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Radikales Palaver
von Georg Gangl

Rezension: Lindner, Urs/Nowak, Jörg/Paust-Lassen, Pia (Hg.): Philosophieren unter anderen. Beiträge zum Palaver der Menschheit. Frieder Otto Wolf zum 65.sten, Münster: Westfälisches
Dampfboot 2008, 446 Seiten, € 25,90

Der vorliegende Band ist eine Festschrift zu Frieder Otto Wolfs 65. Geburtstag und wie es sich für ein solches Jubiläum gehört, hat Philosophieren unter anderen beträchtlichen Umfang. Denn Frieder Otto Wolf hat in seinem Leben so einiges – theoretisch wie praktisch – bewirkt. Aus der 68er-Bewegung kommend, wurde er 1973 Professor der Philosophie an der Freien Universität Berlin, wo er, mit Unterbrechungen, bis heute lehrt. In seinem langen Schaffen entfaltete Wolf außerdem diverse politischemanzipatorische Aktivitäten: Er gab, um nur einzelne dieser Tätigkeiten zu nennen, die Werke Louis Althussers auf Deutsch heraus und verkündete bereits Mitte der 1980er-Jahre, dass die Zukunft des Marxismus nur in einem ökologischen Sozialismus liegen könne. Demgemäß saß Wolf in den 1980er und 1990er-Jahren auch für die deutschen Grünen im Europaparlament.
Diese Breite im Schaffen Wolfs schlägt sich auch in der inhaltlichen Vielfältigkeit der knapp 450 Seiten zählenden Festschrift nieder, obgleich sie um Wolfs zentrales Anliegen des letzten Jahrzehnts zentriert ist: die Radikale Philosophie. Radikale Philosophie findet, laut Wolf, immer schon „unter anderen“, also im Diskurs bzw. „Palaver“ der Menschen, statt. Ihr erklärtes Ziel ist es, „den Skandal“ offen zu legen, dass „die unterschiedlichsten philosophischen Linien einerseits das Selbstdenken propagierten und es auch innerhalb der Philosophieform propagieren mussten, sie andererseits aber gerade dieses Selbstdenken zum Instrument einer Selbstunterwerfung umfunktioniert haben.“ Wolfs Absicht ist also nichts Anderes, als philosophisches underlabouring in herrschaftskritischer Absicht zu betreiben. Und so heißt es auch an anderer Stelle des Sammelbandes, den Begriff des underlabouring konkretisierend: Radikale Philosophie „versucht, über das Philosophieren als spezifische Tätigkeit hinaus ein Selberdenken aller zu fördern, das vor gelingender Praxis liegt, ohne sie garantieren zu können.“(380) Selberdenken wiederum ist in allen möglichen Domänen des menschlichen Zusammenlebens gefragt, und so kommt es auch, dass der Radikalen Philosophie ein breites Feld der Betätigung offen steht.
Der Ausgangspunkt ist dabei die kritische Theorie Marxens. Davon legt der erste Teil des Bandes, der knapp die Hälfte des Gesamtvolumens einnimmt und mit „Philosophieren im Anschluss an Marx“ betitelt ist, beredtes Zeugnis ab. Auch hier fällt sofort die thematische Breite der Darlegungen auf, deren einziger gemeinsamer Nenner oftmals nur in einer Bezugnahme auf Wolfs Radikale Philosophie liegt und auch diese ist in manchen Texten, wenn überhaupt, so nur implizit vorhanden – eine Problematik, auf die wir späterhin noch genauer zu sprechen kommen werden. Die inhaltliche Spannweite der Texte reicht in diesem Teil jedenfalls von der wissenschaftstheoretischen Bedeutung des Marxschen Werkes über Reflexionen zum Verhältnis von Ludwig Wittgenstein zu Pierre Bourdieu bis hin zur politischen Philosophie und Psychoanalyse von Cornelius Castoriadis. Dazwischen werden noch die gesellschaftlichen Naturverhältnisse samt ihrer „natürlichen Tiefendimension“ (Kate Soper), frühbürgerliche Staatstheorien von Hobbes bis Hume und vieles mehr verhandelt.
Insbesondere und exemplarisch hervorheben möchte ich aus diesem Teil von Philosophieren unter anderen einen einzelnen Text: ebenjenen von Urs Lindner „zur doppelten wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung von Karl Marx“, so der Untertitel seines Beitrags. Dieser zeichnet sich durch breite Kenntnis neuerer wissenschaftstheoretischer Debatten aus und demonstriert präzise, was underlabouring in radikalphilosophischer Absicht auf dem Felde der Philosophie bedeuten kann. Lindner argumentiert nämlich sehr anschaulich, dass Louis Althussers These vom „epistemologischen Einschnitt“ im Marxschen Schaffen grundsätzlich modifiziert werden muss. Mit Althusser geht Lindner zwar davon aus, dass es diesen Einschnitt tatsächlich gegeben hat, dass Marx sich also mit den Feuerbachthesen und der deutschen Ideologie 1845 auf den Weg machte von der spekulativen Philosophie seiner Jugendjahre zur Wissenschaftlichkeit seines Spätwerks – sodann emblematisch zu Tage tretend im Kapital. Lindner geht aber sogleich über Althusser hinaus, indem er weitere heuristische Untergliederungen des Marxschen Schaffens einführt und meint, dass Marx sich von 1845 bis 1857 – bis zur Anfertigung der Grundrisse – in einem Prozess der Reifung befunden habe, der schließlich zu einem wissenschaftlichen Durchbruch, namentlich der Identifikation des Doppelcharakters der gesellschaftlichen Arbeit, geführt hat und Marx folglich in die Lage versetzte, die kapitalistische Gesellschaft im Kapital von ihrer „Zellform“ (Marx) her aufzurollen. Lindner ist sich dabei der Problematik jedweder Schematisierung durchaus bewusst, wie er sich gleichsam, trotz der Rede von der Reifung, allen teleologischen Obertönen versagt. Das Marxsche Werk ist und bleibt ein Torso und gerade Lindners Rekurs auf neuere wissenschaftstheoretische Überlegungen macht klar, dass Marx sich wohl selbst nicht so ganz bewusst war, welche ontologischen, epistemologischen und methodologischen Vorannahmen und Setzungen er getroffen hatte (hier ist wiederum underlabouring gefragt, um ebenjene impliziten Prämissen zu Tage zu fördern).
Teil 2 der Festschrift trägt die Überschrift „Politik, Ökonomie, Geschlechterverhältnisse“ und verweist damit auf den weitläufigen Fokus der underlabouring-Tätigkeit der Radikalen Philosophie, verglichen etwa mit diversen (ökonomistischen) Traditionsmarxismen.Auch diesem Teil des Bandes lässt sich eine bunte Vielfalt an Themen attestieren. Von Fragen queerer Theoriebildung über Probleme der sog. Staatsableitung in marxistischen Debatten bis hin zu historischen Skizzen über die Durchsetzung des Kapitalismus in England und die Widerstände dagegen sind die verhandelten Inhalte wiederum mannigfaltig. So setzt sich etwa Michael Heinrich in Teil 2 mit den „Grenzen des idealen Durchschnitts“, will meinen den Grenzen der dialektischen Darstellungsweise des Marxschen Kapitals in Hinblick auf den Staat auseinander und gibt desgleichen eine Übersicht über die versprengten theoretischen Aussagen Marxens über den Staat. Ingo Elbe beschäftigt sich daran anschließend mit der Rechts- und Staatstheorie von Nicos Poulantzas und versucht in kritischer Auseinandersetzung mit diesem und im Anschluss an Erkenntnisse der deutschen Staatsableitungsdebatte der 1970er Jahre, die kapitalistische Staatsform zu ergründen. Neben diesen enger auf das Marxsche Werk zentrierten Texten behandelt dieser Teil des Bandes zudem weitere Probleme marxistischer Theoriebildung, die nicht allzu oft als solche erörtert werden. Ingo Stützle beschäftigt sich beispielsweise mit der Kategorie der Staatsverschuldung und ihrem Stellenwert in der Kritik der politischen Ökonomie – ein in Krisenzeiten ausnehmend interessanter Beitrag. Darüber hinaus sei aus diesem Abschnitt schließlich noch der Text von Pia Paust-Lassen zur Lektüre empfohlen, welcher sich in sehr innovativer und erkenntnisbringender Art und Weise mit der Relevanz von verschiedenen Formen von Zeitlichkeit für Ökonomie und Ökologie auseinandersetzt.
Der letzte Teil von Philosophieren unter anderen ist der „Theorie und Praxis radikaler Philosophie“ im engeren Sinne gewidmet, auch wenn selbst in diesem Teil der Bezug auf Wolfs framework häufig nur implizit bleibt. Denis Maeder spricht gegen Ende des Bandes etwa über die Zentralität des Fragens und Nichtwissens im Gegensatz zur reinen Aussagen- und Satzlogik klassischer (analytischer) Philosophie und Boaventura de Sousa Santos macht sich Gedanken über die Kommensurabilität verschiedener Wissensformen und plädiert für eine bestimmte standpunktlogische „Epistemologie des Südens“. Auch in diesem letzten Teil der Festschrift gilt, was schon zuvor aufgefallen war: Es handelt sich um durchwegs interessante Texte, wobei deren Bezüge zur Radikalen Philosophie oder Wolfs Werk ganz generell öfter unklar bleiben.
Dies leitet auch schon zur eigentlichen Problematik der Festschrift über. Selbige ist ohne Zweifel ein sehr lesenswertes Sammelsurium gegenwärtiger linker Theoriebildung und Emanzipation, die, will sie denn greifen, sich gewiss nur als vermittelte Zusammenschau vieler differenter Perspektiven denken lässt. Frieder Otto Wolf versucht mit seiner Radikalen Philosophie eine Art gemeinsame Klammer, einen Diskursbogen für verschiedene emanzipatorische Ansätze zu schaffen, sodass sie in Dialog treten und sich schlussendlich gegenseitig theoretisch befruchten können. Trotz dieses hehren und unterstützenswerten Anliegens stellt sich bei der Lektüre der Festschrift aber die Frage nach der Kohärenz der gesamten (meta-)theoretischen Perspektive. Wollen linke Theoriebildung und emanzipatorische Bewegungen nicht in seichten und zahnlosen Pluralismus abgleiten, so gelte es ebenso, die verschiedenen Ansätze in produktive Frontstellungen zueinander zu bringen und, wo nötig, eben auch Gegensätze zu prononcieren. Genau dies unterbleibt aber im vorliegenden Band überwiegend. Underlabouring hätte es genauso zur Aufgabe, die Inkonsistenzen und ideologischen Verschleifungen einzelner Theorien herauszupräparieren. Nur durch diese Gegensätze hindurch ließe sich zu einer pointiert-vermittelten Theorie des Ganzen gelangen. Mit dieser Festschrift ist sicherlich ein erster Schritt getan, verschiedene Theorietraditionen und Positionen in ein produktives Palaver miteinander und auch „unter die anderen“ zu bringen, weitere Schritte zur Schärfung der zu Tage tretenden Widersprüche stehen aber – auch unter dem Schirm der Radikalen Philosophie – noch aus. Denn so befreiend und egalitär Palaver sein kann als gleichberechtigtes und solidarisches Sprechen unter anderen, die doch Gleiche sind, so schnell kann dieser in die polyphone Kakophonie des Palaverns ausarten, wo es nicht mehr so sehr darum geht, durch die Differenzen hindurch in kritischer Auseinandersetzung zur Wahrheit zu gelangen, sondern, im Gegenteil, die eigene (virtuelle) Befindlichkeit lauthals und über alle anderen drüber kundzutun.





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