Die Ereignisse rund um die Solidarnosc-Bewegung gelten als Wegbereiter für das Jahr 1989. Colin Barker zeichnet in seinem Artikel die Ereignisse in Polen Ende der 1970er Jahre nach und analysiert die Stärken, Schwächen und Widersprüche einer heterogenen Bewegung, die von unten begann und nach den Prinzipien der ArbeiterInnenräte aufgebaut war.1
Die Entstehung „Volkspolens“ geht auf das Ende des Zweiten Weltkriegs zurück. Bis zum Ende der 1970er Jahre war aus einem wirtschaftlich rückständigen, vorwiegend agrarisch geprägten Land die zehntgrößte Industriemacht der Welt geworden (mit dem weltweit achtgrößten Militärbudget). Die schnelle, staatlich gelenkte Entwicklung hatte große Fabriken und Industriestädte entstehen lassen. Die ArbeiterInnenklasse bildete nun die größte Klasse; zudem bestand sie zur Mehrheit nicht mehr aus ehemaligen Bauern, sondern aus einer gebildeten „zweiten Generation“. Diese ArbeiterInnenklasse hatte – in den Jahren 1956, 1970 und 1976 – mehrere einschneidende Erfahrungen im Kampf mit den Herrschenden gemacht und sollte zwischen Juli 1980 und Dezember 1981 die fortschrittlichste ArbeiterInnenbewegung der Nachkriegswelt hervorbringen. Ende der 1970er Jahre wurde „Volkspolen“ von einer Krise geplagt; es erlebte den bisher größten Zusammenbruch der Produktion aller Industrieländer der Nachkriegszeit. Als sich die ökonomische Krise verschärfte, versuchte das Regime unter Edward Gierek das Problem der Nahrungsmittelknappheit durch eine Verdoppelung des Rationierungssystems zu lösen: Neben den Geschäften mit staatlich kontrollierten Preisen, bei denen das Rationierungssystem von Warteschlangen dominiert war, entstand eine zweite Gruppe von Geschäften, bei denen die Rationierung über freie Marktpreise erfolgte. Am 1. Juli 1980 kündigte ein Sprecher der Regierung an, dass das qualitativ hochwertige Fleisch in Zukunft nur mehr in der zweiten Gruppe von Geschäften erhältlich sein würde. Diese Ankündigung war der Startschuss für eine Streikwelle, die während der folgenden sechs Wochen über den Großteil der polnischen Industrie hinweg rollte und ihren Höhepunkt Mitte August in den Küstenstädten Danzig, Gdingen und Stettin erreichte.
Streiks in den 1970er Jahren
Die Entstehung dieser Streikwelle hatte sich abgezeichnet. In den vorangegangenen vier Jahren hatten mindestens eintausend Streiks stattgefunden, vorwiegend in den größeren (und politisch bedeutenderen) „Flaggschiff“-Unternehmen, die den Stolz des industrialisierten Polens ausmachten. Straßenschlachten, die Inbrandsetzung von Parteigebäuden und schließlich Fabrikbesetzungen hatten eine Senkung der Preise erzwungen. Im Juni 1976 hatte das Regime erneut versucht, die Preise zu erhöhen: Streiks, Straßendemonstrationen und die Zerstörung der zentralen Eisenbahnverbindungen durch IndustriearbeiterInnen hatten neuerliche Zugeständnisse innerhalb von 24 Stunden erzwungen. 1980 war das Regime daher mit einer ArbeiterInnenklasse konfrontiert, die bereits ein gewisses Vertrauen in ihre Fähigkeit erlangt hatte, Konzessionen zu erringen.
Obwohl die Streikbewegung über kein koordinierendes Zentrum verfügte, hatten die ArbeiterInnen ein Informationsnetzwerk aufgebaut, mithilfe dessen sie Neuigkeiten über ihre Kämpfe verbreiteten. Daneben spielte auch eine Gruppe von „DissidentInnen“ eine wesentliche Rolle bei der Bekanntmachung der ArbeiterInnenbewegung: Das Komitee zur Verteidigung der ArbeiterInnen (KOR), welches sich ursprünglich im Jahr 1976 mit dem Ziel gegründet hatte, Hilfe für entlassene ArbeiterInnen zu organisieren, zog kleine Zirkel von Militanten aus der ArbeiterInnenklasse an. Gemeinsam produzierten und verteilten sie Bulletins mit Namen wie „ArbeiterIn“, „KüstenarbeiterIn“ usw.. Das KOR und andere Zusammenhänge waren wichtige Fokuspunkte für die Entwicklung von Führungsfiguren an der Basis, die in den sich bald entfaltenden Ereignissen eine fundamentale Rolle spielen sollten.
Explosion in Danzig
Im August 1980 wurde in Danzig eine Aktivistin der Gruppe „KüstenarbeiterIn“, die 50-jährige Kranführerin Anna Walentynowicz, vom Management der riesigen Lenin-Werft fristlos entlassen. Daraufhin schmuggelte die Gruppe am nächsten Morgen handgeschriebene Flugblätter und Transparente in die Werft und in einige andere Betriebe. Die ArbeiterInnen legten in ihren Abteilungen die Arbeit nieder und marschierten durch die Werft, um den Rest der Belegschaft zum Streik aufzurufen. Am Ende des Vormittags des 14. August wurde in einer Massenversammlung mit dem Werftmanager diskutiert. Lech Walesa, ein Mitglied der Gruppe, der selber von der Werft gefeuert worden war, präsentierte sich der Menge und rief den Beginn eines Besetzungsstreiks aus.
Der Streik weitete sich rasch auf andere örtliche Betriebe aus. Delegierte dieser Betriebe, darunter jene der Pariser-Kommune-Werft im benachbarten Gdingen sowie die StraßenbahnfahrerInnen der Stadt, versammelten sich in der Lenin-Werft. Ein neues Organ wurde gebildet: das „Überbetriebliche Streikkomitee“ (MKS), welches Delegierte aus allen streikenden Betrieben der Region umfasste. Das MKS formulierte die Liste der sogenannten „21 Forderungen“. Diese Liste beschränkte sich nicht länger auf unmittelbare, lokale Angelegenheiten, sondern beinhaltete als ersten Punkt die Forderung nach neuen, unabhängigen Gewerkschaften. Daneben wurden auch eine Lockerung der Zensur, neue Rechte für die Kirche, die Freilassung politischer Gefangener sowie Verbesserungen im Gesundheitswesen gefordert.
Innerhalb weniger Tage waren mehr als 250 Betriebe im Danziger Komitee vertreten. Solidarnosc, ein Nachrichtenblatt, das mit Unterstützung von Mitgliedern des KOR in der Druckerpresse der Werft produziert wurde, erreichte eine Auflage von 30.000 Stück täglich. Die Behörden schnitten Danzig von jedem telefonischen Kontakt mit dem Rest Polens ab. Dennoch verbreiteten sich die Neuigkeiten über die neue Danziger Organisation und die neuen Forderungen schnell. Daraufhin wurden weitere MKS gebildet, unter anderem in Stettin, das bereits 1971 Schauplatz einer Massenbesetzung der dortigen Werft gewesen war.
Zu Beginn weigerte sich das Regime, die neuen Arbeiter-Innenkomitees anzuerkennen. Stattdessen verfolgte es die Strategie des Teilens und Herrschens, indem es versuchte, mit einem Betrieb nach dem anderen in jeweils getrennte Verhandlungen zu treten. Doch die überbetrieblichen Streikkomitees hielten zusammen und das Regime war gezwungen, direkten Gesprächen mit dem Danziger und Stettiner MKS zuzustimmen. Am 30. bzw. 31. August unterzeichneten Regierungsminister in Stettin und Danzig Dokumente, in denen das Regime den „21 Forderungen“ stattgab.
Sowjets in Polen?
Die Bewegung basierte auf einer enormen Welle an Betriebsbesetzungen. Jeder streikende Betrieb sendete eine/n Delegierte/n an das lokale MKS. Die Delegierten wählten ein internes Exekutivkomitee, das unter ihrer unmittelbaren Kontrolle stand. Die maßgeblichen Verhandlungen mit dem Staat wurden mit Hilfe von Lautsprecheranlagen in der gesamten Werft übertragen, so dass tausende ArbeiterInnen den Verhandlungen folgen und die erzielten Fortschritte beurteilen konnten. Die Delegierten kehrten überdies mit Tonbandaufnahmen der Verhandlungen des jeweiligen Tages in ihre Betriebe zurück, um Bericht zu erstatten und ihre Mandate zu erneuern.
Das MKS war ein Streikkomitee mit Delegierten aus besetzten Betrieben, unabhängig vom jeweiligen Gewerbe- oder Industriezweig, das sowohl politische als auch ökonomische Forderungen formulierte und für diese kämpfte. Darüber hinaus begann es, die Kontrolle über Bereiche der Produktion und des Vertriebs zu übernehmen. Diese improvisierte Form zur Bewältigung der konkreten Probleme im Arbeitskampf war nicht zuletzt die organisatorische Lehre der zum Teil bitteren Erfahrungen vorangegangener Kämpfe und ein immenser Fortschritt gegenüber früheren Formen der Selbstorganisation. Obwohl sie es nicht wussten, erschufen die polnischen ArbeiterInnen, aus der Logik ihrer eigenen Erfahrung heraus, damit jene Organisationsform neu, die erstmals im Jahr 1905 von russischen ArbeiterInnen angewandt worden war – den ArbeiterInnenrat.
Derartige Klassenorganisationen haben das Potential, sich zu Organen revolutionärer Macht zu entwickeln und zur Grundlage einer neuen Gesellschaftsordnung zu werden. Dieses Potential wird jedoch nicht automatisch realisiert – um sich in diese Richtung entwickeln zu können, hätte es den Mitgliedern des MKS möglich sein müssen, dieses Potential zu erkennen. In Polen existierte 1980 jedoch weder innerhalb noch außerhalb des MKS eine bedeutende Kraft, die diese Position vertreten hätte. Stattdessen schränkte das MKS seine eigenen Ansprüche von Beginn an bewusst ein. Etliche intellektuelle „BeraterInnen“ wurden in den Kreis rund um die MKS-Führung inkorporiert. Ihre Rolle bestand vorwiegend darin, als BefürworterInnen eines Kompromisses zu agieren. Auch von der Kirchenoberen wurde Mäßigung gepredigt: Am Höhepunkt der Streiks hielt Kardinal Wyszynski eine per Rundfunk übertragene Predigt, in der er de facto zum Ende der Besetzungen aufrief. Freilich können nicht alle Tendenzen zur Mäßigung auf den Einfluss der Warschauer Intelligenzija oder der Kirche zurückgeführt werden: Wenngleich die angewandte Organisationsform potentiell revolutionär war, so war es der Inhalt der Forderungen nicht. Was die ArbeiterInnen anstrebten – und auch eindrucksvoll errangen –, war vor allem das Recht, ihre eigene unabhängige Gewerkschaft zu gründen. Das Recht dazu war in den ersten der „21 Forderungen“ enthalten, denen das Regime zustimmte; das schriftliche Abkommen bedeutete aber zugleich auch, dass die ArbeiterInnen mit der Anerkennung der „führenden Rolle der Partei“ das Fortbestehen und die Rechtmäßigkeit der Herrschenden akzeptierten.
Nichtsdestotrotz ließ der Sieg der ArbeiterInnen explosive Widersprüche entstehen.
Aufstieg und Orgie
Drei Wochen nach dem Danziger Abkommen trafen sich die Delegierten der verschiedenen überbetrieblichen Streikkomitees zu ihrer ersten landesweiten Versammlung. Sie nannten ihre neue Gewerkschaft NSZZ „Solidarnosc“ (Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft „Solidarität“). Bis zum Spätherbst waren etwa zehn Millionen Mitglieder registriert. Das waren etwa 80 Prozent der gesamten polnischen Beschäftigten. Das Herzstück der neuen Gewerkschaft wurde von den großen Industriebetrieben gebildet, in denen gewöhnlich gelernte ArbeiterInnen die Führungsrollen übernahmen. Aber die Anziehungskraft ging weit darüber hinaus und erfasste unaufhaltsam auch kleine Handwerksbetriebe, Lebensmittelgeschäfte, Büros, Kaffeehäuser sowie einfache Staatsangestellte.
Solidarnosc veränderte auch ihre Mitglieder. Alleine die Teilnahme an einer Gründungsversammlung, in vielen Fällen gegen den Widerstand der lokalen Bosse, beinhaltete einen Bruch mit den alten Gewohnheiten der Ehrerbietung und Unterwerfung. Neue Banden der Solidarität wurden geknüpft und ein neues Gefühl der Stärke geschaffen. Das Danziger Abkommen beendete die Kämpfe zwischen den ArbeiterInnen und dem Regime keineswegs, es ebnete lediglich den Weg für eine Flut an neuen Forderungen aus dem Volk sowie für schwere regionale und nationale Konflikte. Die Solidarnosc-Bewegung schwoll in den sieben Monaten nach der Unterzeichnung des Abkommens im August weiter an.
Als Solidarnosc immer größer wurde, erweiterte sich nicht nur der Horizont der Mitglieder, sondern es dehnten sich auch ihre Forderungen aus. Mit der polnischen Sehnsucht nach nationaler Unabhängigkeit traf Solidarnosc einen wunden Punkt; sie errang für die Kirche das Recht, wöchentlich Messen über den Rundfunk auszustrahlen; sie warf die Fragen der politischen und bürgerlichen Freiheiten, der Demokratisierung der Gesellschaft und des Platzes des polnischen Staates in internationalen Militärbündnissen auf. So versammelte sie alle Arten von unterdrückten und ausgebeuteten Gruppen der polnischen Gesellschaft unter ihrem Banner.
Die Studierenden waren unter den Ersten, die Teil der Bewegung wurden. Im Herbst 1980 fanden Besetzungen durch Studierende statt und es kam zur Bildung – und offiziellen Anerkennung – von neuen, unabhängigen und selbstverwalteten Studierendengewerkschaften: der „Studierenden-Solidarnosc“. Unter den Bauern trugen vorangegangene, sporadische Unruhen in Form einer Serie von Forderungen nach einer „Bauern-Solidarnosc“ Früchte. In den meisten Gefängnissen Polens gründeten Strafgefangene ihre eigenen Komitees. Sie agitierten und demonstrierten für bessere Haftbedingungen – meist gemeinsam mit Solidarnosc-Mitgliedern, die sich außerhalb der Gefängnismauern versammelten. Und auch zahlreiche andere Bewegungen und Organisationen wurden im Stillen durch den von Solidarnosc ausgehenden Impuls verändert: MieterInnen, KleingärtnerInnen, ÖkologInnen, BriefmarkensammlerInnen, JournalistInnen, KünstlerInnen, SchauspielerInnen, AutorInnen. Überall schossen selbstverwaltete, unabhängige Gewerkschaften aus dem Boden. Die polnische Gesellschaft feierte eine Orgie der selbstverwalteten Partizipation.
Doppelherrschaft
In Wirklichkeit zeichnete sich in Polen eine Situation der „Doppelherrschaft“ ab. Auf der einen Seite stand das Regime, welches noch immer an den Hebeln der offiziellen ökonomischen und politischen Macht saß und den Repressionsapparat – die Sicherheitspolizei und insbesondere die Armee – fest in der Hand hatte. Doch die herkömmlichen Kontrollmechanismen über die Bevölkerung brachen rasant zusammen. Dem gegenüber stand Solidarnosc mit einem permanent wachsenden Selbstbewusstsein und basierend auf dem riesigen, regional verankerten Delegiertenkörper, aus dem die ArbeiterInnengewerkschaft bestand.
Für die herrschende Klasse war jede Art eines langfristigen Übereinkommens mit Solidarnosc undenkbar. Die ökonomische Krise vertiefte sich ständig und ihre Lösung in akzeptablem Rahmen musste die Re-Disziplinierung und erneute Unterwerfung der ArbeiterInnenschaft beinhalten. Für Solidarnosc galt: Falls das volle Potential und die Träume ihrer Mitglieder realisiert werden sollten, falls das Prinzip der Selbstorganisierung, das diese expansive Bewegung antrieb, zur wirklichen Grundlage des polnischen Alltags werden sollte, so musste der existierende Staat beiseite geschoben werden. Denn zwei fundamental unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Ordnung standen im Konflikt zueinander und wurden in zwei sich entgegengesetzten Kräften manifestiert. Die Logik dieser Situation besagte, dass eine Seite die andere zerstören musste, egal welche Mittel zur Erreichung dieses Ziels geeignet schienen.
Die Situation war jedoch auch davon geprägt, dass sich noch keine Seite in der Lage befand, sofort einen Sieg erringen zu können. Die Maschinerie der Herrschenden war ernsthaft geschwächt und konnte daher ihre Ziele in der unmittelbaren Zukunft nicht erreichen. Auf der Seite der ArbeiterInnen war die dominante Vorstellung, dass man nicht versuchen sollte, den Gegner zu vernichten. Die FührerInnen der Bewegung und ihre BeraterInnen hatten sich einer politischen Perspektive verpflichtet, deren zentrale Aussage war: Geht nicht zu weit! Die Selbstzuschreibung als Gewerkschaft war für den wahren Charakter der Bewegung viel zu limitiert, es wurde jedoch auch kein brauchbares alternatives Konzept entwickelt. Die Bewegung befand sich nach einem halben Jahr noch immer in der Offensive und trieb die Herrschenden weiter vor sich her. Doch schon bald sollte sie ihre erste ernsthafte Krise erfahren.
Krise in Bromberg
Im März brach in der Stadt Bromberg eine massive Krise aus. Mitglieder von Solidarnosc, die für die Unterstützung der Kampagne zur Legalisierung der Bauern-Solidarnosc ein Büro besetzt hielten, gingen zur Präfektur, um mit Partei-RepräsentantInnen zu verhandeln. Einige hundert PolizistInnen stürmten den Raum und verprügelten systematisch Solidarnosc-Mitglieder, zu denen auch Jan Rulewski, ein nationaler Gewerkschaftsführer, zählte. Dies war das erste Mal, dass gegen die Gewerkschaft offene Gewalt eingesetzt wurde. Eine halbe Millionen ArbeiterInnen in der gesamten Region von Bromberg traten daraufhin in den Streik.
Als am 23. März ein 300-köpfiges nationales Delegiertentreffen stattfand, war der Druck der Basis bereits überwältigend. Einem äußerst erfolgreichen vierstündigen nationalen Streik folgten – für den Fall, dass die Forderungen der Gewerkschaft nicht erfüllt würden – die Vorbereitungen zu einem unbefristeten Generalstreik am 31. März.
Die Atmosphäre in Polen war aufgeladen, als sich beide
Seiten auf eine entscheidende Konfrontation vorbereiteten.
In allen Regionen wurden in den größten Fabriken Streikhauptquartiere
eingerichtet und mit Barrikaden befestigt.
Der Premierminister, Jaruzelski, wandte sich um Unterstützung an die Kirche. Kardinal Wyszynski und der Papst riefen zur Zurückhaltung auf. Bei einem einstündigen privaten Treffen mit dem Kardinal und, noch wichtiger, durch die „Berater“ der Kirche in der Gewerkschaftsführung, wurde auf Lech Walesa direkter Druck ausgeübt. Noch im letzten Moment [vor dem Generalstreik, Anm. d. Ü.] verhandelte Walesa zusammen mit einer Handvoll Mitglieder des Gewerkschaftskoordinationskomitees und einigen „BeraterInnen“ im Geheimen mit dem Regime. Schließlich erschien er im Fernsehen, um die Absage des Streiks zu verkünden.
Solidarnosc in der Krise
Die plötzliche Absage des Generalstreiks war ein ernsthafter Rückschlag. Nach ihrem fulminanten Aufstieg war die ArbeiterInnenbewegung mit dem ersten Hindernis konfrontiert. In der Folgezeit kam es zu einer beträchtlichen Demobilisierung der Solidarnosc-Basis, so dass in den nächsten drei Monaten kein Streik in Polen stattfand. Zwar war das Bromberg-Debakel nicht die finale Krise von Solidarnosc, es markierte jedoch das Ende ihrer ersten Entwicklungsphase: Sie musste sich in eine neue Richtung bewegen. Die folgenden Monate waren von wachsender Verwirrung geprägt. Unter den verschiedenen Strömungen und Bewegungen, die innerhalb von Solidarnosc miteinander interagierten, lassen sich grob einige Positionen identifizieren.
Mäßigung und Bürokratisierung
Die dominante Orientierung der Solidarnosc-Führung kann als „gemäßigt“ bezeichnet werden. Sie wollten die Vereinbarungen vom August 1980 als Grundlage einer permanenten Beziehung mit dem Regime nutzen: Solidarnosc würde der Regierung partielle Legitimität zusprechen und sie als „Partner“ in einem gemeinsamen Projekt zur Reform der polnischen Gesellschaft anerkennen.
Die mäßigenden Ideen wurden unterstützt durch einen Kreis von „BeraterInnen“, die als Transmissionsriemen fungierten. Ein Kreis der Warschauer Intelligenzija – ehemalige Parteimitglieder, katholische Intellektuellenzirkel, Mitglieder des KOR – war direkt im Entscheidungsgremium der Gewerkschaft vertreten.
Der Eintritt der „BeraterInnen“ in Solidarnosc erfolgte bereits zu Beginn in Danzig.2 Die Delegation der Warschauer Intelligenzija brachte zur Werft neben „Solidaritätsgrüßen“ auch „Ratschläge“ bezüglich der Vorgehensweise bei Verhandlungen mit. So akzeptierten die MKS-FührerInnen den Rat der „ExpertInnen“, die Losung der „führenden Rolle der Partei“ anzuerkennen, so dass diese ohne eine Abstimmung der Delegierten in der endgültigen Vereinbarung verankert wurde. Mit der stärker werdenden Rolle der „BeraterInnen“ in den Danzig-Verhandlungen war somit verbunden, dass die demokratische Arbeitsweise des MKS nachließ: Treffen zwischen der Exekutive und Basis des MKS wurden unregelmäßiger und grundlegende Fragen wurden den Delegierten nicht mehr zur Abstimmung gereicht.3
Mittels der „BeraterInnen“ hatte die Intelligenzija einen starken Einfluss auf die interne Politik von Solidarnosc. Sie repräsentierten, ob innerhalb oder außerhalb der Partei, eine Mischung aus Katholizismus, Nationalismus und Liberalismus. Was sie jedoch nie repräsentierten – viele standen dieser sogar mit offener Feindseligkeit entgegen – war jegliche Tradition von sozialistischer Politik und ArbeiterInnen-Internationalismus. Stattdessen säten sie Illusionen der „nationalen Einheit“ und „rationalen Lösungen“ und verdeckten damit Klassenantagonismen sowie die Notwendigkeit des Kampfes um die ArbeiterInnenmacht.
Das Streben nach einer moderaten Strategie erforderte, dass die FührerInnen die Bewegung zurückhielten und Initiativen von unten vereitelten, welche die Entwicklung eines langfristigen Kompromisses gefährdet hätten. Auch wenn alle Intellektuellen allgemein darin übereinstimmten, dass eine „Selbstbegrenzung“ notwendig war, so bedeutete dies nicht, dass sie eine homogene Gruppe bildeten. Die Mitglieder des KOR waren beispielsweise meist weit radikaler als die BeraterInnen der Kirche und offener für radikale Impulse von der Basis. Vor allem waren sie diejenigen, die hinaus gingen, um mit den Mitgliedern zu reden.
„Radikalere“ Strömungen
Die gemäßigte Führung von Solidarnosc war jedoch nicht unangefochten. Vor allem nach den Ereignissen in Bromberg traten zahlreiche „radikalere“ Strömungen innerhalb der Gewerkschaft auf, die es jedoch nie schafften als organisierte Fraktionen alternative Strategien zu formulieren. Vielmehr reagierten sie häufig unkoordiniert und moralisierend. Einige entwickelten sich als lokale Cliquen, die sich mehr auf Basis persönlicher Vorlieben und Abneigungen denn ausgearbeiteter politischer Differenzen zusammengefunden hatten.
Auch wenn die radikaleren AktivistInnen diejenigen waren, die am stärksten gegen die Rolle der „ExpertInnen“ und „BeraterInnen“ auftraten, so wurde diese Haltung häufig in ein generelles Misstrauen gegenüber jeglicher Ideologie und Theorie übersetzt. Der französische Soziologe Alain Touraine verwies in seiner Studie über die Solidarnosc-Mitglieder auf ein starkes Gefühl des Zorns und Misstrauens gegenüber der polnischen Gesellschaftsordnung und dem regierenden Regime. Wie er jedoch ergänzte, verblieb das weit verbreitete Verlangen nach radikalem Wandel in der Form einer „inneren Sprache“ und wurde nie in eine politische Strategie transformiert.4
Die Abwesenheit einer klaren oppositionellen Strömung beeinflusste einige andere potentiell erfolgversprechende Entwicklungen in Solidarnosc. Eine davon war die „Bewegung für Selbstverwaltung“.
Solidarnoscs Aufmerksamkeit richtete sich primär auf den Kampf um Anerkennung und die Vielzahl an unmittelbaren Herausforderungen, welche sich in der Auseinandersetzung mit dem Regime stellten. Selbstverwaltung spielte somit für die Monate nach August kaum eine Rolle.
Allerdings konnte die Frage nach der „ArbeiterInnenkontrolle“ nicht einfach umgangen werden. Es wurde immer offensichtlicher, dass die Selbstlimitierung auf eine „Gewerkschaft“ nicht haltbar war. Mit jeder Schlacht trieben die Mitglieder die von ihnen mit der Bewegung verbundenen Hoffnungen weiter über die bisherigen Grenzen hinaus. Das Ausmaß der ökonomischen Krise führte dazu, dass die klassischen Gewerkschaftsforderungen – höherer Lohn, kürzere Arbeitszeiten, bessere Arbeitsbedingungen – nur der Regime-Propaganda in die Hände spielten, derzufolge die Gewerkschaft ökonomische Reformen verhindere. Solidarnosc-Mitglieder verspürten das wachsende Bedürfnis nach Gegenargumenten und einem Forderungskatalog, mit dem man die eigene Position in den Betrieben weiter verbessern konnte.
Wiederaufkeimende Konflikte
Die ökonomische Krise vertiefte sich im Frühling und Sommer 1981. Die Verknappung von Rohmaterialien und Bauteilen traf die industrielle Produktion schwer, und die Versorgung mit alltäglichen Waren wie Fleisch, Seife und Toilettenpapier verschlechterte sich zunehmend. Diese Situation führte im Sommer zu einem erneuten Ausbruch von Protesten. Diesmal jedoch handelte es sich vorwiegend um „wilde“ Aktionen, so dass die Reaktion der Solidarnosc-Führung kühl und in einigen Fällen sogar feindselig ausfiel. Als das Regime Solidarnosc vorwarf, die Wirtschaft zu sabotieren, rief die Führung zu einem zweimonatigen Streik-Moratorium auf.
Ein Charakteristikum der Streiks im Sommer und Herbst war, dass neue Teile der Solidarnosc-Mitglieder zum ersten Mal an autonomen Aktivitäten beteiligt waren: Flughafenpersonal, DruckerInnen, weibliche Arbeiterinnen, Hausfrauen und andere. Aufgrund der ausweglosen ökonomischen Umstände und der wachsenden Frustration mit dem Regime versuchten zuvor „rückschrittliche“ Teile von Solidarnosc die Bewegung weiter zu treiben. Alle möglichen Belange waren Inhalt der Streiks: Essensversorgung, der Kampf gegen die Rolle der Partei in den Betrieben, die lokale Macht von ManagerInnen, Exportpolitik, Zensur, usw. Implizit und explizit repräsentierten die Aktionen einen Aufruf an Solidarnosc, endlich zu handeln. Jedoch wurde die Verzweiflung und massive Wut ganzer Sektionen der Gewerkschaftsmitglieder von der Führung nicht aufgegriffen.
All diese Dynamiken von unten blieben fragmentiert und isoliert. Kein Teil der Führung versuchte sie zu verbinden und aufzuzeigen, wie ein neuer vereinter Angriff gegen das Regime ausschauen könnte. Letztendlich starb die Streikbewegung Mitte November ab: Die Mitglieder waren zunehmend ausgebrannt und wandten sich enttäuscht von der Gewerkschaft ab.
Rückgriff auf die Armee
Trotzdem war für das Regime seit dem Sommer klar, dass Solidarnosc mit rein politischen Mitteln nicht besiegt werden konnte. Die Partei – das zentrale politische Werkzeug des Regimes – hatte bis dahin ihre Unfähigkeit demonstriert. Deshalb wandten sich Polens Herrschende zu ihrer Rettung an die Armee.
Um auszutesten, inwieweit die Gewerkschaft bereit war, sich zu wehren, begann das Regime offene Maßnahmen gegen Solidarnosc-AktivistInnen durchzuführen. Einzelne Festnahmen waren nun nicht mehr Signale für Massenstreiks, sondern führten nur vereinzelt zu lokalen Protestmaßnahmen. Kleine Armee-Einheiten wurden mit dem Argument, bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise zu helfen, auf das Land und in kleinere Dörfer geschickt. Die Gewerkschaft reagierte auf die Vorkommnisse nicht. Im November wurden dann bereits ähnliche Einheiten in die Fabriken geschickt um „die zivilen Verteidigungsvorbereitungen zu prüfen…“.
Solidarnosc’ Hinwendung zur Politik
Die Führung von Solidarnosc war gespalten und unsicher, wie auf die wachsende Gefahr zu reagieren sei. Als die Streiks Mitte November aufgrund der Erschöpfung und Enttäuschung größtenteils beendet wurden, verfielen viele ArbeiterInnen in wütende Apathie. Einige beschuldigten sogar – der Regimepropaganda folgend – die Gewerkschaft, für das wirtschaftliche Schlamassel verantwortlich zu sein.5
Die paradoxe Selbstlimitierung der Solidarnosc sich nicht in die „Politik“ einmischen zu wollen, verleugnete die eigene Rolle bereits in der Entstehung. Mit der aufkommenden Krise und dem Gefühl einer zunehmenden Lähmung begannen einige AktivistInnen, nach offenen politischen Lösungen zu suchen. Ein Teil bewegte sich hin zu einer rein nationalistischen Politik, andere suchten ihr Heil in der Gründung politischer Parteien. Vor allem letzteres stellte einen weiteren Bruch mit der früheren Selbstlimitierung dar. Jedoch betrachteten all diese Initiativen „Politik“ als etwas, das sich außerhalb von Solidarnosc befand und sich auf ein spezielles „politisches“ Handlungsfeld beschränke. Nirgends wurde darunter die direkte Mobilisierung der Stärke der polnischen ArbeiterInnen als Teil eines politischen Programms verstanden. Deshalb blieb die Hinwendung zur „Politik“ auch das Handlungsfeld einiger weniger interessierter AktivistInnen; die Basis war daran nicht beteiligt.
Die „Lublin“-Gruppe
In diesem Sinne waren Entwicklungen innerhalb der Bewegung für Selbstverwaltung sehr viel erfolgversprechender. Bereits im Sommer hatten militante Gruppen ihre Unzufriedenheit mit dem moderaten „Netzwerk“6 ausgedrückt und die rivalisierende „Lublin“-Gruppe gegründet. Diese betonte die Notwendigkeit der ArbeiterInnenkontrolle. Vor allem waren sie in Bezug auf rein legislative Mittel skeptisch und interpretierten Selbstverwaltungsorgane im aktivistischen Sinne als „Organisationen des Kampfes zur Selbstverwaltung und Instanzen zur Kontrolle über die Produktion“. Sie begannen für „aktive Streiks“ zu argumentieren, in welchen die Produktion unter Kontrolle der ArbeiterInnen und im Interesse populärer Bedürfnisse weitergeführt werden sollte.7
Die „Lublin-Gruppe“ war der Beweis für eine zunehmend radikale Strömung innerhalb der ArbeiterInnenbewegung. Jedoch steckte sie noch im Diskussionsstadium und entwickelte sich viel zu spät, so dass sie nie die Möglichkeit hatte, ihre Vorstellungen in die Praxis umzusetzen.
Die letzten Tage
Ende November wurde offensichtlich, dass eine zentrale Auseinandersetzung bevorstand. Das Regime trieb eine Notstandsgesetzgebung voran und verlagerte Armee-Einheiten in die industriellen Zentren.
Anfang Dezember verschärfte das Regime plötzlich die Gangart. Generell hatten die ArbeiterInnenkämpfe abgenommen, allerdings waren beispielsweise die Studierenden in einer Reihe von Besetzungen involviert. Die Warschauer Feuerwehr-Schule – eine der besetzten Universitäten – wurde am 2. Dezember von einigen hundert BereitschaftspolizistInnen gestürmt.
Diese Krise zwang die Solidarnosc-Führung endlich, wenn auch verspätet, zur Übernahme einer radikaleren Perspektive. Am 12. Dezember, inmitten der radikalsten Stimmung seit Bromberg, traf sich die nationale Kommission der Gewerkschaft in Danzig. Die Delegierten stimmten dafür, sich der Notstandsgesetzgebung mit Streiks sowie einem Generalstreik zu widersetzen. Weiters sollte ein eigenes Vertrauensvotum über die Regierung abgehalten werden. Erneut riet die Kirche von einem solchen Schritt ab.
Die linke Kehrtwende der Gewerkschaftsführung kam jedoch zu spät. Als die Mitglieder der nationalen Kommission in ihrem Hotel schliefen, schlug das Regime zu. Das Hotel wurde von BereitschaftspolizistInnen gestürmt, die Delegierten verhaftet und inhaftiert. Im ganzen Land wurden tausende AktivistInnen aus ihren Betten gezerrt und abgeführt. Premierminister Jaruzelski verkündete um 6 Uhr früh seinen Militärputsch, die Auflösung von Solidarnosc und das Kriegsrecht.
Kardinal Glemp rief über den Rundfunk die Bevölkerung dazu auf, nicht zurück zu schlagen. Die Reaktionen der ArbeiterInnen vielen sehr unterschiedlich aus. Es gab vor allem in den größten Betrieben und den schlesischen Kohleminen einige hundert Streiks und Besetzungen. Doch nach wenigen Tagen war der Widerstand durch brutale Polizei- und Armeeinterventionen gebrochen.
Konsequenzen der Niederlage
Die Niederlage von Solidarnosc hatte weitreichende Konsequenzen. Die Entscheidung des Regimes, sich für die Niederschlagung von Solidarnosc der bloßen militärischen Macht zu bedienen, erwies sich für den „Kommunismus“ als schicksalhaft. Indem Jaruzelski und seine Kollaborateure ganz auf politische Vermittlung und die Partei verzichteten, bereiteten sie den Weg in Richtung 1989. Gleichzeitig, obwohl sie nie endgültig zerschlagen wurde, nahm die Verankerung von Solidarnosc in der ArbeiterInnenklasse immer weiter ab. Zunehmend eine Bewegung der Intelligenzija, gab sie ihre Träume von einer ökonomischen Selbstverwaltung zugunsten des Neoliberalismus auf. In diesem Sinne half sie, die „rein politische“ Revolution von 1989 in den Ostblock-Ländern mitzuformen, und bot dem liberalen Triumphalismus eines Fukuyama und anderer Schützenhilfe.
Colin Barker ist britischer Marxist, Mitglied der Socialist Workers Party und Lehrender an der Manchester Metropolitan University.
Übersetzung: Ramin Taghian und Daniel Fuchs
Anmerkungen
1 Dies ist eine übersetzte, gekürzte und redaktionell bearbeitete Version des Artikels „Poland 1980-81. The self-limiting revolution“, erschienen in Barker, Colin (Hg.): Revolutionary Rehearsals, London/Chicago/Melbourne 1987, S. 169-216. Der letzte Absatz der vorliegenden Version entstammt Colin Barkers Artikel „Crisis and turning points in revolutionary development: emotion, organization and strategy in Solidarnosc, 1980-81“, in Interface: a journal for and about social movements. Volume 2:1 (Mai 2010), S. 79-117
2 Ludwik Hass, ein alt gedienter polnischer Trotzkist, beschrieb dies als ein „Eingreifen mit klassenstrategischem Charakter“, vgl. „Die Tragödie von Solidarnosc sind die Berater!“ (Interview mit Ludwik Hass, geführt von Ernst Haenisch), in Klassenkampf 10, März-April 1982. Vielen Dank an Ian Birchall für die Übersetzung.
3 Für Details siehe die zwei Denkschriften von Jadwiga Stanizkis „The evolution of forms of working-class protest in Poland: sociological reflections on the Gdansk:Szczenin case“, in Soviet Studies 33/2 (April 1981), S. 204-231 und von Tadeusz Kowalik „Experts and the Working Group“, in Kemp-Welch, Anthony (Hg.): The Birth of Solidarity: The Gdansk Negotiations, 1980, London 1983, S. 153-176
4 vgl. Touraine, Alain: Solidarity. The analysis of a social movement. Poland 1980-81, Cambridge/New York/Paris 1983, S. 72
5 Zu erkennen anhand einiger der zahlreichen Meinungsumfragen in diesem gesamten Zeitraum; vgl. Mason, David S. „Solidarity , the Regime and the Public“, in Soviet Studies 35/4 (Oktober 1983), S. 533-545
6 Die Gruppierung „Netzwerk“ kam 1981 auf und organisierte eine Reihe von Diskussionstreffen, um einen Forderungskatalog zu formulieren. Sie setzte sich aus einigen Militanten und interessierten Intellektuellen zusammen, das Ganze jedoch ohne eine direkte Verbindung mit der realen Praxis der ArbeiterInnenbewegung.
7 Die Argumente des Netzwerks wurden ziemlich schnell von der führenden Gruppe um Walesa als ihre eigenen aufgegriffen und entwickelten sich zu einem zentralen Bestandteil des Gewerkschaftsprogramms. Ein Hauptkritikpunkt war hierbei die staatlich-bürokratische Kontrolle über die Wirtschaft. Stattdessen postulierte sie die Idee, dass das gesamte wirtschaftliche Leben als neutraler Raum und frei von politischer Einflussnahme behandelt werden sollte. So wie die Entstehung des Programms war auch die Vorstellung von dessen Implementierung von den Erfahrungen und Praxen der Basis abgetrennt. Als dann ab Juli 1981 eine neue Welle von ArbeiterInnenmilitanz ausbrach, wollten viele Netzwerk-AktivistInnen genauso wie die Walesa-Gruppe diese zu einem raschen Ende bringen. Anstatt die wiederbelebte Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse als Chance anzusehen, ihre Ideen in die Praxis umzusetzen, lehnten sie die Streiks als Störung der „seriösen“ Arbeit zur Vorbereitung einer Gesetzgebung ab.
8 vgl. Kowalewski, Zbigniew: „Solidarnosc on the Eve“, in Labour Focus
on Eastern Europe, 5:1-2 (Frühling 1982)