichtig, dass solch ein Schritt gut vorbereitet sein wolle.18 Selbst wenn die Initiative von Fattouh ernst gemeint war, sie wäre an der Weigerung der oppositionellen Nasseristen und der „mitte-links“ Tagammu Partei gescheitert, welche eine Allianz mit der Muslimbruderschaft ablehnen.

Die Linke im Abseits?

Dies kennzeichnet die Problematik des Verhältnisses zwischen der Linken und der MB. Die Positionierung von Linken gegenüber der Bruderschaft war und ist Ursache zahlreicher Debatten und ist ausschlaggebend für die Stärke und den Erfolg linker Strategien in Ägypten. Einer der größten Fehler von großen Teilen der Linken während der 90er Jahre war der Schulterschluss mit dem Regime von Mubarak gegen die Bruderschaft. Diese Orientierung produzierte zahlreiche negative Entwicklungen: Mubaraks diktatorisches Regime erhielt einen Persilschein für seine repressiven und neoliberalen Maßnahmen und musste einen großen Teil der Linken nicht mehr als Opposition fürchten. Die große Debatte über das Schreckgespenst „Islamismus“ lenkte die Linke von den massiven ökonomischen Veränderungen in Ägypten und deren katastrophalen Folgen für den Großteil der arbeitenden und unteren Klassen ab. Ebenso übersah sie dadurch, dass der Aufstieg des militanten Islam in Ägypten eng mit der prekären und in die Informalität abgedrengten Lebensrealität der ägyptischen Unterklassen und der Unzufriedenheit der Studierenden zusammenhing. In den schwer zu überwachenden, schnell gewachsenen informellen Siedlungen von Kairo hatten militante Gruppen wie Jamaat al Islamiya ein sicheres Versteck vor Polizeirepression finden können. Das Fehlen jeglicher politischer Antworten auf die harsche ökonomische und soziale Situation etablierte diese Gruppen, welche Teil der Gemeinden geworden waren, als ernstzunehmende Vertreterinnen der Unterprivilegierten und Armen.19

Die Partei Tagammu („National Progressive Democratic Union Party“) ist ein Beispiel für das Paradox linker Politik in den 90er Jahren. Sie unterstützte in den 80er Jahren eine Reihe von Streiks materiell und produzierte Zeitungen zur Unterstützung von kämpfenden ArbeiterInnen. Während der 90er Jahre verlor Tagammu jedoch alle Verbindungen zur ArbeiterInnenbewegung. Der Grund lag im generellen Rückzug von aktiver linker Politik und der strategischen Wende hin zur Unterstützung des Staatsapparates in der Unterdrückung der islamistischen Aufstände im Süden Ägyptens, sowie in den großen Slums von Kairo und Alexandria.20 Die illegale Kommunistische Partei, deren Überreste in Tagammu aktiv blieben, spielte hierbei eine ähnlich tragische Rolle und verlor zunehmends an Bedeutung.

GenossInnen und Brüder21

Seit einigen Jahren hat sich jedoch das traditionell angespannte und feindlich geprägte Verhältnis zwischen Teilen der Linken und der Muslimbruderschaft zu entspannen begonnen. Zwei Faktoren sind hierbei hervorzustreichen. Auf der einen Seite die Entstehung einer neuen Linken seit der Mitte der 1990er Jahre, die primär durch die „Revolutionary Socialist Tendency“ und einer wachsenden links-orientierten Menschenrechtsgemeinde gekennzeichnet ist. Der zweite Faktor war ein Generationswechsel in den unteren Rängen der Muslimbruderschaft sowie der Linken in Zusammenhang mit der Rückkehr von Straßenprotesten seit dem Ausbruch der zweiten Intifada und der Antikriegsbewegung gegen den Angriff auf Irak.

Der Leitspruch der neuen Linken war „manchmal mit den Islamisten, immer gegen den Staat!“22 Angewendet wurde diese Richtlinie vor allem auf den Universitäten. Anstatt StudentInnen der Muslimbruderschaft einfach als „Faschisten“ zu diffamieren, wie es die stalinistische Linke sowie die Muslimbruderschaft von der Linken für Jahrzehnte gewohnt war, kämpften sie nun zusammen mit AktivistInnen der Muslimbruderschaft in Fragen von Demokratie und gegen staatliche Repression, zum Beispiel, wenn Mitglieder der Muslimbruderschaft festgenommen oder von der Uni ausgeschlossen wurden. Dies ermöglichte einen politischen Dialog der AktivistInnen beider Lager. Kamal Khalil, ein wohlbekannter politischer Aktivist und Direktor des „Centre for Socialist Studies“, sagte, dass IslamistInnen, welche noch in den 70er Jahren oft mit der Regierung zusammen gegen die Linke insbesondere auf den Universitäten vorgingen, beeindruckt waren von dem Engagement von SozialistInnen für islamistische politische Gefangene.23 Tatsächlich fand über die gemeinsam erfahrene Repression durch die Staatsgewalt ebenfalls eine Annäherung zwischen AktivistInnen der Linken und der Muslimbruderschaft statt. Der linke unabhängige Aktivist Ala Sayf beschrieb in seinem Blog seine Erfahrungen, als Dutzende Muslimbrüder und Linke zusammen festgenommen wurden, nachdem sie sich 2006 mit den Richtern solidarisiert hatten, welche den Wahlbetrug von 2005 anprangerten. In den gemeinsamen Zellen wurden aus Muslimbrüdern plötzlich Genossen.24 Gleichzeitig verteidigte die Linke die Rechte von religiösen Minderheiten und Frauen, wenn Teile der Muslimbruderschaft reaktionäre Kommentare von sich gaben.

Während die Linke in den 90er Jahren zu marginal war, um als ernsthafter Partner wahrgenommen zu werden, änderte sich das mit dem Ausbruch der zweiten Intifada. Die radikale Linke konnte zum ersten Mal seit Jahrzehnten das politische Feld durch die Solidaritätsbewegung mit Palästina dominieren, zu einer Zeit wo die Muslimbruderschaft durch Abwesenheit glänzte.25 Das Resultat war ein Anwachsen der radikalen Linken und ein wachsender Druck der Basis der Muslimbruderschaft auf ihre Führung, die Zurückhaltung in Bezug auf die Proteste aufzugeben. Mitglieder der Muslimbruderschaft begannen regelmäßig auf Treffen der linken Solidaritätskomitees zu erscheinen und auch führende Muslimbrüder sprachen auf Veranstaltungen. Der Ausbruch der Antikriegsbewegung 2003 vertiefte diesen Trend weiter. Dazu kam, dass seit 2004 die Stimmung gegen Imperialismus zusehends gegen das Mubarak Regime selbst gerichtet wurde. Direktes Resultat war die Kifaya („Genug!“) Bewegung in Opposition zum Regime und für einen politischen Wandel. Dessen Höhepunkt war 2005, als die Muslimbruderschaft in eine Anti-Mubarak Allianz einstimmte. Staatliche Repression, besonders gegen die Muslimbruderschaft, ließ die Bewegung seither kaum auf der Bildfläche erscheinen, die Effekte sind jedoch noch immer spürbar.

Im November 2005 gründeten die Revolutionary Socialist Tendency, die Muslimbruderschaft und unorganisierten AktivistInnen auf einigen ägyptischen Universitäten die Free Student Union (FSU). Ihr Ziel ist es, als Gegengewicht und Parallelorganisation zu den staatlich-dominierten Studierendengewerkschaften zu funktionieren. Dieser neue politische Rahmen erlaubt eine weitere Annäherung, basierend auf politischer Praxis zwischen den beiden Flügeln und stellt somit eine Chance sowie Herausforderung für die Linke dar. Diese Annäherung kann gleichzeitig einen Raum für politische Debatten eröffnen, wodurch neben dem gemeinsamen Kampf gegen Mubarak auch Fragen wie Frauenbefreiung, Umgang mit religiösen Minderheiten, Neoliberalismus und Klassenkampf thematisiert werden.

The battle goes on

Die Auswirkungen der ArbeiterInnenbewegung des letzten Jahres auf die politischen und sozialen Verhältnisse Ägyptens sind noch schwer abzuschätzen. Eine zentrale Frage bleibt, inwieweit die Vernetzung der zu großen Teilen parallel ablaufenden politischen und ökonomischen Kämpfe zustande gebracht wird, und welche zukünftige Rolle die Linke darin spielen kann. Die ökonomischen Kämpfe sind eine Chance für die Linke, in einem Bereich Einfluss zu gewinnen, der weit weniger als die politische Oppositionsbewegung von der Bruderschaft monopolisiert ist. Die relative Schwäche der ägyptischen Linken in den 1990er Jahren könnte dadurch endgültig gebrochen werden. Die Verknüpfung von politischen und „Brot und Butter“-Kämpfen ist aber bei weitem keine Selbstverständlichkeit. Derzeit fordern beide Bewegungen das Regime relativ unabhängig voneinander heraus. Eine Zusammenführung hätte explosive Auswirkungen für Ägypten.

Anmerkungen

1 Im Durchschnitt erhält einE ArbeiterIn mit Familie um die 30 Dollar im Monat. Allein die staatlichen Zuschüsse heben das monatliche Einkommen auf ca. 60-70 Dollar an.


2 Joel Beinin/Hossam el-Hamalawy. “Egyptian Textile Workers Confront the New Economic Order”, in: MERIP, 25. März 2007, http://www.merip.org/mero/mero032507.html.


3 Bereits der 1981 ermordete ägyptische Präsident Anwar al-Sadat propagierte eine Öffnung des Marktes und ein Ende der Subventionen für Grundnahrungsmittel. Diese unpopulären Maßnahmen konnten jedoch aufgrund massiver Aufstände („bread riots“ von 1977) nicht gänzlich durchgesetzt werden.


4 Zwischen 1990-91 und 1995-96 fielen die Reallöhne in der staatlichen Industrie um 8 Prozent. Andere Löhne im öffentlichen Sektor blieben gleich, aber nur deshalb, weil sie ohnehin unter dem Existenzminimum liegen. Die ägyptischen Löhne liegen deswegen weit unter den regionalen Standards (die an sich schon niedrig sind). Die Löhne von ArbeiterInnen in der Textilindustrie betragen 85 Prozent der Löhne von ArbeiterInnen in Pakistan und 60 Prozent von ArbeiterInnen in Indien. Vgl. Timothy Mitchell: “Dreamland: The Neoliberalism of Your Desires”, in: MERIP 210 (Frühling 1999), http://www.merip.org/mer/mer210/mer210.html


5 http://laborstrategies.blogs.com/global_labor_strategies/2007/01/egypt_and_the_p.html


6 Nicht nur Betriebe werden privatisiert, sondern in einem noch größeren Ausmaß einst öffentliches Land sehr billig verkauft. Das verursachte in den letzten Jahren immer wieder Auseinandersetzungen zwischen der Staatsmacht und enteigneten Bauern und Bäuerinnen. Vgl. Timothy Mitchell: „Dreamland: The Neoliberalism of Your Desires”, a.a.O.; Ray Bush: “Politics, power and poverty: twenty years of agricultural”, in: Third World Quarterly 28:8 (2007), S. 1599-1615


7 Vor allem Mitglieder der herrschenden NDP (Nationaldemokratische Partei), aber auch andere staatliche und halbstaatliche Behörden und Institutionen wie die Gewerkschaftsführer in Absprache mit dem Kapital.


8 Die FabriksarbeiterInnen können dabei auf eine lange und stolze Tradition des radikalen Kampfes und Widerstandes zurückblicken. Genaueres über die Tradition der Arbeitskämpfe in Mahalla al-Kubra in: Joel Beinin/Hossam el-Hamalawy: „Egyptian Textile Workers Confront the New Economic Order“, a.a.O.


9 Anne Alexander/Farah Koubaissy: „Women were braver than a hundred men“, in: Socialist Review (Jänner 2008), http://www.socialistreview.org.uk/article.php?articlenumber=10227


10 http://arabist.net/arabawy/2007/09/26/egyptian-workers-and-social-resistance-386-
industrial-actions-in-6-months/


11 Daniel Williams: “Mubarak Plan to Shed State-Run Factories Threatened by Strikes”, 21. Mai 2007, http://www.bloomberg.com/apps/news?pid=20601087&sid=aCLN4coYyYlQ&refer=home


12 Von 23 Mitgliedern der Gewerkschaftsspitze sind 22 NDP-Mitglieder, der übrige Mitglied einer verbündeten Partei.


13 Siehe dazu den Bericht über eine ArbeiterInnendelegation der Mahalla Textilfabrik mit der Forderung zur Absetzung ihrer Fabriksgewerkschaft in:Liam Stack: “Mahalla textile workers demand union dissolved and greater independence”, in: Daily News Egypt (29. Jänner 2007), http://www.dailystaregypt.com/printerfriendly.aspx?ArticleID=5291


14 Liam Stack/Maram Mazen: „Striking Mahalla workers demand govt. fulfill broken promises“, in: Daily News Egypt (27. September 2007), http://www.dailystaregypt.com/article.aspx?ArticleID=9543


15 Zitiert in Joel Beinin: „The Militancy of Mahalla al-Kubra“, in: MERIP (29. September 2007), http://www.merip.org/mero/mero092907.html


16 Joel Beinin/Zachary Lockman: Workers on the Nile. Nationalism, Communism, Islam, and the Egyptian Working Class, 1882-1954, Cairo 1998, S. 365


17 Ebd., S. 376


18 Joel Beinin/Hossam al-Hamalwy. „Strikes in Egypt Spread from Center of Gravity“, in: MERIP (9. Mai 2007), http://www.merip.org/mero/mero050907.html
19 Anders als die Muslimbruderschaft, welche sich traditionell primär auf die Mittelklasse bezieht, waren die militanten islamistischen Gruppen in den 1990ern erfolgreich in der Rekrutierung bei den unteren Klassen. Siehe dazu Salwa Ismail: “The Popular Movement Dimensions of Contemporary Militant Islamism: Socio-Spatial Determinants in the Cairo Urban Setting”, in: Comparative Studies in Society and History 42:2 (2000), S. 363-393


20 Die Repression traf militante wie dezidiert friedliche Islamisten wie die Muslimbrüder. Siehe dazu Joel Beinin/Hossam el-Hamalawy. “Strikes in Egypt Spread from Center of Gravity”, a.a.O.


21 Ein großer Teil dieses Abschnittes basiert auf dem Artikel von Hossam El-Hamalawy: “Comrades and Brothers”, in: MERIP 242 (Frühling 2007), http://www.merip.org/mer/mer242/hamalawy.html#_edn2.


22 Vgl. Chris Harman: „The Prophet and the Proletariat“, http://www.marxists.de/religion/harman/index.htm


23 Manal el-Jesri: „Kamal Abu Eita & Kamal Khalil“, in: Egypt Today. The Magazine of Egypt (Mai 2004), http://www.egypttoday.com/article.aspx?ArticleID=2553
24 Vgl. Hossam El-Hamalawy: “Comrades and Brothers”, a.a.O.
25 Seit dem harten Durchgreifen gegen die Muslimbruderschaft im Zuge der staatlichen Kampagne gegen die Islamisten, insbesondere gegen ihre Basis, verfolgte sie eine Politik der Nicht-Konfrontation.





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