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Nüchterne Rebellion
von Philipp Probst, Stefan Probst

Straight Edge, die drogenfreie Subkultur im Hardcore-Punk, wird oft mit selbstgerechtem Moralismus, Humorlosigkeit und konservativem Puritanismus assoziiert. Dennoch war die Szene seit ihren Anfängen in Washington DC in den frühen 1980er Jahren immer auch Sprungbrett für radikale Politik. Philipp Probst und Stefan Probst über die Geschichte einer widersprüchlichen Gegenkultur.

1979/80 schrieb die Washingtoner Hardcore-Punk-Band Teen Idles den wahrscheinlich ersten Straight Edge-Song. Dessen Lyrics waren zwar offensichtlich nicht ganz bierernst gemeint, aber trotzdem nur halb als Scherz gedacht: „I drink milk / I drink milk / I drink milk / I drink milk / I don’t care what people say, I drink milk everyday!“1 Ian MacKaye, Bassist und Textschreiber der Band, hat in späteren Interviews den Hintergrund des Songs erläutert: „In den 1970er Jahren machten sich meine MitschülerInnen und meine FreundInnen dauernd darüber lustig, dass ich keinen Alkohol trank. Als ich in die Punk-Szene eintauchte, war es genau dasselbe. Ich konnte immer nur denken: ‘Hey, ich bin einfach, wie ich bin!’ Schließlich sagte ich nie zu irgendwelchen Leuten, dass sie bescheuert waren, weil sie Alkohol tranken – trotzdem wurden meine Entscheidungen dauernd in Frage gestellt.“2 Zunehmend frustriert von den Erwartungshaltungen einer drogenzentrierten Kultur, die der Punk offensichtlich mit dem Mainstream teilte, schrieb MacKaye 1981 schließlich mit der Nachfolgeband der Teen Idles, Minor Threat, einen Anti-Drogen-Song, in dem er seinen Ärger, sich ständig für seine Abstinenz rechtfertigen zu müssen, aggressiver auf den Punkt brachte: Straight Edge. Die Lyrics lassen an Deutlichkeit nichts vermissen:
„I’m a person just like you / But I’ve got better things to do/ Than sit around and fuck my head / Hang out with the living dead / Snort white shit up my nose / Pass out at the shows / I don’t even think about speed / That’s something I just don’t need / I’ve got the straight edge […]. Always gonna keep in touch / Never want to use a crutch / I’ve got the straight edge“.3
Straight Edge soll dabei zum Ausdruck bringen, mit einem nüchternen, klaren, eben straighten Kopf einen Vorteil zu haben (to have an edge on you). Es war dieses Grundprinzip eines klaren Kopfes, das die Bewegung vereinte – jenseits der jeweils zeitlich, regional und individuell spezifischen Ausdeutungen dessen, was mit einer Straight-Edge-Identität bezeichnet sein soll. Wieder war es ein Minor Threat-Song, der gemeinhin als Gründungsmanifest dieser Prinzipien steht: In Out of Step schreit Ian MacKaye: „(I) Don’t smoke / Don’t drink / Don’t fuck / At least I can fucking think.“4
Während diese „drei einfachen Worte“5 niemals als fixes Regelwerk für eine Bewegung gedacht waren, wurden sie zum Startschuss für einen Gedanken, der in den unterschiedlichsten Interpretationen Teile der Punkszene und Jugendkultur über die nächsten Jahrzehnte prägte.

American Hardcore
Die Entwicklung der Straight Edge (sXe) Bewegung muss im Kontext der entstehenden Hardcore-Punk-Szene betrachtet werden – als dessen organischer Teil und als kritische Intervention in diese.
Hardcore-Punk entwickelte sich in den späten 1970er Jahren als schnellere, direktere, aggressivere Variante des Punk, die diesen auf seinen harten Kern reduzierte. Die Songs waren kurz, intensiv, auf den Punkt, in-your-face und ohne Umschweifen; alles andere als die zu dieser Zeit dominierende Diskomusik und Stadionrock. Die Texte waren schnell, oft unverständlich rausgeschrien, sich gegen gesellschaftliche Normen richtend. Ganz im Sinne von „You don’t understand a word we say, You don’t listen to us anyway.”6 Ausschweifende Gitarrensolos oder ähnliches waren verpönt. Entsprechend physisch und roh wie die Musik waren die Shows. Sie drückten die Ablehnung gegenüber einer vorgegaukelten heilen Welt und der Fassade des suburbanen Utopia aus. „Die Musik, die wir spielten, die Texte, die wir schrieben hatten nichts mit Hände-halten, Lächeln und Sonnenuntergängen zu tun.“7
Wesentlich ging es für die Jugendlichen (oft 13 bis 16 Jahre alt!) darum, in einer Gesellschaft, die nichts als Perspektivlosigkeit, Langeweile und Konformitätsdruck zu bieten hatte, Frust abzulassen. Musik von Kids für Kids, die die ganze amerikanische Gesellschaft nur mehr anfuckte und die Zuflucht und Energie im Hardcore Punk suchten. „Die Musik mit der die meisten von uns in den 1970ern aufwuchsen, war Musik von älteren Menschen und handelte von Partys und Cruisen – alles Dinge, zu denen wir keinen Bezug hatten, alles Dinge, die wir in unserem Leben nicht fühlten.“8
Etwas direkter beschrieb Keith Morris von den Circle Jerks das Gefühl der Ablehnung einer ganzen Gesellschaft, das den Hardcore von Beginn an prägte; einer Gesellschaft, in der sich die Hardcoreszene zu dem Raum entwickelte, in dem Jugendliche sich ausleben konnten, sie selbst sein konnten. „Ich hasse meinen Boss, ich hasse die Menschen mit denen ich arbeite, ich hasse meine Eltern, ich hasse all diese Autoritätsfiguren, ich hasse Politiker, ich hasse Menschen in der Regierung, ich hasse die Polizei, weißt du, jeder zeigt mit dem Finger auf mich, jeder stochert in mir rum, jeder hatte etwas an mir auszusetzen, und jetzt hab ich hier eine Gruppe von Menschen, die wie ich sind, und wir haben die Chance abzugehen; und das ist es, was es im Prinzip war.“9
Zwei wesentliche Entwicklungen scheinen für die Herausbildung einer eigenständigen Hardcore-Kultur in den frühen 1980er Jahren relevant: zum einen das gesellschaftspolitische Klima in den USA um 1980, das in den Worten des späteren Black Flag-Sängers Henry Rollins von „Rezession und Repression“10 geprägt war; zum anderen die zunehmende Kommerzialisierung, Ästhetisierung und Internalisierung der Punk-Rebellion in den Mainstream. Besonders deutlich wurde das in der Dominanz des New Wave im Punk, der die Radikalität dieses Genres als subkulturellem Ausdruck jugendlicher Rebellion zunehmend unscharf werden ließ. „Mitte 1979 waren die einzigen Menschen, die noch Punkmusik spielten, diejenigen, die auch wirklich dabei sein wollten. Es gab einen großen Bruch, der bedeutete, dass Punk in den underground ging, intensiver, reiner – was gut und schlecht war – und mehr hardcore wurde.“11

Reagan’s In!12
„Nichts bringt eine Musikszene so in Fahrt, wie Repression gepaart mit Rezession.“13 Die Wahl des ehemaligen Hollywood-Schauspielers Ronald Reagan zum 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten 1981 war so etwas wie die Triebkraft hinter der Entwicklung des Hardcore. Er stellte den „Feind von Kunst, von Minderheiten, von Frauen, Schwulen, Liberalen, Obdachlosen, ArbeiterInnen, der Innenstadt, usw. dar. Jeder ‚Außenseiter’ war sich darin einig, ihn zu hassen.“14
Reagans Amtszeit prägte in paradigmatischer Weise das gesellschaftspolitische
Leben der Vereinigten Staaten. Es war die Zeit des Aufstiegs der Neuen Christlichen Rechten und der ökonomischen Krise. Der Abbau sozialer Sicherungssysteme unter dem neoliberalen Schlagwort der Reagonomics und der massive Ausbau des Polizei- und Überwachungsapparats traf besonders die Jugendlichen aus proletarischen und proletarisierten Mittelschichts-Haushalten, für die Reagans Wahlkampf-Slogan „It’s Morning Again“ wie reiner Hohn klingen musste. Die Reagan-Administration versuchte, ein Gefühl der Rückkehr zu Recht und Ordnung durchzusetzen, zu einem guten, konservativen, geregelten – und weißen – Amerika. Vic Bondi, Sänger der Hardcoreband Articles of Faith und später linker Songwriter, drückte das Gefühl der herrschenden Schicht in den frühen 1980er Jahre so aus: „Weißt du, dieses Weichei Jimmy Carter sprach über Frieden und Menschenrechte und all die Scheiße. Und es gab die Feministinnen und die Schwarzen, ‚die aufmüpfig gegen uns wurden, deshalb werden wir die Ordnung wiederherstellen‘; Also ging das ganze Land in Richtung dieser wirklich kindlichen Fünfziger Jahre-Fantasie, wo sie alle diese Strickjacken und so trugen.“15
Konservatismus und law-and-order-Kurs sollten eine auseinanderfallende Gesellschaft auf Linie bringen. Die Vorstellung eines neuen Morgens in Amerika, einer Rückkehr zum goldenen Zeitalter, spießte sich aber mit der gefühlten und realen Hoffnungslosigkeit eines großen Teils der Bevölkerung. „Es ist schwer für irgendjemand, vor allem für Jugendliche, irgendetwas zu haben, an das man glauben kann. All die Dinge mit denen wir aufwuchsen: die Regierung, das Familiensystem, der amerikanische Traum, dieses ganze religiösen Ding, das Amerika so bestimmt – das alles funktioniert einfach nicht mehr. Alles fällt zusammen, wir sehen es jeden Tag, es gibt nichts, woran wir glauben können.“16
Während Hoffnungslosigkeit das Leben vieler Jugendlicher bestimmte, ließen anhaltende Wirtschaftskrise, Sparmaßnahmen und steigende Inflation die Kluft zwischen (neuen) Reichen und Armen weiter anwachsen. Die Antwort der Regierung lautete: steigende Repression und Polizeigewalt.
Die Dead Kennedys thematisierten diese Situation einer in Reiche und Armen gespaltenen Gesellschaft in ihren Songs. Im satirischen Kill the Poor singt Jello Biafra vom fiktiven Standpunkt der Herrschenden aus: „Behold the sparkle of champagne. / The crime rates gone, feel free again. / O’ life’s a dream with you, Miss Lily White. / Jane Fonda on the screen today / Convinced the liberals it’s okay, / So let’s get dressed and dance away the night, / While they / Kill kill kill kill kill the poor / Kill kill kill kill kill the poor / Kill kill kill kill kill the poor: Tonight!“17

They take the rights away from all the kids18
Die Polizeibrutalität traf AußenseiterInnen der Gesellschaft besonders hart. Vor allem in Großstädten wie Los Angeles und New York ließ die Polizei keine Gelegenheit aus, Jugendliche zu jagen und zu verprügeln. Im Gegensatz zu Gangmitgliedern stellten Hardcorekids, wie Pat Dubar von Uniform Choice im Buch American Hardcore erzählt, perfekte, leichte Ziele dar. Oft handelte es sich um von daheim Weggelaufene, sie kamen aus kaputten Familien oder sie hatten Eltern, die sich um nichts kümmerten – und sie konnten sich nicht wehren. Daher hatte polizeiliche Gewalt in den meisten Fällen keine Konsequenzen für die Behörden. Im Gegenteil, die Polizei setzte alles daran, die aufkommende neue jugendliche Gegenkultur im Keim zu ersticken. „Heute würde das, was die Polizei damals gemacht hat, als Belästigung oder racial profiling bezeichnet werden – sie stürmten Shows, sammelten Beweise, speicherten Akten. Die Machthaber erkannten die Gefahr, real oder eingebildet, wenn Bands wie Black Flag und Dead Kennedys spielten.“19 Nicht umsonst waren viele Hardcore-Texte geprägt von der erlebten Repression und dem Hass auf die Polizei. Die Band MDC, deren Abkürzung unter anderem für Million of Dead Cops stand, sang in Dead Cops/America’s So Straight: „Dead Cops / Watcha gonna do / The Mafia in blue / Huntin’ for queers / Niggers and you.“20
Angesichts der staatlichen Übermacht und der Repression gegen die Jugendlichen, herrschte Resignation und Kampfgeist oft gleichzeitig vor. Während Black Flag in ihrem Song Police Story von einem Kampf sprachen, „den wir nicht gewinnen können“ („They hate us / we hate them, we can’t win / no way!“)21, sprach der Künstler Winston Smith davon, wie sich die Grundhaltung breit machte „kämpfend unterzugehen, wenn wir verlieren müssen, aber sie nicht damit davonkommen zu lassen.“22 Doch nicht nur die Polizei hatte es auf die Kids abgesehen. Rocker, Rednecks und Jocks23 verprügelten sie in den Highschools und zogen in Banden durch die Viertel auf der Suche nach Punks.
Die fast tägliche Erfahrung von Gewalt spiegelte sich in der Szene wieder. Die Shows waren geprägt von violent dancing, einem Tanzstil der viel Körperkontakt mit sich bringt und bei dem der Unterschied zu handfesten Prügeleien manchmal schwer auszumachen ist. Allerdings bedeuteten diese Shows für viele die Möglichkeit, kurzzeitig die herrschenden gesellschaftlichen Normen hinter sich zu lassen und die Gewalt, mit der sie ständig konfrontiert waren, verarbeiten zu können. Die Szene wurde zugleich zur wichtigsten Verteidigung gegen die täglichen Übergriffe24 und einer Community, die AußenseiterInnen ein Ventil für ihre Wut und Langeweile bot. Im Song Fight der für die Szene in Washington DC maßgeblichen Band Scream wird deutlich, dass Fight (Kampf) sowohl ein Mittel gegen Frustration war, als auch für Unity (Gemeinschaft) stand. “Look at me, I look at you / What the fuck you gonna do? / I feel boxed in, well, I just wanna fight / Through the problems in the night / Fight / Hey, all ye crunchcloths, we all say / Fight for the united way / Fight together, fight as one / Fight forever till we’ve won / Fight (to unite)25 Die Community bot Platz, eigene Projekte und eigene Ideen in die Tat umzusetzen. In diesem Sinne übernahm die Hardcore Variante des Punk wesentliche Charakteristika des 1970er Jahre Punks, den eine Mischung aus Selbstorganisierung, Eigenständigkeit und eine „Scheissauf-Alles“-Attitüde charakterisierte. In der Hardcore-Szene spiegelte sich der politische Radikalismus des Amerikas der frühen 1980er wider.

Do-It-Yourself and Think for Yourself!
Neben der radikalen Ablehnung vorherrschender Werte und Ziele der Mainstream-Gesellschaft war eine der positivsten Eigenschaften die klare Do-It-Yourself-Ethik (DIY). Vollkommen unabhängig von gängigen Distributionskanälen und Kommunikationsmedien baute die Hardcore-Kultur über Fanzines, Bandkontakte und selbst gegründete Labels ein subkulturelles Netzwerk auf, das bald die gesamten USA überspannte. Wichtig in diesem Kontext sind beispielsweise die Bemühungen der von Mitgliedern der Punk-Band Youth Brigade gegründete Better Youth Organization, die über die DIY-Ethik versuchte, dem Punk eine positive Richtung zu geben. Mittels grassroot organizing konnten ständig neue Konzertorte gefunden und Jugendzentren etabliert werden. Die eigene Community aufzubauen war eine der wesentlichen Säulen der Hardcore-Kultur. Im Gegensatz zur vorherrschenden Ideologie einer individualisierten Ellbogengesellschaft lautete das Motto „wir gemeinsam, statt alles für mich und fuck the rest“.
Diese DIY-Ethik und das Bekenntnis zu Community-Building – von Kids für Kids – bedeutete auch, die Trennung zwischen Band und Publikum bei Shows zu überwinden. Alle konnten und sollten Musik machen. Der Sound war einfach und aggressiv, niemand musste die Instrumente wirklich beherrschen. Niemand wartete darauf, dass jemand etwas für einen machte, sondern ging es gemeinsam mit anderen an.
Ian MacKaye erzählt in einem Interview, dass er in seiner Zeit auf einer staatlichen Highschool vor allem eins lernte: „Wenn du etwas machen willst, kannst du nach Erlaubnis fragen, doch dann wird die Antwort sicher ‚Nein‘ sein. Darum frag am besten gar nicht, sondern mach es einfach.“26
Aus dieser DIY-Ethik entwickelte sich ein politischer Anspruch, bei dem sich der Großteil der Bands auf personal politics konzentrierte, wobei es wichtig war, dass ein direkter Zusammenhang mit der Community und der Nachbarschaft bestand. Das drückte sich auch in der Ablehnung der etablierten Politik aus: „Wir wollten nicht eure Politik, wir waren interessiert an persönlicher Politik; wir sind interessiert an dieser Musik, an dieser Community, an dieser Szene.“27 Trotzdem fanden sich auch immer wieder die Themen Kapitalismus, scheiß Arbeitsbedingungen und der Zynismus der Herrschenden in den Texten wieder: „Ronald laughs as millions starve / And profits forever increase / Your stenching farts as they smile / They say they try to please / Plastic chairs and fake shakes / To help it all go down / Polluting your children with their lies / And trying to destroy your mind“28

Go BOOM!
Sowohl im 1970er Jahre Punk als auch im HC-Punk fanden sich also auch explizit politische, gesellschaftskritische Bands. Dennoch erbte der Hardcore zum Teil auch die selbstdestruktiven no-future-Tendenzen des 1970er Jahre Punks: „Get fucked and fuck shit up!“. Zwar versuchten Bands wie Bad Brains mit ihrer propagierten positive-mental-attitude immer wieder, dieser live-fast-die-young-attitude in der Community positive Impulse entgegenzusetzen. Dennoch artikulierte sich bei vielen Jugendlichen die Wut auf die vorherrschenden Werte und Erwartungshaltungen der Gesellschaft in destruktiver Anti-Haltung, ohne selbst eine Vorstellung von Veränderung zu entwerfen. Black Flag, eine der ersten Hardcore-Bands aus den suburbanen Gebieten Kaliforniens, hat dies 1980 in ihrem Song No Values auf den Punkt gebracht: „I don’t care what you think / I don’t care what you say / I’ve got nothing to give you / Why don’t you just go away? / I’ve got no values / Nothing to say / I’ve got no values / Might as well blow you away / […] Don’t you try pretendin’ / Telling me it’s all right / I might start destroyin’ / Everything in my sight! / No values“29
Die Frustbewältigung über Gewalt, die bei den pubertierenden männlichen Jugendlichen in den Suburbs an der Westküste zumindest anfangs viel ausgeprägter war als etwa in DC, wurde zunehmend zum Problem. Die Härte der Straße erklärt zwar die Reaktion und macht diese verständlich, allerdings wurden dadurch mehr und mehr Leute angezogen, die allein wegen der Gewalt kamen. Jello Biafra beschreibt, dass HC-Punks oft „Surfer waren, Skateboarder waren, und manchmal waren sie einfach sehr gewalttätige Surfer und Skateboarder.“30
Darüber hinaus ist es nur eine leichte Übertreibung, wenn behauptet wird, dass sich Frust und Perspektivlosigkeit nicht zuletzt in Destruktivität gegen sich selbst ausdrückten. Drogen waren ein ernsthaftes Problem im frühen Hardcore, und zwar nicht nur Alkohol, sondern vor allem Speed und Kokain, die die Straßen der USA überschwemmten.
Es war dieser Kontext, in dem sich die ersten Straight Edge-Bands formierten. Frustriert von den selbst-zerstörerischen Verhaltensweisen der Punk-Szene nahmen sie eine Anti-Drogen-Haltung ein. Die Straight Edge-Bands kritisierten, dass „Punks zwar ihre Individualität hervorhoben, aber eine eigene Art der Konformität verstärkten, die die Fixierung der Jugendkultur auf die Einnahme von Substanzen reflektierte. Weiters fühlten Straight Edge-Kids, dass Punks ihr eigenes Potential zur Rebellion verringerten, indem sie in einem Drogen- und Alkoholdunst lebten.“ Die frühe Straight Edge-Jugend sah die hedonistische Rebellion des Punk als überhaupt nicht rebellisch, da sie in vielerlei Hinsicht „den betäubten Lebensstil der Mainstreamkultur in einer irokesenschnittigen Lederjackenverkleidung“ reproduzierten.31
Während sich Menschen, die Straight Edge lebten, positiv auf die Hardcore Kultur – mit all ihren Widersprüchlichkeiten – bezogen, und vor allem den Community-Gedanken und die Rebellion gegen die Mainstreamkultur hoch hielten, propagierten sie zugleich, wie wichtig es war, dafür einen klaren Kopf zu haben. Straight Edge wurde so zu einer Gegenströmung innerhalb der jugendlichen Gegenkultur.

Trinitarische Formel?
Der für die Entwicklung des sXe prägendste Song war sicherlich Out of Step von Minor Threat. Es sollte bereits klar geworden sein, dass die viel zitierte Textzeile „(I) Don’t Drink / Don’t Smoke / Don’t Fuck / At least I can fucking think!“ weder als verbindliches Regelwerk, Gründungsmanifest einer Bewegung oder überhaupt als etwas anderes denn als persönliche Befindlichkeitserklärung von Minor Threat-Sänger MacKaye gemeint war. Jene, die die Idee aufgriffen, interpretierten den Song aber zu Recht auch als positive Intervention gegen die selbstzerstörerischen Dynamiken der Szene. Sie versuchten den Grundgedanken des Punk und der DIY-Ethik wieder stark zu machen: Think for yourself, und das mit einem klaren Kopf. Und das sollte selbstverständlich auch für die von manchen als ‚Three-Step-Formula‘ interpretierte Zeile in Out of Step gelten. Folglich bauten Minor Threat in der zweiten Aufnahme des Songs eine zusätzliche Erklärung ein, die klarstellen sollte, dass jeder und jede für sich selbst entscheiden müsse, was der Text für sie bedeuten sollte: „Hört zu, dies sind keine Verhaltensregeln! Ich sage euch nicht, was ihr tun sollt!“32
Zunächst verstanden tatsächlich auch jene, die die Message des Songs postitiv für sich selbst übersetzten konnten, Straight Edge weder als eigene Bewegung noch als Identitätsclaim, sondern in erster Linie als konstruktiven Impuls für die HC-Szene: die Community müsse offen sein – oder offener werden – auch für jene, die Milch statt Bier trinken wollen. Der peer pressure dominanter Jugendkulturen sollte im HC eben gerade keinen Platz haben. Die Szene sollte aber gleichzeitig für jene offen sein, die zumindest legal gar keinen Alkohol konsumieren durften. Dies war insbesondere in Washington DC ein eminent praktisches Problem, insofern die meisten Shows in Clubs stattfanden, in denen Alkohol ausgeschenkt wurde. So hat sich eben auch das zentrale Symbol des (späteren) Straight Edge, das X, aus der Überzeugung heraus entwickelt, dass Hardcore-Shows für all ages offen sein müssen. Um den Problemen mit Club-Besitzern aus dem Weg zu gehen, schlugen minderjährige Jugendliche vor, sich ein dickes schwarzes X auf den Handrücken zu malen. Damit zeigten sie, dass sie keinen Alkohol konsumieren würden und konnten die Show besuchen. Ursprünglich stand das X also weniger für sXe und Abstinenz, sondern für Jugend.
Besondere Aufmerksamkeit verdient schließlich noch der so oft, auch im sXe selbst, falsch verstandene Ausdruck „Don’t Fuck“. Für viele SkeptikerInnen wird genau hier die Anschlussfähigkeit des sXe an reaktionäre christliche Enthaltsamkeits-Sekten deutlich. Für Ian MacKaye, der sich schon oft für diese Formulierung rechtfertigen musste, war die ganze Aufregung trotzdem relativ unverständlich: „Glaubst du, dass Menschen bei ‘Don’t Drink’ jemals sagen würden: ‚Aha, er will, dass niemand mehr irgendein Getränk oder irgendeine Flüssigkeit zu sich nimmt?‘ Aber wenn das Wort ‚fuck‘ ins Spiel kommt, werden sofort andere Schlüsse gezogen. Ich verstand das nie. Es war doch klar, dass es um Missbrauch, Manipulation und Eroberung ging, also um die Instrumentalisierung von Sex, die auf Befindlichkeiten von Menschen keine Rücksicht nimmt.“33

Me, You, Youth Crew
Die Idee des Straight Edge wurde in den frühen 1980er Jahren ziemlich schnell von Bands wie SSD und DYS in Boston, Uniform Choice in Kalifornien oder 7 Seconds in Reno aufgegriffen. Dave Smalley von DYS erklärt: „Es sprach eine ganze Generation von Kids an, die gerade die 1970er Jahre erlebt hatten, und sie haben Kids gesehen, die in den Highschools dreimal täglich kiffen und wasties in einem tragisch jungen Alter werden.”34
Diese Bands sind maßgeblich für die Entwicklung einer kollektiven sXe-Identität verantwortlich. Dennoch entwickelte sich sXe vor allem infolge einer Band zu einer im HC einflussreichen Bewegung: Youth of Today. Der Bewegungscharakter von sXe liegt darin, dass sXe als „allgemein wünschenswerter Lebensstil propagiert wurde“.35 Ray Cappo, Sänger von Youth of Today erläutert: „Wir wollten nicht nur drogenfrei sein, sondern auch laut, selbstbewusst und stolz.“36 Während die Betonung bei frühen Bands wie Minor Threat vor allem auf der Offenheit der HC-Community und der Verteidigung einer persönlichen Lebensentscheidung lag, verstanden diese neuen Bands sXe weniger als Intervention in die Szene, sondern selbst als Community-Projekt. Zwar blieb die positive Grundhaltung eines klaren Kopfs, sXe beschäftigte sich aber zunehmend mit sich selbst.
Besonders in den Song-Texten fällt diese isolationistische Dynamik auf: man schwört sich, „true till death“ zu sein, und exkommuniziert Leute, „who have broken the edge“, „sold out“, „stabbed us in the back“. Die ‚Don’t Drink, Don’t Smoke, Don’t Fuck‘-Formel wird zum neuen Katechismus und identitären Grundprinzip. Besonders in den militanteren Szenen wie in Boston kommt auch ein selbstgerechter Moralismus und ein maskulinistischer Selbstentwurf der sXe-Szene als Brotherhood hinzu.
Während Straight Edge ursprünglich organischer Teil einer offenen Hardcore-Punk-Szene sein wollte, setzte sich Straight Edge seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend als abgrenzender Identitäts-Claim durch. Auch wenn oft die „open minds and open hearts“ betont wurden, sah die Praxis meist anders aus: sXe wurde zum neuen Konformismus. Um nicht falsch verstanden zu werden: die sogenannte Youth-Crew Zeit der späten 1980er Jahre hat großartige Bands und Songs hervorgebracht. Dennoch hatten sich die HC-Szene insgesamt und der sXe im Besonderen im Vergleich zu den frühen Jahren entscheidend verändert.
Mitte der 1980er Jahre hatten sich die meisten Bands der ersten Hardcore-Welle aufgelöst. Die Wiederwahl Ronald Reagans wurde bei vielen als herbe Enttäuschung erfahren. Und schließlich schien der Hardcore selbst musikalisch zu stagnieren, während in der Szene Gewalt einen immer zentraleren Stellenwert einnahm. Überspitzt, aber auch nicht vollkommen falsch, hat Stephen Blush – HC-Chronist und Autor von American Hardcore – deshalb behauptet, der Hardcore sei 1984 gestorben.
Tatsächlich gingen einige prägende Bands der ersten Welle ab Mitte der 1980er Jahre musikalisch und/oder politisch neue Wege. In Washington DC begründeten Bands wie Rites of Spring oder Embrace in Reaktion auf die tough-guy-Mentalität der Szene jene Musikrichtung, die heute etwas unglücklich als Emotional Hardcore, kurz Emocore bekannt ist. In Reno gründete sich 1984 um Mitglieder der Band 7 Seconds die Positive Force Initiative als Versuch der expliziten Politisierung der Szene. Und 1985 gilt in DC ohnehin als „Revolution Summer“37.
Die HC-Kultur im engeren Sinn wurde nun von einer Generation dominiert, die kaum mehr mit den Punk-Wurzeln des HC in Berührung gekommen war. Tonangebend war vor allem die Szene in New York – der sogenannte New York Hardcore – wo sich unter die progressiven Punk-Ideale zunehmend auch dumpfer Patriotismus, Machismo und Homophobie mischten. Ray Cappo hat die New Yorker Szene rückblickend so beschrieben: „weißt du, in der Highschool gabs immer diesen einen Raufbold, nur einen, Psycho-Schläger, der dich schikanieren würde. Die Hardcore Szene in New York war als ob du jeden Raufbold in Amerika nehmen und in diese verrückte kleine Community stecken würdest.“38

Ausdeutungen
Die Schwierigkeit, das Phänomen Straight Edge auf den Punkt zu bringen, besteht nicht zuletzt darin, dass die jeweiligen Ausdeutungen dessen variieren, was mit sXe überhaupt gemeint sein soll: von einer persönlichen Lebenseinstellung zu einer propagierten Ideologie, von puritanischem Asketismus zur Vorstellung eines klaren Kopfs als bessere Voraussetzung für gesellschaftliche Veränderung, von maskulinistischer Wolfpack- und Crew-Mentalität zur Betonung einer offenen, partizipativen Community. Straight Edge ist deshalb ein weder per se fortschrittliches, noch reaktionäres Phänomen. Sicher, wer den verrückteren Auswüchsen des sXe in den frühen 1990er Jahren die hauptsächliche Aufmerksamkeit schenkt, wird entweder die Stirn runzeln – etwa über den mysteriösen Boom straighter Krishna-Core-Bands – oder sich von der selbstgerechten Militanz, gewürzt mit einer kräftigen Prise Pro-Life und Ablehnung vorehelichen Sex, von 1990er-sXe-Bands wie Vegan Reich angewidert abwenden. Dass gleichzeitig offen kommunistische Bands wie ManLiftingBanner ebenfalls eine sXe-Identität für sich beanspruchen, macht die Sache dann aber doch kompliziert.
So wie jede subkulturelle Bewegung steht nämlich auch der sXe in einem widersprüchlichen Verhältnis zu den hegemonialen Verhältnissen und Vorstellungen. Diese Spannung soll im Folgenden beispielhaft anhand von Sexismus und Homophobie innerhalb der sXe-Szene durch diskutiert werden.

Machismo, Emancypunx
Der vom sXe propagierte Verzicht auf Alkohol und Drogen steht zum einen quer zu Erwartungshaltungen und Verhaltensweisen der Mainstream-Jugendkultur, insbesondere aber auch hegemonialen Konstruktionen jugendlicher Männlichkeit. Für sXer sind Saufen und sexuelle Eroberung gerade keine Zeichen von Stärke und Maskulinität, sondern im Gegenteil Schwächen, die überwunden werden sollten.39 sXe ermutigte jugendliche Männer, sich maskulinistischen Anrufungen zu entziehen und Sexismus auf persönlicher Ebene zu bekämpfen.
Zudem war der sXe von Anfang an auch auf den Aufbau offener drogenfreier Räume bedacht, in dem sich Frauen, ohne sexuell belästigt zu werden, bewegen konnten. Tatsächlich wird die Szene von vielen Mitgliedern als Raum wahrgenommen, in dem sie weniger Druck verspüren, traditionellen Geschlechterkonstruktionen entsprechen zu müssen.
Dennoch werden diese propagierten Bemühungen um progressive Veränderung der Geschlechterverhältnisse – zumindest in der Szene – in der Praxis beständig durchkreuzt. Während viele in der sXe-Bewegung betonen, Geschlecht spiele in der Szene keine Rolle, so bleibt der sXe doch, genauso wie die Hardcore-Szene überhaupt, ein überwiegend männlich dominierter Kontext.
Offensichtlich ist das bei den Shows selbst der Fall: sowohl auf der Bühne als auch im Publikum finden sich meist fast ausschließlich Typen. Ebenso klar ist, dass die zunehmende physische Rohheit (aka Gewalt) beim Tanzen nicht gerade zu einer offenen Community beitrug. MacKaye erinnert sich: „die Sache wurde immer verrückter, immer gewaltförmiger. Und ich begann diese Veränderung wahrzunehmen – Frauen, die von ganz vorne bei der Bühne immer weiter nach hinten abgedrängt wurden, und schließlich überhaupt ganz hinaus.“40
Ebenso sind aber die Begriffe, in denen das Bekenntnis zur Abstinenz – vor allem seit den späten 1980er Jahren – gerahmt wird, eindeutig solche, die traditionell als männlich konnotiert gelten: (Selbst-)Disziplin, Stärke, Ehre. Entsprechend ist die beschworene sXe-Community eben immer auch die männliche brotherhood, in der körperliche Fitness und toughness wesentlich dazugehören. Und dass die Netzwerke des DIY oftmals eben Männernetzwerke mit entsprechenden Gatekeepern sind, sollte auch nicht überraschen.
Einige dieser Tendenzen begleiten die Hardcore-Szene seit ihren Anfängen. Andere wiederum sind spezifischer für den sXe, wobei bestimmte hypermaskulinistische sXe-Anrufungen sich erst im Kontext der allgemeinen Depolitiserung, Isolierung und relativen Ablösung der HC-Szene von ihren Punk-Wurzeln durchsetzen konnten. Bei allen eigenen Schwächen hatte der Punk nämlich immer eine androgyne Schlagseite und war oftmals spielerischer im Umgang mit Geschlecht. Initiativen wie jene um das Warschauer Label Emancypunx Records, die auf der Compilation X The Sisterhood X ausschließlich all-girl Straight Edge-Bands von Argentinien bis Weißrussland versammelten und versuchen, den Aufbau unabhängiger Netzwerke von Frauen im Hardcore-Punk voranzutreiben, bleiben in der Szene leider immer noch die Ausnahme.

Taking the Straight out of Straight Edge
Ähnliches gilt auch für den Umgang mit Homosexualität. Zwar gab es immer offen schwule Bands im HC, etwa MDC oder die großartigen Limp Wrist: „Hey we’re the kids we’re here to set the score / We’re tired of fucking hiding we don’t do it no more / Come out of the closet and into the pit / Boy on boy contact, you know it’s the shit.“41
Dennoch blieben die homophoben Aspekte der HC-Kultur im Allgemeinen – etwa bei den Bad Brains nach ihrem Rastafari-Turn – und im sXe im Besonderen unterthematisiert. Nach Limp Wrist-Sänger Martin Sorrondeguy hat das nicht zuletzt mit dem Ausschluss von Fragen der Sexualität aus der sXe-Szene zu tun, die sich auf eine fundamentalistische Interpretation des „Don’t Fuck“ zurückgezogen habe.
Das Wort Straight in Straight Edge enthält eben auch Konnotationen, die einer exklusiv heterosexuellen Erfahrungswelt entspringen. Nick Riotfag hält fest: „Schwule männliche sexuelle Kultur heißt ‚Gelegenheits-‘ oder Promiskuitätssex aus verschiedenen Gründen gut, von denen viele problematisch und andere politisch bewusster sind, nicht aber der heterosexuellen Eroberungskultur entstammen, die MacKaye und andere sXer kritisierten.“42
Manche haben daher einen unversöhnlichen Widerspruch zwischen einer queeren Punk-Identität und der Straight Edge-Bewegung behauptet. Bei Screeching Weasel heißt es im Song I Wanna Be A Homosexual: „Call me a butt loving fudge packing queer / I don’t care cause it’s the straight in straight edge / that makes me wanna drink beer.“43 Dennoch kann, wie Nick Riotfag betont, Straight Edge gerade auch als Ausgangspunkt für eine kritische Reflexion über spezifische Formen gesellschaftlicher Heteronormativität dienen. Die wichtige Rolle, die Alkohol und Drogen in vielen queer cultures spielen, verweise nämlich nicht nur auf die Tatsache, dass „die sozialen Unterdrückungsverhältnisse oft Gefühle der Depression, Angst, Einsamkeit, Scham und Selbst-Hass produzieren“, die mit Alkohol und Drogen leichter bewältigbar erscheinen. Auch zeigen sie auf, dass fast alle „Orte, an denen man sich sicher treffen kann, um Alkohol zentriert sind“.44 Straight Edge bedeute deshalb auch, „die Bedingungen der Unterdrückung zu zerstören, die Abstinenz für viele Queers so schwierig machen.“45

Lifestyle und/oder Politik?
Viele der Schattenseiten des sXe-HC haben sich seit den 80ern noch verstärkt. Im Zuge dessen ist bei vielen sXern die ursprüngliche Motivation des Straight Edge vollkommen aus dem Blick geraten: einen klaren Kopf zu haben – aber wofür? Eine Community, für die Abstinenz als Lebensstil zum Selbstzweck geworden ist? Jenseits von vagen Affirmationen von Unity und Youth gibt es hier keine politischen Perspektiven progressiver Veränderung mehr. Im schlimmsten Fall bleiben dann Maskulinismus, Gewalt, Intoleranz und Abstinenz-Moralismus in ärgster puritanischer Tradition. Sympathischer ist da schon jene lifestyle-Politik, die von der Vorstellung ausgeht, die Veränderung der eigenen Lebenspraxis sei für sich genommen bereits ein politisches Statement: die Summe individueller Entscheidungen würde sich zu kollektiver Veränderung zusammenfügen, die mehr Offenheit, Toleranz und positivity in der Szene und in der Gesellschaft insgesamt bringe. Good Clean Fun singen etwa: “This is the new revolution / we’re building a brand new society / It’s about time we find a solution / and not let it slip away / It’s time that we all work together / This little thing we call unity / has the power to make it all better / And that is why / We’ll all be on the streets / Saving the scene / From the forces of evil / Side by side, living our dreams / All the positive people”46.
Sicherlich ist das mit einer gehörigen Portion Augenzwinkern zu genießen, als gesellschaftspolitische Strategie klingt der unerschütterliche Optimismus des Posi-Core letztlich aber reichlich naiv. Dennoch gab und gibt es, wie Gabriel Kuhn betont, immer auch eine radikalere, politisch bewusste Straight Edge-Kultur, die ihre persönliche Entscheidung eines straighten Lebens als Ausgangspunkt grundsätzlicher gesellschaftlicher Veränderung begreift.

Red Edge
Interessanterweise etablierte sich vor allem außerhalb Nordamerikas eine viel politischere Straight Edge-Tradition, die stark mit linken Positionen verknüpft war und ist.47 Wegweisend war hier die holländische Band Lärm, die den politischen edge in Europa, aber auch in großen Teilen Lateinamerikas prägte.
Die Nachfolge-Band von Lärm, ManLiftingBanner versuchte wenig später, dezidiert einen straighten Lebensstil mit kommunistischen Ideen zu verbinden. Auf ihrem in Anspielung auf John Reeds Buch über die russische Revolution Ten Inches That Shook the World genannten Album mischten sie Zitate von Lenin, Trotzki und Luxemburg und die Hoffnung auf Revolution in ihre Songtexte:
“Sometimes I clench my fists / because the fight was waged / but the battle had been pitched / when I look at the past / I hold one dream / a new october 1917”48
In Skandinavien ist es Mitte der 90er Jahre die vegane Straight Edge-Band Refused, die mit ihrem musikalischen Projekt politische Ziele und einen Straight Edge-Lebensstil zusammenzudenken versuchte. Die Begegnung mit der depolitisierten HC-Szene in den USA war für Refused sichtlich verstörend: „Wir waren dort in einer Szene gefangen, die überhaupt nicht so war, wie unsere. Alles woran die interessiert waren, war die ‚Hardcore Szene‘ und ihre Politik ging niemals weiter als die Forderung, dass ‚alle miteinander auskommen sollen‘.“ Refused sahen dagegen Straight Edge als Basis für ihre politischen Ideen, die sie so explizit wie wenig andere in ihren Texten ausdrückten: “This union that made us powerless is talking over our heads / Claiming prosperity in a downward spiral plan / This power that made us unionless is taking out of our hands / Cheapest labour at our expensive cost, auctioned our lives away / Stuck by the deadly rhythm of the production line / We consume our lives like we are thankful / For what we are being forced into”49
Auch die Betonung eines individuellen Lebensstils wurde von den politischeren sXe-Bands immer kritisch betrachtet. Frederico Freitas von den brasilianischen Point of No Return merkt an: „Was mir klar scheint ist, dass Gesellschaftsveränderung niemals nur eine Frage von individueller Veränderung ist. Es gibt einige Ebenen der Gesellschaft, die auf größeren Strukturen beruhen, und die auch nur kollektiv angegangen werden können. Sonst ändert sich nichts. Eine liberale kapitalistische Gesellschaft hat ihren Platz für individuelle Außenseiter wie uns.”50
Trotz positiver Anknüpfungspunkte zu progressiven Inhalten innerhalb der Straight Edge-Tradition bleibt die Frage offen, inwieweit Politik und Straight Edge wirklich mit einander verbunden sind. Fast prototypisch sind die zwei Standpunkte von ehemaligen Mitgliedern von ManLiftingBanner. Für den ehemaligen Sänger und derzeitigen International Socialist Michiel Bakker waren kommunistische Politik und der dem Straight Edge inhärente Moralismus früher oder später nicht mehr vereinbar. „In einer revolutionären Organisation ist es wichtig, einen klaren Kopf zu behalten, das bedeutet aber nicht, ständig von Alkohol und Drogen Abstand nehmen zu müssen, wenn der Wunsch danach da ist. Es ist unmöglich ein reines Leben – was immer das auch heißt – innerhalb des Kapitalismus zu leben. Du bist Teil des Systems, sie hassen dich und wollen dich zerstören, und du kannst nicht 24 Stunden, 7 Tage die Woche als Revolutionär parat stehen.“ Allerdings streicht der jetzige Sänger von Seein‘ Red Paul van der Berg die destruktive Wirkung von Drogen in so vielen proletarischen Haushalten weltweit hervor. Zudem seien nicht wenige politische Bewegungen vom Staat im ‚War Against Drugs‘ aufgerieben worden.
Insofern stellt sich auch für politische Bewegungen die Frage nach einem bewussten Umgang mit (legalen wie illegalen) Drogen. Zum einen, weil informelle Diskussionen in politischen Zusammenhängen, die ohnehin demokratiepolitisch bedenklich sind, eben oft bei Bier und Tschick stattfinden und damit zusätzlich exkludierend sind. Zum anderen hat zum Beispiel die abendliche Degeneration der Audimax-Besetzung im letzten Jahr in eine wilde Party die Notwendigkeit aufgezeigt, die Rolle von Alkohol und Drogen in sozialen Bewegungen zu thematisieren und zu politisieren. Jedenfalls ist und bleibt ein klarer, nüchterner Kopf Voraussetzung der eigenen politischen Handlungsfähigkeit. Ob das die Entscheidung für oder gegen ein drogenfreies Leben impliziert, bleibt freilich jeder und jedem selbst überlassen.51 Schließlich sollte Straight Edge nichts mit Normierung, Kontrolle und Maßregelung individuellen Konsumverhaltens zu tun haben, sondern mit der Politisierung der sozialen Konsequenzen von Alkohol und Drogen – in der Punk/HCSzene, in Bewegungen, in der Gesellschaft.

Conclusio
Wahrscheinlich bringt es Frederico Freitas am besten auf den Punkt, wenn er meint, dass das Problem mit Straight Edge irgendwann dazu wurde, dass man nichts mehr außer sXe war. Die Frage, wofür der klare Kopf denn da sein sollte außer vagen Anrufungen an einen change, blieb oft unbeantwortet. Ob und wie politisch Straight Edge war, hing immer von der Politisierung des Kontexts und der jeweiligen Szene ab. Während die frühe Hardcore-Kultur durchwegs politisch war, ging mit deren Niedergang auch eine Depolitisierung der Straight Edge-Bewegung einher. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die politischsten HC-Bands in den USA in den 1990er Jahren eben nicht im CBGBs in New York zu finden waren, sondern in den Latino-Communities.52
So war die Betonung eines drogenfreien Lebensstils nie automatisch auch politisch progressiv. Allerdings stellte die ursprüngliche Öffnung der Szene einen wichtigen Schritt dar, um auch die Menschen aufnehmen zu können, die sich dem allgegenwärtigen Konsumzwang entziehen wollten. Die Hardcore-Szene und die damit verbundene Straight Edge-Bewegung waren und sind in erster Linie Ausdruck einer wütenden Jugend, die versuchte, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Die positiven Aspekte, wie Community-building, Rebellion und Veränderungswille, aber gerade auch das im Straight Edge geförderte Hinterfragen von eingefahrenen gesellschaftlichen wie szeneinternen Normen und Regeln, birgt dabei immer das Potential für weitere gesellschaftsverändernde Ansprüche und Perspektiven. Das letzte Wort behält deshalb ManLiftingBanner:
Commitment / Commitment / Commitment to Communism!53

Anmerkungen:
1 „Ich trink’ Milch / Ich trink’ Milch / Ich trink’ Mich / Ich trink’ Milch / Mich kümmert’s nicht, was andere denken / Ich trink’ Milch jeden Tag!“ Teen Idles: I drink milk, auf: Flex Your Head Compilation, Dischord 1982.
2 Kuhn, Gabriel: Straight Edge. Geschichte und Politik einer Bewegung, Münster 2010, S. 8.
3 „Ich bin so wie du / aber ich hab’ Besseres zu tun / als rumzusitzen und mich zuzudröhnen /mit lebenden Toten rumzuhängen / Ich denk’ nicht mal an Speed / das ist, was ich einfach nicht brauch’ / ich hab‘ straight edge […] werde immer klar sein / will niemals eine Krücke verwenden / Ich hab’ straight edge.“ Minor Threat: Straight Edge, auf: 7, Dischord 1981.
4 “(Ich) rauch‘ nicht / trink nicht / fick nicht / zumindest kann ich denken.” Minor Threat: Out of Step, auf Out of Step, Dischord 1983.
5 Minor Threat: Straight Edge, a.a.O.
6 „Du verstehst kein Wort von dem, was wir sagen, du hörst eh nicht zu!“ Big Boys: Fun, Fun, Fun, auf: Fun, Fun, Fun, Moment Productions 1982.
7 Keith Morris, Circle Jerks, in: American Hardcore (DVD), 2007.
8 Shawn Stern, Youth Brigade, in: Another State of Mind (VHS), 1984.
9 Keith Morris; in: American Hardcore (DVD).
10 Henry Rollins, Black Flag; in: American Hardcore (DVD).
11 Jello Biafra, in: Punk: Attitude, auf: Shout!, Factory 2005.
12 Titel des Debut Album von Wasted Youth, 1981 erschienen.
13 Henry Rollins, Black Flag, in: American Hardcore (DVD).
14 Henry Rollins, Black Flag, in: American Hardcore (DVD).
15 Vic Bondi, Articles of Faith, in: American Hardcore (DVD).
16 Shawn Stern, Youth Brigade, in: Another State of Mind (VHS).
17 „Schau das Sprudeln des Champagners / Die Kriminalitätsraten fallen, fühl’ dich wieder frei / Oh, das Leben ist ein Traum, Miss Lily White / Jane Fond ist heute wieder am Schirm / Die Liberalen überzeugt, dass es o.k. ist / Also werfen wir uns in Schale und tanzen dem Morgen entgegen / während sie / die Armen töten: Heut’ Nacht!“ Dead Kennedys: Kill the Poor, auf: Fresh Fruit For Rotting Vegetables, Alternative Tentacles 1980.
18 „Sie nehmen allen kids die Rechte weg.“ Black Flag: Police Story, auf: Damaged, SST 1981.
19 Pat Dubar, Uniform Choice, in: Stephen Blush: American Hardcore. A Tribal History. Port Townsend 2010.
20 Tote Bullen / Was werdet ihr machen / Mafia in Blau / Jagt Queers / Schwarze und dich.“ MDC: Dead Cops, auf: Millions of Dead Cops, Alternative Tentacles 1982.
21 „Sie hassen uns – wir hassen sie, wir können nicht gewinnen – auf keinen Fall.“ Black Flag: Police Story, a.a.O.
22 Winston Smith ist bekannt für die Gestaltung der Dead Kennedy Platten.
23 Rednecks (deutsch: „Rotnacken“) bezeichnet in abfälliger Weise ein spezifisches weißes und reaktionäres Milieu des Südstaaten-Proletariats der USA. Jocks ist ein Ausdruck für Sportler. Meist sind damit große, bullige Footballtypen gemeint, die gerne Angehörige so genannter Minderheiten verprügeln.
24 Ian MacKaye erzählt wie sie seinen kleinen Bruder oft scheinbar allein durch die Straßen gehen ließen, bis er angegriffen wurde. Die in der Nähe lauernden Punks griffen dann dementsprechend die Angreifer an. American Hardcore (DVD).
25 „Schau mich an, ich schau dich an / Was verdammt wirst du machen? / Ich fühl mich eingesperrt, tja, I will nur kämpfen / Durch die Probleme in der Nacht / Kämpfen / Hey, all ihr crunchcloths, wir sagen es alle / Kämpfen für den gemeinsamen Weg / Kämpfen zusammen, kämpfen als eins / Kämpfen für immer bis wir gewonnen haben / Kämpf (zusammen).“ Scream: Fight/American Justice, auf: Still Screaming, Dischord 1982.
26 Ian MacKaye; in: American Hardcore (DVD).
27 Ian MacKaye, zit. n. Gabriel Kuhn (Hg.): Sober Living For the Revolution. Hardcore, Punk, Straight Edge and Radical Politics, Oakland 2010, S. 27.
28 „Ronald lacht während Millionen verhungern / und Profite steigen / Deine stinkenden Furze während sie lachen / Sie sagen, sie versuchen zu gefallen / Plastikstühle und falsche Shakes / Damit alles zugrunde geht / Vergiften deine Kinder mit ihren Lügen / Und versuchen deinen Verstand zu zerstören.“ MDC: Corporate Deathburger, auf: Million of Dead Cops, a.a.O.
29 „Mir ist egal, was du denkst / Mir ist egal, was du sagst / I hab’ dir Nichts zu geben / Warum gehst du nicht einfach weg? / Ich hab’ keine Werte / nichts zu sagen / Ich hab’ keine Werte / Könnte dich genauso gut wegblasen / … Versuch’ nicht vorzutäuschen / und mir zu sagen, alles ist o.k. / Ich könnte anfangen, alles zu zerstören was ich sehe! / Keine Werte.“ Black Flag: No Values, auf: Jealous Again EP, SST 1980.
30 Jello Biafra; in: Punk: Attitude (DVD), 2011.
31 Ross Haenfler: Rethinking Subcultural Resistance. Core Values of the Straight Edge Movement, in: Journal of Contemporary Ethnography 33: 4 (2004), S. 406-436, S. 409.
32 Zit. n. Gabriel Kuhn: Straight Edge, a.a.O., S. 11.
33 Zit. n. Gabriel Kuhn: Straight Edge, a.a.O., S. 10.
34 American Hardcore (DVD)
35 Gabriel Kuhn: Straight Edge, a.a.O., S. 13.
36 Zit. n. Gabriel Kuhn: Straight Edge, a.a.O., S. 13.
37 Revolution Summer bezeichnet den Versuch von HC-Bands aus Washington D.C., aus den typischen hardcore-Mustern auszubrechen und neue politische und musikalische Wege – melodischer, abwechslungsreicher etc. – einzuschlagen. Wichtige Bands dafür waren v.a. jene des Dischord Labels: Rites of Spring, Embrace, Dag Nasty und Gray Matter.
38 Ray Cappo: A Time We’ll Remember (CD)
39 Ross Haenfler: Manhood in Contradiction. The Two Faces of Straight Edge, in: Men and Masculinities 7 (2004), S. 77-99, S. 88.
40 Zit. n. Beth Lahickey: All Ages. Reflections on Straight Edge, Huntington Beach 1997, S. 107f.
41 „Hey wir sind die kids / Wir sind da, um die Stimme zu erheben / Wir wir sind das verfickte Verstecken leid, wir werden es nicht mehr tun / Komm’ raus aus (comeing out of the closet ist eine Redewendung für outing) auf die Tanzfläche / Boy an Boy Kontakt, du weißt, das ist der Scheiß.“ Limp Wrist: Limp Wrist, auf: The Official Discography.
42 Nick Riotfag: My Edge Is Anything But Straight: Towards a Radical Queer Critique of Intoxication Culture, in: Gabriel Kuhn (Hg.): Sober Living for the Revolution, a.a.O., S. 203
43 „Nenn mich einen Arsch-liebenden Arschficker / Ist mir egal, weil es ist das straighte in Straight Edge / das mich dazu bringt, Bier trinken zu wollen“
44 Ebd., S. 204.
45 Ebd., S. 207.
46 „Das ist die neue Revolution / Wir bauen eine brandneue Gesellschaft / Es ist an der Zeit, dass wir eine Lösung finden / und sie nicht verpassen / Es ist an der Zeit, dass wir alle zusammenarbeiten / Dieses kleine Ding, das wir Gemeinschaft nennen / hat die Kraft, alles besser zu machen / Und deswegen/ Sind wir auf der Straße / Retten die Szene / vor den Kräften des Bösen / Unsere Träume Seite an Seite lebend / Alle positiven Menschen.“ Good Clean Fun: On The Streets Saving The Scene From The Forces Of Evil, auf: On The Streets Saving The Scene From The Forces Of Evil, Phyte Records, 2000.
47 Kurz erwähnen sollte man vielleicht, dass in den letzten Jahren auch eine rechtsradikale Strömung, v.a. in Deutschland entstand. Der tatsächliche Einfluss dieser Bands ist allerdings umstritten.
48 „Manchmal balle ich mein Fäuste / Weil der Kampf geführt wurde / Aber die Schlacht wurde geschlagen / Wenn ich in die Vergangenheit schau / Habe ich einen Traum / Ein neuer Oktober 1917.” ManLiftingBanner: New October, auf: Ten Inches that shook the world, Crucial Response 1992.
49 Diese Gewerkschaft/Einheit, die uns machtlos machte, redet über unsere Köpfe hinweg / Reichtum beanspruchend billigste Arbeit auf unsere hohen Kosten, unsere Leben versteigert / Gefangen vom tödlichen Rhythmus des Fließbands / Wir leben unser Leben als ob wir dankbar sind / Wozu wir gezwungen werden.“ Refused: Deadly Rhythm, auf: Songs to fan the flames of discontent, Victory 1994.
50 Frederico Freitas, zit. n. Gabriel Kuhn (Hg.): Sober Living For the Revolution, a.a.O., S. 89.
51 Selbst Lenin war, entgegen geläufiger Behauptungen, nicht vollkommen Straight Edge. Vgl. Carter Elwood: What Lenin Ate, in: Revolutionary Russia 20:2 (2007), S. 137-149.
52 Vgl. die Dokumentation von Sorrondeguy, Martin : Beyond The Screams. A US Latino Hardcore Punk Documentary, unter: http://video.google.com/videoplay?docid=5497590837696631389#
53 ManLiftingBanner: Commitment, Ten Inches…, a.a.O.





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