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Im Osten nichts Neues
von Aktivistin Maria und Stipe Ćurković

Die Krise abseits der Zentren findet medial kaum statt. Maria aus der Ukraine und Stipe aus Kroatien berichten in Form eines Emailinterviews1 über die derzeitige Situation in Osteuropa. Es wird deutlich, dass die Schwergewichte innerhalb der EU auch in Zeiten der Krise vor allem darauf bedacht sind, den Kurs einer abhängigen Integration fortzusetzen und zu vertiefen.

Könnt ihr zu Beginn einen kurzen Überblick über die derzeitige Lage in euren Ländern geben? Maria, wie stark ist die Ukraine von der Krise betroffen?

Maria: Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat gewaltige Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation in der Ukraine. Einige Zahlen verdeutlichen dies eindrucksvoll: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf fiel im Jahr 2009 im Vergleich zum Vorjahr um knapp 16% auf jetzt 2.500 US-Dollar. Die industrielle Produktion verzeichnete von 2007 bis 2008 einen Rückgang von fast 29%. Ähnlich wie in anderen Ländern ist auch in der Ukraine der Immobilienmarkt von den Folgen der Krise besonders stark betroffen, in Kiew fielen die Preise um rund 50%. Für einen gewissen Zeitraum vergaben Banken überhaupt keine Kredite mehr.
Gleichzeitig hat sich die Situation bei den Staatsfinanzen weiter zugespitzt, die Staatsverschuldung ist sehr hoch. Weil sich der Wechselkurs der Hrywnja, der ukrainischen Währung, dramatisch verschlechtert hat, sanken die Nominallöhne, während jedoch die Preise weiter anstiegen. Das hat zu wachsender Armut geführt, z. B. fiel der monatliche Durchschnittslohn von knapp 350 US-Dollar im Jahr 2008 auf jetzt etwa 240 US-Dollar. Außerdem reagierten die von der Krise betroffenen Unternehmen vor allem mit Entlassungen. Viele Menschen verließen daraufhin die größeren Städte und kehrten in ihre Heimatorte zurück. Die Inflation und der schnelle Preisanstieg für Konsumgüter bedeuteten eine Entwertung der Löhne und Ersparnisse der Menschen, was zu einem allgemeinen Rückgang des Lebensstandards führte. Einen guten Eindruck von der aktuellen Situation der ukrainischen Bevölkerung vermitteln die Statistiken des Meinungsforschungsinstituts FOM-Ukraine: Laut einer Untersuchung vom April 2010 mussten 45% der Befragten ihre Ausgaben für tägliche Gebrauchsartikel und 18% jene für Medikamente kürzen; 18% waren von verspäteten Lohnzahlungen, 8% von Lohnkürzungen und 3% von Entlassungen betroffen.2

Ist die Situation in Kroatien ähnlich?

Stipe: Grundsätzlich schon. Gerade die Semiperipherie innerhalb
der EU – also die sogenannten PIIGS-Staaten3 und die Länder des ehemaligen „Ostblocks“ – haben ja mit den Auswirkungen der globalen Wirtschaftskrise zu kämpfen, so auch Kroatien. Der Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um 5,8%4 im Jahr 2009 ist dafür das deutlichste Zeichen. Auf einer grundlegenderen Ebene wäre es allerdings falsch, die aktuellen Entwicklungen als qualitativen Bruch gegenüber den vorangegangen Perioden des „Übergangs“ (zum Kapitalismus) und der „Integration“ (in die kapitalistische Weltwirtschaft) zu sehen. Eher handelt es sich um die Fortsetzung langfristiger ökonomischer, sozialer und politischer Prozesse. Diese haben sich zwar seit dem Verfall Jugoslawiens beschleunigt, begannen jedoch bereits in den späten 1980er Jahren unter der Regierung MarkoviÄ5 mit den vom IWF aufgezwungenen marktorientierten Wirtschaftsreformen. Jeffrey Sachs6 war damals ein wichtiger Berater. Der zusätzliche Druck durch die aktuelle Weltwirtschaftskrise offenbart und verschärft lediglich die strukturelle Zerbrechlichkeit und Widersprüchlichkeit dieser seit einigen Dekaden andauernden Prozesse.

Worin bestehen denn deiner Ansicht nach diese Widersprüche? Wie sah das ökonomische Entwicklungsmodell Kroatiens in den letzten 20 Jahre aus?

S: Kroatien ist nicht China, nicht einmal die Slowakei (mit ihrer inzwischen selbst problematisch gewordenen, exportorientierten Autoindustrie). Auch wenn von unseren politischen Eliten ausländische Direktinvestitionen ständig als deus ex machina-Lösung für Kroatiens wirtschaftliche Entwicklung beschworen werden, finden kaum greenfield investments von Seiten des westlichen Kapitals statt. Dort, wo es zu ausländischen Investitionen kommt, bestehen diese typischerweise in der Übernahme von bereits existierenden Produktionskapazitäten. In solchen Fällen kommt es statt eines Ausbaus der Produktion und der Schaffung neuer Arbeitsplätze fast immer zu Personalabbau und Formen der „Rationalisierung“. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Privatisierung des nationalen Telekommunikationsmonopolisten HT (Kroatische Telekom). Nachdem zuvor die unprofitable Hrvatska pošta (Kroatische Post) abgespalten wurde, konnte der Käufer – die Deutsche Telekom – nicht nur die Kosten der Übernahme innerhalb eines Jahres amortisieren. Um seine Profite weiter zu maximieren, begann die Telekom vielmehr recht bald, Personal abzubauen und die verbliebenen Angestellten zusätzlich zu belasten. Ein weiterer aufschlussreicher Fall ist die Privatisierung des Pharmazieunternehmens Pliva. Kurz nachdem es an ausländische Wettbewerber verkauft wurde, entschieden die neuen BesitzerInnen, die Produktionsstätten und Labore zu schließen und – um die bis dahin treue Kundschaft nicht zu verlieren – nur den Markennamen beizubehalten. Viele andere ehemalige Staatsunternehmen erlitten ähnliche Schicksale oder kollabierten unter dem Druck eines (neo-)liberalen Handelsregimes, das billige Importe gegenüber inländischen Industrieprodukten bevorzugt.
Die einzige Industrie, die seit der Unabhängigkeit Kroatiens geboomt hat, war die Baubranche. Dies ist hauptsächlich das Ergebnis einer schuldenfinanzierten Immobilienblase. Der kroatische Banksektor befindet sich zu 95% in ausländischer – vorwiegend österreichischer und italienischer – Hand. Ein großer Teil der Privatschulden besteht aus Hypotheken, so dass steigende Zinsen Zahlungsausfälle und sinkende Immobilienpreise zufolge haben würden, was wiederum die Banken hart treffen würde. Die Effekte auf das Baugewerbe würden unvermeidlich zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Laut Angaben der kroatischen Zentralbank, der HNB, lag die Arbeitslosenrate der 15 bis 64 jährigen 2009 bei 9,7%. Demgegenüber beziffert das CIA World Factbook die Rate für das selbe Jahr auf 16,1%7, was der Einschätzung von RegierungskritikerInnen näher kommt. Grundsätzlich sind die Arbeitslosenzahlen kroatischer Institutionen mit Vorsicht zu genießen, weil die Verringerung der Arbeitslosigkeit hierzulande gerne statistischen Zauberkünsten überlassen wird. Hier scheint der Einfallsreichtum unserer Eliten unbeschränkt.
In jedem Fall hatten der Verlust von Einkünften aus der Gewinnrückführung der ehemaligen Staatsunternehmen sowie der Anstieg der Arbeitslosigkeit infolge der De-Industrialisierung, die wegen des Drucks ausländischer Konkurrenz voranschreitet, ernste Konsequenzen für den Haushalt. Darüber hinaus leidet Kroatien seit seiner Unabhängigkeit an einem stetigen Leistungsbilanzdefizit. Unter diesen Bedingungen wurden sowohl die Sozialausgaben als auch der Privatkonsum zunehmend schuldenfinanziert. Die vorhersehbare Folge war der Anstieg der Auslandsverschuldung um mehr als 400% in nur einem Jahrzehnt: Von 10 Milliarden Euro 1999 auf 43 Milliarden im Jahr 2009. Ausgedrückt als Anteil am Bruttoinlandsprodukt erreichten die kroatischen Schulden 2009 ein neues Hoch von 94,9%. Weil diese Anhäufung von Schulden nicht genutzt wurde, um Produktionskapazitäten aufzubauen oder Arbeitsplätze zu schaffen, entfaltet sie kaum nachhaltige Wirkung. Überzeugte Neoliberale greifen unermüdlich auf diesen Sachverhalt zurück, wenn sie nach radikalen Sparmaßnahmen bei den Sozialausgaben und eine Kürzung der Löhne fordern. Letzteres sei unabdingbar, damit Kroatiens Exporte auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein könnten.
Die Höhe der angehäuften Schulden in Fremdwährungen macht ein alternatives Vorgehen – wie etwa die Abwertung der nationalen Währung (kuna) – praktisch unmöglich. Außer man würde zuvor nach argentinischem Vorbild den Staatsbankrott erklären, was wiederum für Privatschuldner schwere Auswirkungen haben könnte. Wie auch immer, allein schon die Diskussion über eine politische Wende dieser Art ist gegenwärtig eine Übung in ökonomischer Science-Fiction. Selbst rein hypothetisch würde keine einzige kroatische Partei eine solche Möglichkeit in Erwägung ziehen, sei es auch nur als Worst-Case-Szenario (und selbst wenn, wäre die Unabhängigkeit der Zentralbank ein weiteres Hindernis). Alle Hoffnungen richten sich noch immer auf eine zukünftige EU-Mitgliedschaft. Dann, so die Annahme, würden unter der wohlgesinnten Autorität von Brüssel alle Probleme gelöst, die derzeit unlösbar scheinen.

Stichwort Neoliberalismus und EU. Wurde die Krise in Kroatien als Gelegenheit wahrgenommen, neoliberale Politiken zu verankern? Welche Rolle übt die EU gegenwärtig aus?

S: Die Krise hat einen willkommenen Vorwand geliefert, den Druck hinsichtlich einer Vertiefung neoliberaler Umstrukturierungen und der Kürzung staatlicher Sozialausgaben zu erhöhen. Die lokalen VerfechterInnen einer neoliberalen Sparpolitik können diesbezüglich auf die Unterstützung der EU-Kernstaaten sowie auf die aktuellen programmatischen Erklärungen der G20 bauen. In der Vergangenheit haben die neoliberalen PuristInnen immer wieder das „mangelnde Engagement“ der Regierung zur angeblich notwendigen „vollständigen Sanierung“ beklagt. Das Drängen der EU zu pro-zyklischen Sparmaßnahmen hat solchen Forderungen neue Kraft gegeben. Die Befürchtung, dass Kroatien seine Schulden vielleicht nicht mehr zurückzahlen und so die überstrapazierten EU-Gläubiger dem Bankrott-Risiko aussetzen könnte, resultierte in Forderungen nach einer Reduzierung der Staatsausgaben und einer strikteren Fiskalpolitik. Dass die finanziellen Interessen von ausländischen KreditgeberInnen schwerer wiegen als die möglichen sozialen und makroökonomischen Konsequenzen für das Land selbst und den Großteil seiner Bevölkerung, ist aber keine kroatische Besonderheit; es macht vielmehr etwas Grundlegendes über die Form der Integration in die kapitalistische Weltwirtschaft deutlich: Wie viele andere osteuropäische Länder befindet sich auch Kroatien in einer Position neokolonialer Abhängigkeit und Unterordnung und stellt für westeuropäisches Kapital eine Quelle finanzieller Rente dar.

Welchen Einfluss nehmen internationale Akteure in der Ukraine? Hat das Land in der Krise externe „Hilfe“ in Anspruch genommen?

M.: In der Hochphase der Krise wandte sich die ukrainische Nationalbank an den Internationalen Währungsfonds (IWF) und nahm einen Kredit über 16,5 Milliarden US-Dollar auf. Bereits 2008 hatte die Regierung unter der damaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko8 auf solche Kredite zurückgegriffen, um das Haushaltsdefizit zu decken. Im Juli 2010 gewährte der IWF außerdem noch eine so genannte Bereitschaftskreditvereinbarung über 15,5 Milliarden US-Dollar zur Unterstützung des Reform- und Wirtschaftsanpassungsprogramms der Regierung. Zwar behauptet der IWF in seiner Selbstdarstellung immer wieder, er wolle die Armen, Arbeitslosen und sozial Schwächsten schützen und ein beträchtlicher Anteil seiner Kredite diene der Sicherstellung einer fristgerechten Auszahlung von Löhnen und Renten. Ich bin aber skeptisch, ob das Geld tatsächlich die Menschen erreichen wird, die von der Krise betroffenen sind.
Grundsätzlich ist die Situation in der Ukraine stark von ihrer geopolitischen Position zwischen der EU und Russland beeinflusst. Entsprechend ist auch das politische System des Landes stark polarisiert. Vereinfacht kann von einer pro-russischen, einer pro-westlichen sowie einer nationalistisch westlichen Position gesprochen werden. Vor allem während der Präsidentschaft von Wiktor Juschtschenko9, dessen Partei Nasha Ukayina („Unsere Ukraine“) ebenso vom „Westen“ unterstützt wurde, wie später Julia Timoschenko und ihre Partei Bat’ kivshchyna („Vaterland“), wurde im Land eine pro-„westliche“ Haltung vorangetrieben: Mit der Perspektive des EU-Beitritts versuchte das Land, die Ökonomie auszubauen und das politische System zu restrukturieren. Im Transformationsprozess hatte die EU schon in der Vergangenheit eine Schlüsselrolle gespielt, gegenwärtig ist sie auch die größte Handelspartnerin der Ukraine. Weil die EU in der Ukraine eine potentielle strategische Partnerin sieht und ein großes wirtschaftspolitisches Interesse an der Stabilisierung des Landes hat, gewährte die EU-Kommission in der Krise einen Kredit über 500 Millionen Euro. Basierend auf bestehenden Kooperationsabkommen zwischen der Ukraine und der EU wird zeitgleich die Schaffung und Ausweitung einer Freihandelszone weiter vorangetrieben. Welche Auswirkungen dies auf die Bevölkerung haben wird, bleibt jedoch offen. Umgekehrt hält auch Russland die Ukraine für eine Region, in der es seinen imperialistischen und politischen Einfluss zeigen kann. Weil jedoch zumindest unter Juschtschenko die Weichen aber in Richtung EU gestellt wurden, setzte die russische Führung in der jüngeren Vergangenheit zunehmend auf Methoden des ökonomischen und politischen Drucks. So ereignete sich auch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise genau während der so genannten „Gaskriege“. Damit meine ich die Auseinandersetzungen zwischen der ukrainischen Öl- und Gasfirma Naftohaz Ukrainy und dem russischen Gasanbieter Gazprom über natürliche Gasvorkommen sowie die Gaspreise und -schulden aus den Jahren 2005–2009. In jüngster Zeit hat sich das Verhältnis der Ukraine zu Russland aber wieder verbessert, so dass zwar der Druck ab-, die russischen Interventionen in die Innenpolitik jedoch zugenommen haben. Dies liegt nicht zuletzt am Sieg von Viktor Yanukovych10 und seiner Partiya Regioniv („Partei der Regionen“) bei den Präsidentschaftswahlen Anfang 2010. Er wird den pro-russischen Kräften zugerechnet und aufgrund seiner Politik in der Frage der Meinungs- und Versammlungsfreiheit häufig als legitimer Nachfolger der autoritären Regierung von Leonid Kuchma11 bezeichnet. Indem er unter der Führung seiner Partei der Regionen im Parlament eine neue Koalition gebildet hat, konnte Yanukovych seine Macht schnell konsolidieren. Außerdem ernannte der Präsident neue MinsterInnen, die zügig begannen, in der Wirtschaftspolitik sowie im Bildungsbereich Reformen voranzutreiben. Viele der Maßnahmen zielen darauf ab, Veränderungen wieder rückgängig zu machen, die zuvor von der Regierung Juschtschenko vorgenommen wurden. Einige der bedeutendsten Maßnahmen umfassen neben der Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit (es gibt Berichte über politischen Druck auf einige TV-Sender sowie über die Bedrohung und das Verschwinden von JournalistInnen) bildungs- und sozialpolitische Felder: So wurde etwa die Zahl gebührenfreier Studienplätze reduziert. Auch plant die Regierung, Ende des Jahres das Pensionsalter für Frauen per Gesetz von 55 auf 60 Jahre anzuheben und in den nächsten Monaten das Steuersystem grundlegend zu überarbeiten. Außerdem sollen die staatlichen Anteile an Ukrtelekom – dem ukrainischen Telekommunikationsunternehmen – verkauft werden.

Damit scheint sich ein Muster aus der Vergangenheit zu wiederholen…

M.: Ja, in der Ukraine bestand im Zuge des Übergangs vom sowjetischen Modell zur Marktwirtschaft eine der sichtbarsten und folgenreichsten Veränderungen in der Privatisierung wichtiger Teile der nationalen Ökonomie. Die Interessen der ArbeiterInnenklasse wurden seit 1991 fast völlig außer Acht gelassen. Infolge der schwachen staatlichen Kontrolle kam es gleichzeitig zu einer massiven Anhäufung von Kapital, von der einige wenige Unternehmen auf legale und illegal Weise profitierten. Die neuen Privatunternehmen konnten ihre Profite in diesem Kontext v.a. ab 1993 deutlich steigern. In der Zeit von 1995 bis 1998 wurden ca. 50.000 Objekte privatisiert; der Anteil staatlicher Unternehmen an der industriellen Produktion sank von 85% im Jahr 1992 auf 18,2% im Jahr 2003. Strategisch wichtige Unternehmen wurden zwar zunächst mit staatlichen Mitteln unterstützt. Sobald sie jedoch Profite abwarfen, wurden auch diese Unternehmen, etwa Kryvorizhstal12, privatisiert –inklusive zahlreicher Korruptionsskandale. Das Ergebnis dieser Vorgehensweise waren Lohnsenkungen sowie die massenhafte Entlassung von ehemaligen StaatsarbeiterInnen.
Trotz der weitreichenden Korruption, der Abwesenheit einer politischen Führung und dem Fehlen längerfristiger Konzepte für die Probleme des Landes wurden im Transformationsprozess aber auch manche Fortschritte erzielt, v.a. im Bereich der Meinungsfreiheit. Dies zeigte sich etwa während und nach der so genannten Orangenen Revolution13 von 2005.

In welchem Licht erscheint der kroatische Transformationsprozess in der Rückschau?

S: Die aktuelle Situation enthält eine Menge Indikatoren für die umfassenden und mittlerweile weit fortgeschrittenen, neoliberalen Umstrukturierungsmaßnahmen, die bislang von jeder kroatischen Regierung mitgetragen wurden – ungeachtet deren rhetorischen Differenzen und ideologischen Bekenntnissen. Diese Kontinuität ist nicht nur ein Hinweis auf den Opportunismus, der sich durch das gesamte politische Establishment zieht, sondern verweist auch auf die objektiven Grenzen staatlicher Souveränität. Die grundlegende politische Ausrichtung stand im Einklang mit den Vorschriften des Washington Consensus: Monetarismus, Privatisierung, Handelsliberalisierung, Deregulierung, Steuersenkungen für das Kapital. Die Kontinuität war nicht zuletzt das Resultat des Drucks internationaler Institutionen – am deutlichsten sichtbar zunächst anhand der Rolle des IWF. Die Unterordnung unter die politischen Vorgaben des „Westens“ blieben weitestgehend unhinterfragt. Dies ist auf den überwältigenden Konsens über die Attraktivität und Unvermeidbarkeit der „Integration in den Westen“, d. h. einer Mitgliedschaft in NATO und EU, zurückzuführen.

Was liegt diesem Konsens zugrunde?

S: Die Annahme, dass eine vollständige Integration automatisch zu jenem Lebensstandard führe, den man mit dem Höhepunkt der „westlichen“ Wohlfahrtsstaaten verbindet. Da die westlichen Zentren der Macht hierzulande zudem von der Aura einer a-priori-Legitimität umgeben sind, bietet dieses imaginäre Ziel immer noch Platz für Forderungen nach weiteren Strukturanpassungsmaßnahmen, unabhängig von deren sozialen und ökonomischen Folgen. In absolutem Einklang mit der neoliberalen Orthodoxie lautet die implizite Formel: Heutige Entbehrungen sind die notwendige Voraussetzung für zukünftigen Wohlstand.
Die Tatsache, dass der Wohlfahrtsstaat innerhalb der EU selbst den neoliberalen Attacken ausgesetzt ist, entkräftet die ideologische Wirkungskraft dieses Narrativs in keiner Weise. Weder die sozialen Konsequenzen des Lissabon Vertrags und die weitere Vertiefung dessen, was liberale KommentatorInnen als „Demokratie-Defizit“ der EU bezeichnen, noch die Krise der Eurozone, die Griechenland-Krise und ihr Zusammenhang mit der Unnachgiebigkeit der merkantilistischen Politik Deutschlands – nichts dergleichen wurde in den Medien kritisch beleuchtet oder konnte in irgendeiner Art und Weise das Bekenntnis der politischen Eliten zum Ziel einer EU-Mitgliedschaft abschwächen.
Darüber hinaus sollten auch jene Umfragen, die nahe legen, dass der Enthusiasmus für eine EU-Mitgliedschaft in der kroatischen Bevölkerung sinkt, nicht überbewertet werden: Zum einen werden derartige Positionen nicht im Parlament repräsentiert. Und zum anderen haben der lange Aufschub und die stetig neuen Anforderungen, die an Kroatien als Bedingung für die Mitgliedschaft gestellt werden, in der Bevölkerung in gewissem Maße zur Verbreitung eines müden Zynismus geführt. Dieser ist wohl auch mit einer Brise kollektiver, narzistischer Verletzung angereichert, weil mit Rumänien und Bulgarien zwei Staaten der EU bereits beitreten konnten, die einen solchen Beitritt aufgrund ihrer ökonomischen Situation vermeintlich nicht verdient haben. Da im Falle eines Referendums mit intensiven Kampagnen der Medien und aller größeren Parteien zugunsten der Mitgliedschaft zu rechnen wäre, bleibt eine tatsächliche Ablehnung des EU-Beitritts jedoch unwahrscheinlich.

Gibt es neben solchen eher tristen Entwicklungen, wie ihr sie jetzt nachgezeichnet habt, auch Positives zu berichten? Gibt es Beispiele für soziale Kämpfe oder Widerstand, der sich formiert?

M.: Das hängt davon ab, was man als positiv bezeichnen möchte. In den Medien gibt es zwar einige kritische Stimmen zur Auslandsverschuldung der Ukraine, aber davon scheinen die Herrschenden relativ unbeeindruckt. Außerdem ist noch völlig unklar, wie die „Reformen“, über die der amtierende Präsident derzeit spricht, genau aussehen werden. Zudem wächst im Land die Zustimmung für die relativ junge, rechtsgerichtete Partei Svoboda. Aktuellen Umfragen zufolge kommt sie in einigen Regionen im Westen bei Lokalwahlen auf 25%–33%.

S: Gezwungen, auf die Forderungen der EU zu reagieren, veröffentlichte die konservative Regierung jüngst ihren Plan zur Konjunkturbelebung, der neoliberale Orthodoxie mit rhetorischen Zugeständnissen verband. In den bürgerlichen Medien wurde daraufhin lamentiert, dass selbst die Umsetzung der „positiven” und „vernünftigen” Aspekte des Entwurfs sehr unwahrscheinlich sei. Die Reaktion der oppositionellen SozialdemokratInnen war ebenso ablehnend. Anstatt jedoch den grundlegenden neoliberalen Inhalt des Plans zu kritisieren, behaupteten die SozialdemokratInnen einzig, dass die Konservativen ihre Vorschläge geklaut hätten. Kurz darauf kündigte die Regierung an, dem Parlament einen Entwurf für ein neues Arbeitsgesetz vorzulegen. Die Arbeitsverhältnisse sollten noch flexibler und der Schutz der ArbeiterInnen vor Entlassungen noch prekärer werden – alles im Dienste eines „guten Geschäftsklimas“, versteht sich. Die für gewöhnlich zerstrittenen und schwerfälligen Gewerkschaften reagierten umgehend mit einer Petition für ein Referendum zu diesem Arbeitsgesetz und sammelten in nur zwei Wochen eine beispiellose Zahl von 900.000 Unterschriften. Die Regierung sah sich daraufhin gezwungen, die Umsetzung des Entwurfs zumindest temporär auf Eis zu legen. Die Verhandlungen zwischen GewerkschaftsführerInnen und dem Premierminister führten jedoch zu keiner Einigung. Die frustrierte Regierung zweifelte daraufhin die Rechtmäßigkeit von 500.000 Unterschriften an – ein offensichtliches Beispiel für opportunistischen Zynismus, der den Spott der Medien nach sich zog und zu einem wütenden Aufschrei in der Bevölkerung führte.
Jüngst hat in Zagreb ein Hungerstreik von Textilarbeiterinnen, die seit Monaten keinen Lohn erhalten haben, zu öffentlichen Protesten und Solidaritätsbekundungen von Seite der Studierendenbewegung geführt. Letzte wurde umgekehrt von ArbeiterInnen öffentlich und auch logistisch unterstützt. Gerade die Studierendenbewegung sowie Anti-Gentrifizierungs-AktivistInnen haben sich als die militantesten GegnerInnen dessen erwiesen, was David Harvey „Akkumulation durch Enteignung“14 nennt. Auch einige feministische Gruppierungen haben sich den jüngsten Protesten angeschlossen. Ob diese Aktivitäten erste Anzeichen für das Entstehen einer stabilen und breiten Koalition gegen die neoliberale Politik sind, wird sich erst noch zeigen müssen. Die Antwort der Premierministerin Jadranka Kosor – deren Regierung in jüngster Zeit von Korruptionsaffären und personellen Skandalen erschüttert wurde – auf die Kämpfe fiel jedenfalls ebenso plump aus wie die der anderen mächtigen kroatischen PolitikerInnen: Ihren großen politischen Weisheiten zufolge sei der Zukunft des Landes besser durch weitere Privatisierungen denn durch Proteste auf den Straßen und Hungerstreiks gedient. Während ersteres von der EU explizit eingefordert wird, setzt letzteres wohl höchstens unsere Beitrittschancen in den exklusiven Club der Mächtigen und Reichen aufs Spiel.

Maria ist Medienaktivistin in Kiew und Budapest und engagiert sich bei Amnesty International Ungarn sowie dem Morze Infoshop in Budapest (Homepage: http://balkans.puscii.nl/?q=content/morze-infoshop-website-and-description-update).

Stipe ÄurkoviÄ ist Absolvent der Germanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Filozofski fakultet in Zagreb und in der Bewegung für gebührendfreies Studieren aktiv. Er schreibt unter anderem für die Zeitschrift Zarez und übersetzt zur Zeit David Harveys A Brief History of Neoliberalism ins Kroatische

Anmerkungen
1 Interview und Übersetzung: Redaktion Perspektiven.
2 Die Zahlen sind der Institutshomepage entnommen. Anm. d. Ü.: Leider ist diese nur auf kyrillisch verfügbar (unter: http://bd.fom.ru/report/map/ukrain/ukrain_eo/du100430).
3 Anm. d. Übers.: Als PIIGS („Schweine“) werden die fünf EU-Staaten Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien bezeichnet, denen in der „Eurokrise“ unterstellt wurde, ihnen könnte aufgrund ihrer hohen Staatsverschuldung der Staatsbankrott drohen.
4 Die meisten Zahlen sind den offiziellen Statistiken der Kroatischen Zentralbank HNB (Hrvatska narodna banka) entnommen. Diese sind online verfügbar unter: http://www.hnb.hr/statistika/hstatistika.htm
5 Anm. d. Übers.: Ante MarkoviÄ war von 1986 bis 1988 Präsident der Sozialistischen Republik Kroatien und von 1989 bis 1991 Premierminister der SFR Jugoslawien.
6 Anm. d. Übers.: Jeffrey Sachs ist ein US-amerikanischer Ökonom, der u. a. als Berater für den IWF, die WTO und die Weltbank tätig war und derzeit als Sonderberater für die Millennium-Entwicklungsziele (MDGs) der Vereinten Nation fungiert.
7 vgl. https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/hr.html
8 Anm. d. Übers.: Julia Timoschenko war von Januar bis September 2005 und von Dezember 2007 bis März 2010 Premierministerin der Ukraine.
9 Anm. d. Übers.: Wiktor Juschtschenko war von Dezember 1999 bis Mai 2001 Ministerpräsident und von Januar 2005 bis Februar 2010 Präsident der Ukraine.
10 Anm. d. Übers.: Viktor Yanukovych war bereits zuvor – von November 2002 bis Dezember 2004 – Premierminister der Ukraine.
11 Anm. d. Übers.: Leonid Kuchma war von Juli 1994 bis Jänner 2005 Präsident der Ukraine.
12 Anm. d. Übers.: Das Stahlunternehmen wurde 2005 von der Mittal Steel Company ersteigert und trägt seitdem den Namen Mittal Steel Kryviy Rih.
13 Anm. d. Übers.: Mit dem Begriff der „Orangenen Revolution“ werden die Ereignisse rund um die Präsidentschaftwahl 2004 in der Ukraine bezeichnet. Nachdem es bei der Wahl zu Wahlfälschungen gekommen war, protestierte die Bevölkerung mehrere Wochen lang, bis schließlich die Stichwahl wiederholt wurde. In dieser siegte Wiktor Juschtschenko gegen den zuvor zum Sieger erklärten Viktor Yanukovych.
14 Anm. d. Übers.: Mit dem Begriff „Akkumulation durch Enteignung“ bezeichnet der marxistische Wirtschaftsgeograph David Harvey den Umstand, dass die von Marx als „ursprüngliche“ oder „primitive“ „Akkumulation“ bezeichneten Prozesse der Kapitalakkumulation durch (staatliche) Gewalt und Raub ein zentrales Charakteristikum auch des entwickelten Kapitalismus darstellen (vgl. Harvey, David: Der neue Imperialismus, Hamburg 2005, S. 136ff.).





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