Rezension: Pun, Ngai/ Lee, Ching Kwan u.a.: Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China, Berlin/Hamburg:
Assoziation A 2010, 294 Seiten, € 18
Wer sich in der deutschsprachigen Linken für die Situation in China interessiert, dem oder der ist das Kollektiv FreundInnen von gongchao (chin. für: „Streik“, „Streikwelle“, oder auch „ArbeiterInnenbewegung“) möglicherweise bereits ein Begriff: Angefangen mit der im Dezember 2007 erschienenen Wildcat-Beilage Unruhen in China, über die Veröffentlichung des Buches dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarkfabriken erzählen von Pun Ngai und Li Wanwei bis hin zu verschiedenen Veranstaltungen und einer Website (http://www.gongchao.org) machen sie seit einigen Jahren Informationen über die vielfältigen Klassenauseinandersetzungen und insbesondere die Situation der WanderarbeiterInnen in der aufsteigenden Weltmacht auch hierzulande zugänglich. Mit Aufbruch der zweiten Generation erfährt dieses wichtige Projekt nun glücklicherweise eine weitere Fortsetzung und inhaltliche Vertiefung.
Am Ausgangspunkt des Buches steht eine paradoxe Situation: Zwar wird spätestens seit der massiven Streikwelle im Automobilsektor und anderen Branchen vom Frühjahr/Sommer 2010 mehr und mehr auch außerhalb Chinas wahrgenom men, dass sich die ArbeiterInnen in der „Werkbank der Welt“ im „Aufbruch“ befinden, doch bleiben die Konturen dieser sozialen Kämpfe allzu häufig unscharf. Aufbruch der zweiten Generation möchte dazu beitragen, dies zu ändern. „Wer sind diese ArbeiterInnen, die Forderungen stellen und wilde Streiks organisieren?“ und „[w]arum rebellieren sie (erst) jetzt?“ (7) sind daher so etwas wie die Leitfragen des Buches. Eine erste Antwort gibt die Fokussierung auf die WanderarbeiterInnen als die zentralen TrägerInnen der rasanten Entwicklung Chinas. Der Blick wird hier allerdings über die ArbeiterInnen in den Weltmarktfabriken hinaus, die in Diskussionen und Veröffentlichungen meist im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, ausgeweitet.
So untersucht der erste Teil des Buches, in dem sich kritische chinesische SozialwissenschaftlerInnen mit ethnografischen Methoden wie Interviews und teilnehmender Beobachtung in insgesamt sechs Beiträgen verschiedenen Arbeiterfiguren annähern, neben der Situation in Automobil- und Elektronikfabriken auch die Arbeitsbedingungen, Lebensrealitäten und Widerstandsformen von BauarbeiterInnen, LastenträgerInnen, Sexarbeiterinnen sowie Hausangestellten. Im Zuge der sehr anschaulichen und an den Alltagserfahrungen der ArbeiterInnen orientierten Schilderungen wird ersichtlich, was diese neuen Klassensubjekte über alle Differenzen hinaus verbindet: Es ist dies zum einen die zumeist vergeschlechtlichte Erfahrung unmenschlicher Arbeitsbedingungen, despotischer Kontrolle am und neben dem Arbeitsplatz sowie willkürlichen und häufig gewaltsamen Verhaltens von Vorgesetzen oder staatlichen Beamten. Zum anderen teilen diese ArbeiterInnen als Mitglieder einer zweiten, in den 2000er Jahren erwachsen gewordenen Generation von WanderarbeiterInnen jedoch auch ein Selbstbewusstsein, das die erste Generation der WanderarbeiterInnen in den 1980er und 1990er Jahren so noch nicht hatte. Dieses drückt sich u.a. aus im Anspruch, sich dauerhaft in der Stadt aufhalten, angemessen am produzierten Reichtum teilhaben und veränderte Geschlechterverhältnisse leben zu können, einer taktisch geprägten Auswahl bestimmter, vergleichsweise attraktiver Unternehmen oder Tätigkeiten, sowie einer größeren Bereitschaft zu offensiven und kollektiven Widerstandsformen. Es ist daher kein Zufall, dass es gerade diese zweite Generation ist, die sich „im Aufbruch“ befindet und vermehrt soziale Kämpfe führt.
Die sechs Beiträge zu den verschiedenen Arbeiterfiguren enthalten freilich auch immer wieder Hinweise darauf, warum es trotz dieser Gemeinsamkeiten bisher nicht zur Herausbildung einer breiteren ArbeiterInnenbewegung gekommen ist. Neben staatlicher Repression und vielfältigen Formen der Spaltung der ArbeiterInnen (z.B. entlang von Geschlecht, Herkunft oder Qualifikation) stellt dabei insbesondere die neoliberale Anrufung der LastenträgerInnen über Diskurse von Freiheit und Eigenverantwortlichkeit einen interessanten Fall dar, lassen sich doch ungeahnte Parallelen zur Diskussion hierzulande ziehen. Ebenfalls bekannt kommt einem die Subsumtion des Klassendiskurses zugunsten neoliberaler Ideologie und der entpolitisierten Rede von Schichten vor, die Pun Ngai und Chris King-Chi Chan in einem von drei Texten im zweiten Teil des Buches für China diagnostizieren. Mit diesem Beitrag, der Darstellung von Ching Kwan Lee zur Entwicklung des Arbeiteraufruhrs in China seit der maoistischen Periode sowie der Analyse des Verlaufs, der Hintergründe und der möglichen Folgen der bereits erwähnten Streikwelle vom Frühjahr/Sommer 2010 durch die FreundInnen von gongchao vermittelt dieser zweite Teil das Hintergrundwissen, um die konkreten Fallstudien von zuvor einordnen zu können. Positiv hervorzuheben ist hier v.a. der letztgenannte Text, gelingt es ihm doch beispielhaft, den Bogen von
der ganz konkreten Ebene der Streiks bis hin zu allgemeinen Überlegungen zur weiteren Entwicklung Chinas und den Perspektiven sozialer Kämpfe und linker Organisierung zu spannen.
Dass sich dies nicht gleichermaßen für alle der in Aufbruch der zweiten Generation versammelten Beiträge sagen lässt, verweist darauf, dass die Stärke des Buches zugleich seine – wenngleich geringfügige – Schwäche ist. Diese Ambivalenz, die von den FreundInnen von gongchao in ihrer Einleitung selbst reflektiert wird, speist sich zu einem großen Teil aus den maßgeblichen theoretischen Bezugspunkten der AutorInnen. In ihrer stark von E.P. Thompson und dem italienischen Operaismus geprägten Perspektive „von unten“ werden die konkreten Arbeits- und Lebensverhältnisse und mithin also die Alltags- und Kampferfahrungen der ArbeiterInnen nicht nur ungemein anschaulich gemacht, sondern auch als Ausgangspunkt für die Analyse von Prozessen der Klassen(neu)zusammensetzung verstanden. In Verbindung mit Michael Burawoys Analysen von Fabrikregimen und Konzepten aus der kritischen Geschlechterforschung ergibt sich so ein Blick auf die neuen Klassensubjekte, der gegen den oftmals vorherrschenden Opfer-Diskurs den Eigensinn und das Selbstbewusstsein der ArbeiterInnen betont, ohne auf diese zugleich überbordende politische Hoffnungen zu projizieren oder die Realität der Arbeitsbedingungen zu verharmlosen. Durch die Vielfalt der dargestellten Sektoren und Arbeiterfiguren wird zudem die Engführung auf die IndustriearbeiterInnen in den Weltmarktfabriken weitgehend vermieden. Gleichzeitig lassen die Texte in ihrer Perspektive „von unten“ teilweise das Interesse an der „anderen Seite“, sprich an den Interessen, Strategien und Taktiken des chinesischen und ausländischen Kapitals als politisch konstituierter Klasse vermissen. Dies ist insofern folgerichtig, als über die begriffliche Einordnung und politische Bewertung des chinesischen Staates weder für die Mao-Ära noch für die seit 1978 angebrochene Phase wirtschaftlicher Liberalisierung und Öffnung Einigkeit zu bestehen scheint. Um die von den FreundInnen von gongchao zu Recht diagnostizierte „(…) anklingende Verharmlosung der maoistischen Klassenherrschaft und die Einordnung der Analyse in die reformistische Konfliktlösungs- und Rechtsstaatsdebatte“ (17) zu überwinden und so politischstrategisch handlungsfähig(er) zu werden, bedarf es daher noch weitergehender staats- und klassentheoretischer Untersuchungen. Diese müssen freilich nicht notwendig nur in China selbst geleistet werden. Gerade weil sich angesichts einer globalisierten Ökonomie und dem geopolitischen Aufstieg Chinas hierzulande mehr und mehr die Frage nach den Möglichkeiten einer solidarischen Bezugnahme auf die Kämpfe der chinesischen (Wander-)ArbeiterInnen stellt, ist eine intensive Beschäftigung mit der Situation vor Ort dringend notwendig. Dafür stellt Aufbruch der zweiten Generation einen unverzichtbaren Baustein dar. Deshalb: Pflichtkauf!