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¡Todos con Cristina!… Krise, Kontinuität und Kirchnerismo
von Tobias Boos

Nach einem wahren Wahlmarathon in den letzten Monaten erreicht das argentinische Wahljahr 2011 mit der Präsidentschaftswahl und den Gouverneurswahlen in 9 Provinzen – unter anderem Buenos Aires – am 23. Oktober seinen Höhepunkt. Letztere scheint allerdings bereits seit Wochen entschieden, nachdem Cristina Fernández de Kirchner die zum ersten Mal auf nationaler Ebene abgehaltenen Vorwahlen, die primarias abiertas, simultáneas y obligatorias (primarias)1 mit 50,21% der abgegebenen Stimmen für sich entscheiden konnte. Seitdem besteht endgültig kein Zweifel mehr daran, dass sie in der kommenden Woche wiedergewählt werden wird. Allerdings stellt nicht der Sieg der amtierenden Präsidentin an sich, sondern die Deutlichkeit mit der dieser ausfiel, die eigentliche Überraschung der Wahlen dar: man war von 43% bis 45% ausgegangen, die mehr als 50% überraschten selbst die AnhängerInnen des kirchnerismo.
Neben dem eigenen Wahlergebnis trägt aber auch die brutale Niederlage der Opposition zur aktuellen Hochstimmung auf Seiten der Regierung bei. Betrachtet man die Ergebnisse dieser wird das Ausmaß des Sieges noch deutlicher. Mit gerade einmal 12,20% und 12,12% teilen sich Ricardo Alfonsín – Unión para el Desarrollo Social (UDESO), eine Wahlkoalition angeführt durch die Unión Cívica Radical (UCR), der älteste Partei Argentiniens, die man als konservativ bürgerlich charakterisierten könnte – und Eduardo Dualde – Anführer des peronismo federal, Widersacher des kirchnerismo innerhalb der Partido Justicialista (PJ) – im Endeffekt den zweiten Platz, dicht gefolgt von Hermes Binner – Frente Amplio Progresista (FAP), mitte-links Wahlallianz angeführt durch die Partido Socialista – mit 10,18%.2 Keiner der genannten Kandidaten wird die amtierende Präsidentin in ihrer Wiederwahl gefährden, die einzige offene Frage ist ob Cristina Fernandez de Kirchner diese bereits in der ersten Runde gewinnen kann, oder zu Stichwahl antreten muss.

Dabei wiesen die Zeichen in den Monaten zuvor in eine andere Richtung. Bei der Provinzwahl in Santa Fe war der Kandidat der Frente Para la Victoria – so der Name des kirchneristischen „Parteiflügels“ innerhalb der Partido Justicialista – nicht einmal bis in die Stichwahl gekommen, so dass sich bei dieser Ende Juli der Juan Antonio Bonfatti – Frente progresista, civico y social – Wahlbündnis auf Provinzebene, welches von der Partido Socialista angeführt wird – gegenüber Miguel De Sel – Propuesta Republicana (PRO), rechtspopulistische Partei unter der Führung Mauricio Macris – durchsetzen konnte. Bonfatti trat als Nachfolger für den scheidenden Hermes Binner (beide Mitglied der Partido Socialista) an, der um die Präsidentschaft kandieren wird. Del Sel war für die Partei Mauricio Macris Propuesta Republicana (PRO) angetreten und steht in gewisser Weise paradigmatisch für dessen „Apolitik“: er ist ein bekannter Komiker. Sein zweiter Platz wurde als weitere Schlappe für den kirchnerismo und als erneuten Hinweis auf die zunehmende Ablehnung der Regierung gewertet. Macri selber ist derzeit wohl die herausragendste Figur der Opposition und der neuen Rechten. Dass er nicht für die Präsidentschaft, sondern wieder in der Stadt Buenos Aires kandierte, scheint wahltaktischen Überlegungen geschuldet: Die Wiederwahl Cristinas galt bereits vor den primarias als sehr wahrscheinlich. Bei der Wahl 2015 dürfte sie jedoch nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten und es ist derzeit niemand in Sicht der das kirchneristische Projekt weiterführen könnte.
Anfang August gewann eben jener Mauricio Macri dann die Stichwahl um die Bürgermeisterschaft in Buenos Aires mit 64,25% gegenüber Daniel Filmus (35,75%), dem Kandidaten des kirchnerismo. Mit Sicherheit lässt sich das Phänomen Macri nicht auf eine Erklärung reduzieren und kann hier nicht tiefergehend diskutiert werden, eine dominante Erklärung im Anschluss an den deutlichen Wahlerfolg – Macri konnte jeden einzelnen Wahlbezirk für sich entscheiden – war, dass die Leute nicht für Macri sondern gegen Cristina und den kirchnerismo gestimmt hätten.
Bei den Provinzwahlen in Córdoba schließlich, gewann Jose Manuel de la Sota. Die Frente Para la Victoria hat zwar keineN KandidatIn aufgestellt; de la Sota, selber Mitglied der peronistischen Partido Justicialista, gilt er jedoch als Gegner des kirchnerismo und zählt zum rechten Flügel des Peronismus.

Die unnütze Opposition
Wie also lässt sich der überwältigende Sieg Cristina Fernández de Kirchner erklären? Die nach den Wahlen dominierende Erklärung verweist auf die fehlende Opposition. Im Vorfeld der Wahlen hatte es diese nicht geschafft, sich auf ein gemeinsames Projekt zu einigen. Betrachtet man die unterschiedlichen KandidatInnen erscheint keineR eine Alternative darzustellen. Ricardo Alfonsín, Sohn des ersten Präsidenten nach der Militärdiktatur der 70er und 80er Jahre, wird von der Bevölkerung als „Schwätzer“ ohne politisches Programm wahrgenommen. Die Kandidatur Eduardo Dualdes, mitverantwortlich für die Abwertung des Peso 2002 und Vater der Repression gegenüber der sozialen Bewegungen jener Jahre, die schließlich ihren traurigen Höhepunkt in der Ermordung der beiden AktivistInnen Darío Santillán und Maximilian Kosteki fand, empfindet der Großteil der Bevölkerung als Dreistigkeit die ihres gleichen sucht. Alberto Rodríguez Saá, Gouverneur der Provinz San Luis (immerhin 8,17%), gilt als Provinzcaudillo. Seiner Familie, die von Juan Saá einem bedeutenden Militär und Politiker des Bürgerkrieges des 19. Jahrhunderts abstammt, besitzt praktisch die gesamte Provinz und reicht die Posten innerhalb der staatlichen Apparate von Generation zu Generation weiter. Elisa Carrió, bei der Wahl 2007 mit 23% noch zweite hinter Fernández de Kirchner und Hoffnung der Opposition, erreichte gerade einmal 3,24%. Sie gilt als verrückt geworden, nicht zuletzt deshalb weil sie von Zeit zu Zeit mit den abstrusesten Verschwörungstheorien aufwartet. So behauptete sie etwa im Anschluss an den Tod Néstor Kirchner, dass die große Anteilnahme und Trauer der Bevölkerung während dessen Beerdigung, von der Theatergruppe inszeniert worden wäre, die auch schon das 200jährige Jubiläum Argentiniens organisiert hatte. Neben der Programmlosigkeit der genannten OppositionspolitikerInnen, hatten diese es nicht geschafft Allianzen untereinander zu knüpfen und sich als eine Möglichkeit des Bruchs mit dem kirchnerismo zu präsentieren. Die meisten von ihnen repräsentieren hierbei die politische Elite der Krisenzeit um 2001, die im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung noch immer zutiefst verhasst ist.

Die einzige Ausnahme bildet der bisherige Gobernador von Santa Fe Hermes Binner. Er gilt als großer Gewinner der primarias, in dessen Vorfeld er sich stets als offener und sachlicher Diskussionspartner für alle politischen Lager und Verfechter der demokratischen Institutionen präsentiert hatte. So schreckte er beispielsweise auch nicht davor zurück sich kurz vor der Wahl mit Hugo Moyano dem Chef der Confederación General del Trabajo de la República Argentina (CGT), der größten und mächtigsten Gewerkschaft Argentiniens, zu treffen. Hugo Moyano wird von der Opposition gerne als personifizierte Korruption und Machtgier aufgrund seiner Verbindungen zur Regierung dargestellt.3 Trotzdem versammelte sich Binner mit Moyano unter dem Verweis darauf, dass man die demokratischen Institutionen des Landes respektieren müsse – ob einem das Gesicht des anderen nun passe oder nicht. Eine Argumentation die an den Diskurs der Regierung über die Bedeutung der demokratischen Institutionen anknüpft (mehr dazu weiter unten). Binners Politikform scheint auch für weite Teile der (urbanen) Mittelschichten anknüpfungsfähig, die sich mehr soziale Gerechtigkeit wünschen, die populistische Politikform des kirchnerismo diesbezüglich jedoch befremdlich finden. Zwar haben die Entwicklungen seit den primarias seine aufstrebende Tendenz bestätigt und aufgezeigt, dass sich um ihn herum in kommenden Jahren ein oppositionelles Potenzial entwickeln könnte, seine politische Karriere auf nationaler Ebene ist jedoch noch relativ jung, weshalb er nicht als ernsthafter Konkurrent für Cristina gilt.
Für eine weitere kleine Überraschung sorgte das Abschneiden von Jorge Altamira dem Präsidentschaftskandidaten der Frente de Izquierda y de los trabajadores (FIT). Hierbei handelt es sich um ein Bündnis der drei großen trotzkistischen Parteien Partido Obrero (PO), Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS) und Izquierda Socialista (IS) und Einzelpersonen. Dabei wird es von einer ganzen Reihe von bekannten Intellektuellen, wie Eduardo Grüner unterstützt. Unter dem Titel „Asamblea de intelectuales, docentes y artistas en apoyo al Frente de Izquierda“ versammeln sich diese in Form öffentlicher Diskussionsveranstaltungen, um das Bündnis zu debattieren. Bei allen Vorbehalten und Kritikpunkten unterstützen viele das Bündnis mit der Begründung, es sei die einzige antikapitalistische Kraft, die bei den Wahlen antreten würde. Zudem gehe es darum einen Diskussionsprozess innerhalb der Linken voranzutreiben und alte Vorurteile abzubauen. Die FIT hatte im Vorfeld die primarias an sich sowie die zu erreichende Mindeststimmzahl von 400.000 bzw. 1,5% Stimmanteil heftig kritisiert und diese als Versuch der Regierung die kleinen Parteien von den Wahlen auszuschließen angeprangert. Viele glaubten nicht wirklich daran, dass die FIT und Altamira wirklich den genannte Stimmanteil erreichen würde, schließlich waren es dann sogar 2,48%.

Narrative des kirchnerismo
Auch wenn die fehlende Opposition sicherlich einen Teil zum Erfolg Cristinas beigetragen hat, so reicht diese bei weitem nicht aus, um den Wahlerfolg zu erklären. Wie Alfredo Serrano und Esteban de Gori in ihrer hervorragenden Analyse feststellen, hat es die Regierung geschafft ein Narrativ zu etablieren, welches Anknüpfungspunkte für verschiedene Sektoren bietet und einen „un nuevo horizonte de expectativas“ (einen neuen Erwartungshorizont) schafft. In diesem sei die Hoffnung auf einen gewissen „bienstar“ (Wohlstand/Wohlfahrt) für alle eingeschrieben, welches nicht nur ökonomische Aspekte beinhaltet, sondern als ganzheitliche Kategorie zu verstehen sei, „die seit 2003 in der Konsolidierung eines Institutionennetzes für Bildung, Gesundheit und sozialen Einrichtungen besteht. Ausgehend [davon] wurde eine Subjektivität hervorgerufen […], die konfrontiert mit der Notwendigkeit über seine Gegenwart und Zukunft zu entscheiden, es umgehend bevorzugt ein Projekt zu unterstützen, welches eine stabile Basis besitzt.“
Dieses Narrativ der Institutionen knüpft auch bei vielen WählerInnen des (städtischen) KleinbürgerInnentums an und kontrastiert den kirchnerismo gegen das Chaos um 2001. Selbst diese Teile rechnen der Regierung trotz ideologischer Differenz an, die politischen Institutionen wieder gestärkt zu haben. Nicht zu unterschätzen ist dabei auch die Rolle des 2010 verstorbenen Ex-Präsidenten Néstor Kirchner. Im Wahlkampf stetig präsent, ist wird seine Mythologisierung von Seite des kirchnerista stetig vorangetrieben. Passend dazu ist vor kurzem eine Biographie Cristina Fernández de Kirchner erschienen, in der sie ausführliche intime Details über ihren Mann erzählt. Zudem sind jüngst mehrere Biographien und Bücher über den Ex-Präsidenten veröffentlicht worden. Unter anderem eine Sammlung von José Pablo Feinmann – ein bekannter Intellektueller und häufig als Philosoph more info

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des kirchnerismo bezeichnet – welche Gespräche zwischen ihm und Néstor Kirchner enthält.4 Seine Bemühungen, das Land nach der Krise wieder auf Kurs zu bringen, dient hier als eine Art gemeinsame Geschichte, die eine Zäsur markiert und ein neues nationales Projekt einleitete; dieses gelte es nun weiter zu führen.

Die Angst vor der Krise
Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Erklärung des Wahlerfolges stellt die weltweite Krise des Kapitalismus dar. Bisher scheint diese zwar in Argentinien kaum Auswirkungen zu haben und die Regierung betont immer wieder, dass man gut gerüstet sei, was denn auch kommen möge. Wie der Eduardo Grüner jedoch feststellt, muss die Wahl auch als eine konservative Entscheidung verstanden werden: „Eine Abstimmung dafür, dass sich, während der zugespitzten internationalen Krise des Kapitalismus, nichts zu sehr bewegt.“ Seine Interpretation wird auch durch die Wahlergebnisse in den Provinzen gestützt, in denen ausnahmslos die bisherigen Regierungen bestätigt wurden. Betrachtet man die Wahlergebnisse der primarias in den einzelnen Provinzen zeigt sich sogar, dass Cristina in Santa Fe gegenüber Hermes Binner durchsetzen konnte, was ebenfalls auf den Wunsch nach Kontinuität sowohl auf Provinz- als auch nationaler Ebene hindeutet. Dass es der Regierung Kirchner bisher gelungen ist die Auswirkungen der Krise soweit wie möglich zu umschiffen, wird ihr hoch angerechnet. Nicht zuletzt deshalb, weil man mit Entsetzen nach Griechenland schaut und feststellt, dass die dort aufoktroyierten Politiken denen gleichen, die 2001 in Argentinien angewendet wurden.

Neben diesem Bezug zur aktuellen Krise wird das Projekt-K allerdings auch insgesamt trotz all seiner Mängel als wirtschaftlich erfolgreich wahrgenommen. Atilio Boron beschreibt die Wahrnehmung der Regierungspolitik wie folgt: „Zudem wird das wirtschaftliche Wachstum von einer starken Ausweitung des Konsums begleitet (in den Augen des Begünstigten interessieren die Mechanismen nicht mit Hilfe derer diese befördert wird); die Schaffung von Jobs (egal ob angemeldet oder „schwarz“); eine bescheidene aber willkommene Verbesserung der Löhne, Gehälter und der Bezüge der PensonistInnen; die enorme Ausweitung der Vorsorge für Hausfrauen; die Implementierung einiger palliativer Maßnahmen gegen das Armutsproblem, welches im Land seit den neunziger Jahren herrscht […]. “
Und tatsächlich wird die Wirtschaftspolitik der Regierung von den unterschiedlichen Sektoren als erfolgreich wahrgenommen, wobei es die Regierung clever versteht, diese mit unterschiedlichen Politiken zu bedienen.
Zwar sorgt steigende Inflation dafür, dass die ärmeren Teile der Bevölkerung sich gerade so über Wasser halten können. Auch dass die Regierung die Inflationszahlen des INDEC manipuliert, ist ein offenes Geheimnis und wird viel kritisiert. Allerdings ist man aber doch froh wieder Arbeit zu haben und sich irgendwie durchschlagen zu können. Dass die meisten Jobs en negro sind und viele seit Jahren darauf warten, in den Genuss von Sozialversicherungsleistungen zu kommen, ist man bereits gewöhnt.5 Gerade in diesen Teilen der Bevölkerung scheint man sich wenig Illusionen über die Parteienpolitik und politischen Institutionen zu machen. Auf die Frage, wen sie wählen – die Wahlen in Argentinien sind verpflichtend – hört man immer wieder, dass es den Leuten wirtschaftlich gesehen relativ egal erscheint wer das Land regiert, allerdings wähle man Cristina „por lo que hace para la gente.“ (wegen dem was Cristina für die (einfachen) Leute tut). So konnte Cristina auch die meisten Stimmen in den ärmeren Provinzen des Nordens wie Santiago del Estero.
Die Zustimmung beschränkt sich jedoch nicht auf diese Bevölkerungsteile. Tatsächlich gewann die amtierenden Präsidentin überraschenderweise auch in den Regionen, in denen etwa die Agrarwirtschaft angesiedelt ist oder aber in Buenos Aires, wo eine Woche zuvor noch Macri mehr als deutlich siegen konnte. Neben der fehlenden Wahlalternative stellt sich die wirtschaftspolitische Kluft zwischen den beiden Lagern bei weiten nicht so groß dar, wie dies vielleicht auf ideologischer Ebene der Fall sein mag. Grüner analysiert in diesem Zusammenhang: „Die sogenannte rechte Opposition ist nachdem sie nebenher ungeschickt, nutzlos und dumm ist, auch vollkommen unnötig, da die Regierung sorgfältig alle Aufgaben der Bourgeoisie (tareas burguesas) erledigt, die in dieser Etappe notwendig sind. Die unterschiedlichen Wirtschaftsfraktionen der herrschenden Klassen sind mittlerweile an einem Punkt angelangt, wo sie sich einerseits ein wenig fügen und andererseits ein wenig davon schwärmen, dass man mit dieser Regierung hervorragende Geschäfte machen kann und es keinen Grund dafür gibt bei der derzeitigen weltweiten Krise große Abenteuer einzugehen.“
Das heißt, während der populare Sektor die (prekären) Möglichkeiten des aktuellen Wirtschaftswachstums zu nutzen weiß und nach der Ohnmacht der vorangegangen Jahre wieder Möglichkeiten und Zukunftsperspektiven sieht (auch wenn diese darin bestehen sechs Tage die Woche in mehreren Jobs unangemeldet zwölf oder mehr Stunden zu arbeiten), hofft ein weiterer Teil der Lohnabhängigen darauf in geregelte Arbeitsverhältnisse überzuwechseln. Das (städtische) KleinbürgerInnentum wiederum setzt darauf, dass die Wirtschaft weiter wächst und stabil bleibt, da die Geschäfte derzeit gut laufen.

Neben diesen wirtschaftspolitischen Aspekten dürfen jedoch nicht die Regierungsmaßnahmen im Bereich der Menschen- und BürgerInnenrechte vergessen werden die von der Regierung häufig medienwirksam inszeniert werden und eine starke symbolträchtige Wirkung haben. Hierzu lassen zählen Projekte wie das Matrimonio Igualitario (gleichgeschlechtliche Ehe), das sogenannte Ley de los medios (Mediengesetz) und die Menschenrechtspolitik (im Bezug auf die Militärdiktatur).Mit Hilfe dieser unterstreicht die Regierung immer wieder ihren Anspruch auf den progressiven Charakter ihrer Politik und bedient viele gesellschaftliche Gruppen. So hört man beispielsweise von AktivistInnen, die sich stark für das matrimonio igualtario engagiert haben, dass sie die Wirtschaftspolitik der Regierung als Tropfen auf den heißen Stein empfinden, diese aber aus Mangel an ernsthaften Alternativen weiterhin unterstützen werden, in der Hoffnung bestimmte single-issues so durchsetzen zu können.

Wie weiter?
Der sich abzeichnende Trend unmittelbar nach den primarias hat sich in den darauf folgenden Wochen bestätigt: Die Opposition scheint noch mehr in Auflösung begriffen als vor den primarias. Dass selbst hartgesottene Regierungsgegner wie Biolcati, der Vorsitzende der Sociedad Rural Argentina unmittelbar nach den primarias, den Sieg Cristinas nicht mehr anzweifelten und der Opposition ihre Programmlosigkeit vorwarfen, zeigt deren verzweifelte Lage.6 Wie Biolcati bereits zu diesem Zeitpunktanklingen ließ, zeigte sich in den Folgewochen, dass diese nun auf die ebenfalls am 23. Oktober stattfindenden Wahlen in einigen Provinzen zu fokussieren scheint, bei denen immerhin 130 Abgeordnete sowie 24 SenatorInnen neu bestimmt werden.
Die Regierung selber scheint derzeit vor Selbstvertrauen zu strotzen. In der Pressekonferenz unmittelbar nach den primarias kündigte Cristina bereits an, dass sogenannte ley de la tierra möglichst schnell vorantreiben zu wollen. Hierbei geht es um die Beschränkung des Erwerbs von Ländereien durch Nicht-ArgentinierInnen. Die Agraroligarchie hat sich bisher wenig erfreut über die Versuche der Regierung in diese Richtung gezeigt. Zudem preschte der Innenminister Florencio Randazzo bei der Verkündung der endgültigen Wahlresultate wenige Tage später in der stetigen Auseinandersetzung zwischen der Regierung und einigen Medienunternehmen erneut vor: Diese hatten immer wieder von Unstimmigkeiten bei den Wahlen gesprochen. Im Endeffekt mussten die Zahlen für Cristina Fernández de Kirchner dann sogar noch oben korrigiert werden. Erneut bediente Randazzo dabei den Diskurs der demokratischen Institutionen, indem er diesen Medien – vor allem den Zeitungen Clarín und La Nación – vorwarf unverantwortlich zu handeln und diese Institutionen anzugreifen.
Auch in den Ergebnissen der Provinzwahlen nach den primarias, konnte die Regierung ihren Siegeszug fortsetzen: Im Chaco wurde mit Jorge Capitanich ein Anhänger des kirchnersimo mit deutlicher Mehrheit wiedergewählt. In Rio Negro gewann mit Carlos Soria nicht nur der Kandidat der Frente para la Victoria,sondern überhaupt das erste Mal seit der Rückkehr zu Demokratie ein peronistischer Kandidat.
Wie es auf lange Sicht weitergeht mit dem kirchnersimo steht jedoch in den Sternen. Dass diese Form des Kompromisses keine langfristige Lösung bringen wird, zeigt sich in der grundlegenden Ausrichtung des derzeitigen Modells, dessen Wurzeln bis in die Wirtschaftspolitik der Militärjunta reichen: Dominanz des ausländischen Finanzkapitals und Unternehmen, rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, „Sojarisierung“ die dazu führt, dass die Wirtschaft sich wieder vermehrt im Primärsektor konzentriert und diesen homogenisiert, Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und Schwarzarbeit. Es ist schwer vorstellbar, dass sich diese dauerhaft mit den. trotz aller berechtigten und nötigen Kritik, zweifellos vorhandenen progressiven Aspekten des kirchnerismo und vor dem Hintergrund einer weltweiten kapitalistischen Krise vereinbaren lassen. Wie sich der kirchnerismo, konfrontiert mit den neuen Herausforderungen, verhalten wird scheint offener denn je.

Anmerkungen
1 Einen schnellen Einstieg und Überblick bezüglich der KandidatInnen, ihre nParteien und Wahlkoalitionen bietet der wikipedia-Eintrag zu den primarias.
2 Die Parteienlandschaft Argentiniens ist höchtst zersplittert und stellt sich hinsichtlich BündnispartnerInnen etc. a auf nationaler Ebene anders dar als auf Pronvinzebene. Als zentrales Merkmal könnten man eine Art Projektcharakter ausmachen im Zuge dessen sich vor den Wahlen die unterschiedlichen Parteiströmungen, auch über die eigenen Parteigrenzen hinaus, um zentrale Figuren gruppieren. Weil die Darstellung der argentinischen Parteienlandschaft eines eigenen Artikels bedürfte, verzichte ich an dieser Stelle auf genauere Ausführungen. Statistiken nach Ministerio del Interior: http://www.primarias2011.gob.ar/ [3.09.2011]
3 Hugo Moyano ist Vorsitzender der Lastwagenvereinigung. Da ein Großteil des Warentransportes über den Straßenverkehr abgewickelt wird besitzt diese ein enormes Machtpotenzial. In Argentinien sagt man, wenn Mayona will, dann steht das Land still.
4 Russo, Sandra (2011): La presidenta. Buenos Aires: Editorial Sudamericana.
5 Feinmann, José Pablo (2011): El Flaco. Dialogos Irreverentes con Néstor Kirchner. Buenos Aires: Editorial Planeta.
6 Die Schwarzarbeit liegt derzeit bei ca. 30%. Die Absurdität in diesem Zusammenhang ist, dass es sogar für den Staat Arbeitenden gibt, die en negro arbeiten.
7 Der Vorsitzende sorgt nach den primarias für einen Skandal nachdem er seiner Verachtung für die populären Sektoren Argentiniens freien Lauf ließ und wie folgt analysierte: „Die Leute schauen Tinelli und wenn sie ihren Plasmafernseher bezahlen können interessiert sie nichts mehr/scheißen sie auf alles.“ Zudem gab dieser zu, dass die RepräsentantInnen des campo immer wieder gelogen hätten, um Stimmung gegen die Regierung zu machen und dass es der Agrarwirtschaft eigentlich sehr gut ginge.





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