Rezension: Dörre, Klaus/Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2010, 327 Seiten, € 12,40
Nachdem viele namhafte SoziologInnen Mitte der 1980er Jahre das „Ende der Klassengesellschaft“ postuliert und damit der Soziologie ihr gesellschaftskritisches Potential systematisch entzogen hatten, schenkten linke Kräfte der (deutschsprachigen) soziologischen Forschung und Theoriebildung in den letzten Jahren kaum mehr Beachtung und betrachteten sie als empirizistische Handlanger neoliberaler Politik. In den letzten Jahren scheint demgegenüber die kritische Gesellschaftsforschung wieder zunehmend an Einfluss in der Soziologie zu gewinnen. Einzelne SoziologInnen, aber auch ganze Institute verschreiben sich neuerdings einer „kritischen Theorietradition“.
Als ein Versuch, diesen Trend zur Wiederkehr kritischer Soziologie zu verstärken, kann die in Buchform gebrachte Debatte der Jenaer Soziologen Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa verstanden werden. So lautet das hochgesteckte Ziel der drei Autoren, die „Rückkehr der Kritik in die Soziologie“ (12) zu forcieren. Die Methode, die Dörre, Lessenich und Rosa dafür wählen, ist innovativ: Das „diskursive Prinzip dialogischer Wissensentwicklung“ (13) gibt im ersten Teil des Buches jedem Autor knapp 50 Seiten Spielraum, um die eigenen Positionen darzulegen. Im zweiten Teil kritisieren die Autoren die Konzepte der jeweils anderen und der dritte Teil gibt Gelegenheit, auf die Kritik einzugehen bzw. die eigenen Position noch klarer darzustellen.
Eine kritische Soziologie muss sich in erster Linie mit den Ursprüngen und Spezifika des Kapitalismus auseinandersetzen, um die Krisenhaftigkeit dieses Systems analysieren zu können. Hinsichtlich ihres kapitalismustheoretischen Grundverständnisses unterscheiden sich die drei Jenaer Soziologen allerdings massiv: Klaus Dörre betont insbesondere die verschiedenen Formen kapitalistischer Landnahme (21), Stephan Lessenich weist auf die Rolle von Aktivierungsprozessen hin (126) und Hartmut Rosa sieht im modernen Kapitalismus vorwiegend eine Beschleunigungsmaschine (87). Aufgrund dieser höchst unterschiedlichen Konzepte haben die drei Autoren natürlich auch unterschiedliche Einschätzungen bezüglich der Folgen kapitalistischer Vergesellschaftungsprozesse.
In Anschluss an Rosa Luxemburg, Hannah Arendt und David Harvey ist für Klaus Dörre der Kapitalismus nur durch seine Fähigkeit zur Landnahme lebensfähig, das heißt durch seine Gabe, sich immer auf ein „Außen“ beziehen und dieses teilweise selbst mitproduzieren zu können (42). Jede kapitalistische Phase sei durch eine bestimmte Form der Landnahme gekennzeichnet, so seit den 1970er Jahren auch der Finanzmarktkapitalismus durch seine finanzgetriebene Landnahme. Letztere zeichnet sich Dörre zufolge dadurch aus, dass marktbegrenzende Institutionen (die früher das „Außen“ kapitalistischer Gesellschaften bildeten) zunehmend geschwächt, ausgehöhlt und Teil von Landnahmeprozessen werden. Das neue „finanzdominierte Akkumulationsregime“ (57) wirke sich verheerend auf die Gesellschaft aus: die Trennung zwischen Privatem und Arbeit wird im flexiblen Kapitalismus zunehmend aufgeweicht, konkurrenzbasierte Regulationsdispositive setzen sich durch; das Tarifsystem erodiert, prekäre Arbeitsverhältnisse höhlen Kollektivvereinbarungen aus und mithilfe des Shareholder Value können marktzentrierte Steuerungsansätze über (inner-) betriebliche Angelegenheiten bestimmen. Auch Finanzkrisen würden zum „Modus operandi der neuen Landnahme“ (69) gehören. Durch intransparente Finanzprodukte und -risiken, weltwirtschaftliche Ungleichgewichte und der (damit einhergehenden) zunehmenden Notwendigkeit eines Staatsinterventionismus habe sich das finanzmarktkapitalistische System selbst instabil gemacht und stoße an „immanente Grenzen“ (81). Diese selbstgeschaffenen Widersprüche offenbaren für Dörre die Chance auf Wandel – die subalternen Gruppen müssten diese Krisen des Finanzmarktkapitalismus nur erkennen, ihre Angst vor sozialem Abstieg abbauen und für eine andere Gesellschaftsform kämpfen. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen progressiven Entwicklung schätzt der Soziologe allerdings als sehr gering ein. Da es an einem „glaubwürdigen, überwölbenden, emanzipatorischen Projekt“ (82) fehle, werde es wohl nichts mit dem Klassenkampf in nächster Zeit. Daher müsse sich die Soziologie, so argumentiert Dörre nüchtern, für eine innerkapitalistische Alternative einsetzen: den ökologischen New Deal (83).
Anders als Klaus Dörre, der sich in seinen Analysen am wenigsten von der marxistischen politischen Ökonomie entfernt, lehnt sich Harmut Rosa in seinen Positionen eher an Max Weber an. Rosa sieht das „gute Leben“ (87) aller Menschen aufgrund des Wachstumsprinzips und der Beschleunigungslogik kapitalistischer Akkumulationsprozesse in Gefahr. Das Tempo sozialen Wandels beschleunige sich konstant – die Folge wäre der Verlust von „in der „klassischen Moderne“ gewonnenen Gestaltungs-, Entwicklungs- und […] Autonomieansprüchen“ (109). Der flexible Mensch sei politisch ohnmächtig, müsse sich permanent anpassen und sich mit einer „situativen Identität“ (110) zufrieden geben. Auch die Politik habe kaum mehr Handlungsspielräume. Anstelle einer Interessenspolitik werde daher immer mehr auf die „Strategie des ,muddling through‘“ (109) gesetzt. Da die Sozialwissenschaften und die politischen Akteure die Widersprüche innerhalb des Kapitalismus – also die „Spaltungen, Spannungen und Trennungen zwischen Klassen“ (97/98) – jahrzehntelang überbetonten, konnte der Kapitalismus, so Rosa, bisher nie an seiner „ethischen Wurzel“ (125) gepackt werden. Aufgabe einer kritischen Soziologie wäre es demnach, aufzuzeigen, dass der Kapitalismus „Profiteure und Gewinner nur unglücklich machen kann, weil [er] all ihre […] Energien […] dem Kampf um die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit“ (125) unterwerfe. Stephan Lessenich beschäftigt sich als einziger der drei Soziologen vorwiegend mit der Rolle des Staates im kapitalistischen System. Er stellt die These in den Raum, dass der moderne Kapitalismus weder mit, noch ohne (Wohlfahrts-)Staat lebensfähig wäre (141). Aufbauend auf Carl Offes „Theorie des Spätkapitalismus“ untersucht Lessenich die veränderte Rolle des Staates im „postindustriellen“ Kapitalismus. Dieser sei in „einer zwiespältigen, dilemmatischen Kommunikationssituation“ (149), da er den „kapitalistischen Erfordernissen und demokratischen Forderungen gleichermaßen gerecht“ (149) werden müsse. Folge wäre – und hier argumentiert Lessenich mit Foucault – nicht nur eine Ökonomisierung, sondern auch eine Subjektivierung des Sozialen, d.h. „die Sorge um das Soziale, seine Sicherung und Stärkung, wird in die Verantwortung der Subjekte gelegt.“(166) Der Staat ziehe sich zunehmend zurück. Gesellschaftliche Inklusion würde nicht mehr gefördert, sondern nur mehr Maßnahmen gegen drastische Formen der Exklusion gesetzt. Neue soziale Spaltungen zwischen Inkludierten (Mehrheitsgesellschaft) und Exkludierten (Angehörige der „Unterschicht“, illegale MigrantInnen) wären die Folge. Nur wenn diese überwunden würden und sich „die als Aktivbürger gedachten Subjekte“ (174) der Aktivgesellschaft und ihrer eigenen Rolle bewusst würden, könnte diese Form kapitalistischer Vergesellschaftung überwunden werden. Ziel einer kritischen Soziologie muss es nach Lessenich daher sein, die Subjekte über die Ursprünge und Bedingungen dieser Aktivgesellschaft aufzuklären.
Hier ist nicht der Raum, auf die Kritiken einzugehen, welche die Autoren aneinander üben. Einige relevante Punkte seien jedoch genannt: So sehr Harmut Rosas Analyse von der „Beschleunigungsmaschine Kapitalismus“ stimmen mag, so unbrauchbar ist seine Position für eine linke Kritik am kapitalistischen System. Rosas Blindheit gegenüber jeglichen sozialstrukturellen Differenzierungen ähnelt stark Ulrich Becks These der „Individualisierung sozialer Risiken“. Auch wenn der Kuchen des Kapitalismus, wie Rosa betont, an sich giftig ist (268), so macht es eben doch einen Unterschied, wer davon wie viel isst und wer aus welchen Gründen beschließt, einen neuen Kuchen zu backen. Stephan Lessenichs Versuch einer Integration polit-ökonomischer Ansätze und foucaultianischer Subjektivierungstheorien ist ebenfalls nicht ganz glücklich. Statt Struktur- und Akteursebene zu verbinden, werden ökonomische Prozesse und subjektive Handlungsmuster getrennt dargestellt. Die Rolle des Staates (welches eigentlich?) als intermediäre Instanz bleibt ebenso diffus. Auch Klaus Dörre bleibt in seiner Position hinter den Erwartungen eines kritischen Geistes zurück. Zwar ist seine Analyse politökonomisch durchaus fundiert, doch sind die politischen Konsequenzen, die er zieht, sehr zögerlich. Ein Green New Deal müsse her; jegliche andere Form dekommodifizierter Gesellschaft wäre utopisch.
Trotz aller Kritik an den Ansätzen ist die Initiative Dörres, Lessenichs und Rosas absolut unterstützenswert. Wenn „Soziologie – Kapitalismus – Kritik“ auch nicht der Weisheit letzter Schluss ist, so lässt es zumindest das kritische SoziologInnenherz ein wenig höher schlagen.