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Verborgene Geschichte des revolutionären Atlantik
von Stefan Probst

Rezension: Linebaugh, Peter/Rediker, Marcus: Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantik, Berlin: Assoziation A 2008, 427 Seiten, € 28,00

In The Making of the English Working Class und vielen nachfolgenden Aufsätzen hat der britische Historiker E. P. Thompson seit den 1960er Jahren versucht, die marxistische Geschichtsschreibung als klassenbewusste Kulturgeschichte neu zu positionieren. Während der strukturgeschichtliche Zuschnitt der historischen Sozialwissenschaft und der Mechanismus eines stalinisierten Marxismus den Widerstand und die subjektiven Erfahrungen der subalternen Klassen in den „langen Wellen“ der Gesellschaftsformationen ertränkte, fokussierte Thompson die „vergessenen“ Kämpfe der plebejischen Massen gegen die Durchsetzung der anonymen Mechanismen des Marktes im England der Frühphase der „Industriellen Revolution“. Programmatisch heißt es im vielzitierten Vorwort zu The Making: „Ich versuche, den armen Strumpfwirker, den ludditischen Tuscherer, den ‚obsoleten‘ Handweber, den ‚utopistischen‘ Handwerker, sogar den verblendeten Anhänger von Joanna Southcott vor der ungeheuren Arroganz der Nachwelt zu retten.“
In dieser Tradition einer „Geschichte von unten“ verortet sich auch Linebaugh und Redikers „verborgene Geschichte des revolutionären Atlantik“. Freilich haben sich die Koordinaten der historiographischen Diskussion seit 1963 deutlich verschoben. Der „methodische Nationalismus“, der auch noch bei Thompson deutlich zu Tage tritt, ist nicht zuletzt durch die gerade boomende Globalgeschichtsschreibung nachhaltig und überzeugend aufgebrochen worden. Die Einhegung historischer Narrative in staatlichen Containerräumen ist ebenso zerstört wie die modernisierungstheoretischen Meistererzählungen der 1970er, die die Herausbildung des modernen kapitalistischen Weltsystems als schrittweise Durchsetzung europäischer Ordnung und Werte beschrieben hatten. Nicht „Diffusion“ sondern „Transfer und Interaktion“ sind die Schlüsselbegriffe des neuen globalhistorischen Zugriffs.
Dennoch treten auch in diesen Großerzählungen die Erfahrungen und die Handlungsfähigkeit (agency) der subalternen Akteure meist hinter anonymen Strukturen, demografischen Entwicklungsmustern, Handelsnetzwerken usw. zurück. Linebaugh/Redikers großes Verdienst liegt insofern darin, in einer Doppelbewegung zum einen die Herausforderung globalgeschichtlicher Zugänge ernst zu nehmen und Thompsons klassenkämpferische Geschichtsschreibung „über die Grenzen des Nationalstaats“ hinauszutreiben, und zugleich die objektivistischen Blindflecken eines strukturgeschichtlichen Zugriffs mit einer konsequenten Geschichte „von unten“ zu konfrontieren. Dieser Blick von unten soll „einen Teil der verlorenen Geschichte der multiethnischen Klasse ans Tageslicht befördern, die für den Aufstieg des Kapitalismus und der modernen Weltwirtschaft von grundlegender Bedeutung war“, aber von der „Gewalttätigkeit abstrakter Geschichtsschreibung“ verschüttet worden ist. (14f ) Zwischen dem frühen 17. und Mitte des 19. Jahrhunderts formierte sich mit einer kapitalistischen Weltwirtschaft im Dreieck zwischen Nordwesteuropa, Westafrika und den Amerikas auch ein multiethnisches, kosmopolitisches Weltproletariat, dessen Erfahrungen, Ideen und Organisationsformen gemeinsam mit den Waren entlang der atlantischen Strömungen zirkulierten und an den Schauplätzen der Disziplinierung (Einhegung, Gefängnis, Fabrik), des Austauschs (Schiffe, Hafentavernen) und in Aufständen, Revolten, Meutereien und Verschwörungen konzentriert wurden.
Leitmotiv der Erzählung ist das Bild der Vielköpfigen Hydra, jenem Ungeheuer der griechischen Mythologie, dem zwei Köpfe nachwachsen, wenn einer abgeschlagen wird. Im Symbol der Hydra verdichtete sich die Angst der herrschenden Klassen vor dem entstehenden atlantischen Proletariat, dem Widerstand des „buntscheckigen Haufens“ (motley crew) antinomischer Radikaler, Enteigneter, Schuldknechte, SklavInnen, Seeleute und Prostituierter, die das herkuleische Projekt des geordneten Aufbaus eines transatlantischen Kapitalismus mit eigenen Vorstellungen einer moralischen Ökonomie und oppositionellen Kultur durchkreuzten. Linebaugh/Redikers Erzählung ist episodisch angelegt, oft im Mikrofokus einzelner Biographien, entfaltet sich aber über mehrere „Rebellionszyklen“ strukturiert. Ausgehend von der plebejischen Gegenkultur im englischen Bürgerkrieg der 1640er, den nonkonformistischen religiösen Sekten und Diggers, über die erste protoproletarische Machtergreifung in Neapel 1647, die Rebellionen in den Kolonien in Virginia, den Egalitarismus der „Hydrarchie“ der PiratInnen und Seeleute, bis zu den SklavInnenrevolten und städtischen Aufständen der 1730er und 1740er und dem Rebellionszyklus der 1760er und 1770er Jahre, der das „Zeitalter der Revolutionen“ einläutete, verfolgen Linebaugh und Rediker die Kämpfe und alternativen Zukunftsentwürfe des multiethnischen atlantischen Proletariats.
Immer wiederkehrendes Motiv ist der Widerstand gegen Enteignung und der Kampf für Gemeineigentum (commons), sowie die Opposition gegen Sklaverei. Dieser „commonismus“ der Diggers und radikalen religiösen Sekten der englischen Revolution migrierte in der Restaurationszeit gemeinsam mit jenen Verbrechern, Bettlern, Landstreichern, denen sich der englische Staat durch Deportation in die Kolonien entledigte, der irischen Diaspora sowie enteigneten Bauern und Landarbeitern, die als Schuldknechte in die Neue Welt verschifft wurden, in die Amerikas, vermengte sich dort mit den Erfahrungen afrikanischer SklavInnen und der indigenen Bevölkerung, und entlud sich in „buntscheckigen“ Aufständen oder gemeinsamer Flucht. So war etwa die erste uns überlieferte Gruppe von ‚Maroons‘ (entflohenen SklavInnen und Leibeigenen, die weitab von den Siedlungen ihre eigenen Gemeinschaften gründeten) auf Barbados multiethnisch. (139) Erst durch eine gezielte rassistische Spaltungspolitik konnte diese Allianz von rebellischen SklavInnen und Leibeigenen eingedämmt werden und es ist diese Geschichte der Entstehung des modernen Rassismus aus dem Geist der Aufstandsbekämpfung, die sich als zweites Motiv durch Linebaugh/Redikers Erzählung zieht.
Nachdem spätestens in den 1680er Jahren die revolutionären Ideen an Land zum Schweigen gebracht worden waren, verlagerten sich die Kämpfe der Hydra auf die Meere. Die Schiffe vermittelten nicht nur zwischen den Produktionssystemen der Alten und Neuen Welt, sondern waren selbst gut organisierte Ausbeutungsmaschinerien, in denen „eine große Anzahl von Arbeitern gemeinsam gegen Lohn komplexe, synchronisierte Arbeitsgänge ausführte und dabei einer versklavenden, hierarchischen Disziplin unterworfen wurde, die den menschlichen Willen der technischen Ausstattung unterordnete.“ (164) Während Eric Williams die Plantage als wichtigstes historisches Vorbild der Fabrik identifizierte, sehen Linebaugh/Rediker in den Hochseeschiffen die entscheidenden Vorläufer der modernen Fabriksdisziplin.
Zugleich fungierte das Schiff jedoch auch als „Treffpunkt, an dem unterschiedliche Traditionen in einem Treibhaus des Internationalismus zusammengepfercht wurden.“ (165) So entwickelte sich im Inneren des imperialen Seestaats eine zweite, proletarische und oppositionelle „Hydrarchie“, die ihren ersten autonomen Ausdruck in der amerikanischen Piraterie fand. In der Organisation der Piratenschiffe finden Linebaugh/Rediker die radikalen Traditionen des „commonismus“ wieder. Die Piraten hätten „mit vollem Bewusstsein ihre eigene autonome, demokratische, egalitäre Gesellschaftsordnung aufgebaut, die den auf Handels-, Marine- und Kaperschiffen allgemein üblichen Methoden eine subversive Alternative entgegensetzte, und eine Gegenkultur entwickelt, die sich der Zivilisation des atlantischen Kapitalismus mit ihrer Enteignung und Ausbeutung, Schreckensherrschaft und Sklaverei entgegenstellte.“ (188)
Zu den spannendsten Abschnitten des Buchs zählt schließlich die Geschichte der Verschwörungen, Aufstände und Revolten in den Hafenstädten der amerikanischen Kolonien, deren an die „gleichmacherischen“ Ideen des „commonismus“ der 1640er anknüpfenden Impulse maßgeblich für die Radikalität der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verantwortlich zeichnen. Auch wenn es der durch diese Kämpfe provozierten konservativen Gegenreaktion letztlich gelang, den politisch konservativen Ausgang der Amerikanischen Revolution zu besiegeln, konnten die Auswirkungen der Auseinandersetzungen der 1760er und 1770er Jahre dennoch nicht so einfach eingedämmt werden. Linebaugh/Rediker identifizieren mehrere „Vektoren“, über die sich die Nachrichten, Erfahrungen und Ideen der revolutionären Umbrüche mit den Seeleuten, SklavInnen und der freien afrikanischen Diaspora zunächst in die Karibik (Haiti) zerstreuten, und über die abolitionistische Bewegung in England sowie die ersten panafrikanistischen Projekte (Sierra Leone) schließlich wieder zurück in die Alte Welt verwiesen.
An der Vielköpfigen Hydra ist nicht ganz zu Unrecht kritisiert worden, dass Linebaugh/Rediker oft ein unkritisch romantisierendes Bild des „buntscheckigen“ atlantischen Proletariats zeichnen. Schwerer wiegt jedoch, dass die analytische Schärfe der tragenden Begriffe (Erfahrung, Klasse, usw.) meist hinter der episodischen Darstellung zurücktritt. Damit soll die historische Meisterleistung der großartig erzählten Geschichte der Vielköpfigen Hydra keineswegs gemindert werden. Dem Buch ist vielmehr eine ähnlich intensive Rezeption wie Thompsons The Making of the English Working Class zu wünschen. So wie die Auseinandersetzung mit Thompson maßgelich zur Neufundierung marxistischer Historiographie beigetragen hat, könnte Linebaugh/Redikers Hydra zum zentralen Refernzpunkt einer internationalistischen klassenkämpferischen Geschichtsschreibung im 21. Jahrhundert werden.





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