Zunächst eine Rundum-Empfehlung. Das MERIP (Middle East Research and Information Project) gibt unter dem Namen MER (Middle East Report) ein ausgezeichnetes, vierteljährlich erscheinendes Magazin mit kritischen und informierten Beiträgen zum Nahen und Mittleren Osten heraus. Der Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe liegt auf den jüngsten Entwicklungen im Osten Afrikas und dem Roten Meer. Besonders lesenswert: George Trumbell beschäftigt sich mit der Frage, ob der „failed state“ Somalia Ursache für das Wiedererstarken der Piraterie zwischen Jemen und dem Horn von Afrika ist, oder ob nicht eher das Konzept des „failed state“ selbst ein Problem darstellt. Chris Toensing und Amanda Ufheil-Somers analysieren den Nord-Süd-Konflikt im Sudan, der in den nächsten Jahren zu einer Abspaltung des Südens führen könnte. Die Rolle Chinas in Afrika und dem Mittleren Osten sowie die potentiellen imperialen Konflikte, die sich hieraus ergeben könnten, untersucht Philip McCrum. Und Mona El-Ghobashy analysiert in ihrem Artikel The Dynamics of Egypt’s Elections die Bedeutung von Wahlen in einem Land, in dem es oft so scheint, als bestünde deren Funktion nur darin, dem Regime das Mäntelchen der Legitimität umzuhängen. Aber selbst im Ägypten Mubaraks können sich Risse im Gefüge der Macht ergeben und ein scheinbar übermächtiger Staat herausgefordert werden. So nutzt derzeit nicht nur das Regime den Wahlkampf, um WählerInnen zu mobilisieren, sondern auch die Opposition. Nicht zu vergessen ist darüber hinaus, dass spätestens seit der Streikbewegung 2007 mit sozialen Bewegungen als unberechenbarem Faktor gerechnet werden muss. Leider ist nur ein Teil der Artikel derzeit im Internet verfügbar. Darüber hinweg tröstet aber ein regelmäßiger Blick auf die Homepage von MERIP, auf der immer wieder Artikel zu aktuellen Fragen und Herausforderung im Nahen und Mittleren Osten publiziert werden.
Die politische Dynamik in Lateinamerika wurde in den letzten Ausgaben von Perspektiven sträflich vernachlässigt. Wir geloben Besserung und verweisen in der Zwischenzeit auf das Interview mit Adolfo Gilly in New Left Review 64. Der 82-jährige Historiker der mexikanischen Revolution lässt hier seine Erfahrungen als Revolutionär in Lateinamerika Revue passieren. Auf die spezifische politische Situation der einzelnen Länder wird ebenso eingegangen wie auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der dort kämpfenden linken Gruppierungen. Eine Einschätzung der Situation in Venezuela bietet Mike Gonzales in der ersten Ausgabe des neuen Magazins Red Words aus Irland. Er benennt präzise die Widersprüchlichkeit der Verhältnisse, die sich in der Figur Hugo Chávez’ verdichten, – auch wenn die jüngsten Wahlergebnisse in der bereits im April erschienenen Analyse nicht berücksichtigt werden konnten.
Der Groucho unter den MarxistInnen, Slavoj Žižek, nimmt die Debatte um die „Euro-Krise“ zum Anlass, um den vergesslicheren unter den Linken eine eigentlich schon länger gewonnene Erkenntnis ins Gedächtnis zu rufen: Dass der bürgerliche Rechtsstaat und seine liberalen Institutionen nicht das Terrain sind, auf dem wir um wahre Freiheit kämpfen können. Vielmehr müssen die vermeintlich unpolitischen Verhältnisse der Produktion, des Marktes und der Familie umgestoßen werden. Nebenbei bringt er eine der zentralen Herausforderungen für linke Argumente im Angesicht der globalen Wirtschaftskrise auf den Punkt: Man muss gleichzeitig darauf bestehen, dass die Krise nichts „natürliches“ ist, sondern Ergebnis einer Abfolge von politischen Entscheidungen – und anerkennen, dass unter kapitalistischen Verhältnissen „die Wirtschaft“ tatsächlich pseudonatürlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist, die immer wieder und notwendigerweise Krisen hervorrufen. Ein Žižek in Hochform jedenfalls, der die Kunst beherrscht, auf wenigen Seiten eine Vielzahl von Argumenten und Thesen unterzubringen – manche überzeugend, manche weniger, alle zum Denken anregend. Ebenfalls in New Left Review 64 erschienen.
In Perspektiven Nr.11 thematisierten Julia Hofmann und Florian Reiter in ihrem Artikel Wiens Salzamt: Neoliberalismus und der Fonds Soziales Wien die Auswirkungen einer neoliberalisierten Sozialpolitik auf die Arbeit im Sozialbereich. Wer sich näher für die Ursprünge und Folgen dieser von der EU vorangetriebenen Politik interessiert, findet hierzu im neuen Kurswechsel zahlreiche Beiträge. Unter dem Titel EU-Armutspolitik und ihre Relevanz für Österreich stehen unter anderem der Weg hin zu einer europäischen Armuts- und Sozialpolitik sowie ihre Implementierung in Österreich im Zentrum.
Marxistische Wirtschaftstheorien standen in den Jahren des Nachkriegsbooms vor dem Problem, einen lang andauernden, relativ stabilen Wirtschaftsaufschwung gegenüber der behaupteten Instabilität erklären zu müssen. Die Theorie der permanenten Rüstungswirtschaft war ein in den 1960er Jahren entwickelter Zugang, der aus marxistischer Perspektive zugleich die Grundlagen des Aufschwungs erklärte als auch dessen zeitlich begrenzte Wirksamkeit aufzeigte. Gonzalo Pozo zeichnet in der jüngsten Ausgabe des International Socialism Journal die theoretische Entwicklung und die Probleme dieses Erklärungsansatzes kritisch nach und versucht, dessen Relevanz für heute aufzuzeigen.
In der gleichen Ausgabe findet sich neben einem bemerkenswerten Nachruf auf den im Januar diesen Jahres verstorbenen Daniel Bensaïd von Sebastian Budgen ein Artikel von John Newsinger, der sich den Klassenkämpfen in den USA im Jahr der Sitzstreiks 1937 widmet. Er beschreibt dessen Auswirkungen auf gewerkschaftliche Organisierungsformen und auf die Kommunistische Partei in der Zeit des New Deals. Wer die in Perspektiven Nr. 6 beschriebenen Kämpfe der Industrial Workers of the World spannend fand, wird auch dieses Kapitel der Geschichte der amerikanischen ArbeiterInnenbewegung gerne nachlesen.
Zu guter letzt sei auf das September-Heft der Kulturrisse verwiesen, in dem über das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) debattiert wird. Und das teils im wahrsten Sinne des Wortes: die Transkription einer Podiumsdiskussion mit Milena Bister (Agru Grundeinkommen), Margit Appelt (Katholische Sozialakademie), Melina Klaus (KPÖ) und Markus Koza (AUGE-UG) zu Potenzialen und Fallstricken der BGE-Forderung lässt die Fürs und Widers nachvollziehbar aufeinander prallen. Die besten Argumente für das Grundeinkommen liefert aber Käthe Knittler, die in ihrem Artikel die Sprengkraft einer Forderung, in der die Trennung von bezahlter und nicht bezahlter Arbeit radikal in Frage gestellt wird, aus feministischer Perspektive deutlich macht, ohne das BGE gegen andere sinnvolle und notwendige Forderungen – etwa nach Mindestlohn und Arbeitszeitverkürzung – auszuspielen.
Zum Nachlesen:
Bister, Milena/Appelt, Margit/Klaus, Melina/Koza, Markus: Mit dem Grundeinkommen gegen die Prekarität?, in: Kulturrisse Nr. 3 (2010), S.20–25
Budgen, Sebastian: The Red Hussar. Daniel Bensaïd, 1946–2010, in: International Socialism Journal, Nr. 127 (Summer 2010), unter: http://www.isj.org.uk/index.php4?id=661&issue=127
East Report online, 29.09.2010, unter: http://www.merip.org/mero/mero092910.html
Gilly, Adolfo (Interview): What Exists Cannot Be True, in: New Left Review, Nr. 64 (July/August 2010), S. 29–45
Gonzales, Mike: Venezuela: The State of the Revolution, in: Red Words. Irish Socialist Journal, Nr. 1 (May 2010), http://redwords.org/2010/05/07/redwords-issue-one/
Knittler, Käthe: Was wäre wenn… Das bedingungslose Grundeinkommen und die Arbeit, in: Kulturrisse Nr. 3 (2010), S.12–15
Kurswechsel Nr. 3 (2010): EU-Armutspolitik und ihre Relevanz für Österreich
McCrum, Philip: China and the Arabian Sea, in: Middle East Report, Nr. 256 (Fall 2010)
Middle East Research and Information Project (MERIP), unter: http://www.merip.org/mer/mer256/mer256.html
Newsinger, John: 1937: the year of the sitdown, in: International Socialism
Journal, Nr. 127 (Summer 2010), unter: http://isj.org.uk/index.php4?id=659&issue=127
Pozo, Gonzalo: Reassessing the permanent arms economy, in: International Socialism Journal, Nr. 127 (Summer 2010), unter: http://www.isj.org.uk/index.php4?id=660&issue=127
Toensing, Chris/Ufheil-Somers, Amanda: Scenarios of Southern Sudanese Secession, Middle East Report, Nr. 256 (Fall 2010)
Trumbell, George: On Piracy and the Afterlives of Failed States, in: Middle East Report, Nr. 256 (Fall 2010), unter: http://www.merip.org/mer/mer256/trumbull.html
Žižek, Slavoj: A permanent economic emergency, in: New Left Review, Nr. 64 (July/August 2010), S.85–95