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Editorial
von Gruppe Perspektiven

Krise? Welche Krise? Kaum vergehen einige Monate, ohne dass der Zusammenbruch mehrerer Großbanken oder der Beinahe-Bankrott ganzer Ökonomien zu vermelden ist, entsteht der Eindruck, als seien die letzten drei Jahre nichts weiter als ein böser Traum ohne Bezug zur kapitalistischen Realität gewesen.

Erscheint dieses Bild schon aus ökonomischer Perspektive mehr als zweifelhaft – schließlich bestehen die strukturellen Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise unvermindert fort –, wird die zur Schau gestellte Normalität spätestens mit Blick auf die Folgen der Krise als ideologisches Manöver der Herrschenden erkennbar. Während die Abwälzung der Krisenkosten auf breite Bevölkerungsschichten eine weitere gesellschaftliche Polarisierung sowie die Verschärfung der sozialen Krise bewirkt, droht eine Verschiebung des politischen Terrains: Einerseits kann die Art und Weise, in der die Krise von oben bearbeitet wird, bereits existierende Tendenzen der Ent-Demokratisierung, Passivierung und systematischen De-Politisierung realer gesellschaftlicher Widersprüche verstärken. Andererseits besteht die Gefahr, dass politische Mobilisierung die Form der Ausbreitung und Intensivierung wohlstandschauvinistischer, nationalistischer und (kultur-)rassistischer Diskurse und Praktiken annimmt.
Zwar eröffnen die Krise und ihre Folgen auch Möglichkeiten für soziale Kämpfe und progressive Entwicklungen. Angesichts der fortgesetzten Schwäche der Linken sind wir aber zunächst mit einer Situation konfrontiert, die unterschiedlichen autoritären, antidemokratischen Kräften – von neoliberal bis rechtsextrem, von parteiförmig bis außerparlamentarisch – mehr denn je einen idealen Nährboden liefert. In der Fortsetzung von Perspektiven Nr. 9 „Rechtsextremismus und soziale Krise“ fragen wir daher im Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe danach, wie „Autoritäre Antworten auf die Krise“ aussehen (können).

Wie es für eine vorwiegend in Wien aktive Gruppe naheliegend ist, eröffnen wir den Schwerpunkt mit einer Analyse der rechtsextremen FPÖ. Nico Schlitz und Felix Wiegand untersuchen, wie die Partei in den letzten eineinhalb Jahren versucht hat, aus der Krise politisch Kapital zu schlagen. Dabei wird nicht nur deutlich, mit welcher Konsequenz die FPÖ soziale Themen aufgreift und rassistisch wendet, sondern auch, dass trotz aller Erfolge das Dritte Lager keineswegs frei von Widersprüchen ist.
Was sich für die FPÖ in Österreich sagen lässt, gilt auch für den Neoliberalismus europa- und weltweit: Dass sein Erfolg maßgeblich auf dem geschickten Ausnutzen von Krisenprozessen beruht. Wie Bonn Juego und Johannes Dragsbaek Schmidt nachweisen, hat sich daran nichts geändert. Am Beispiel von IWF und Weltbank sowie der Situation in Ost- und Südostasien wird vielmehr sichtbar, in welchem Umfang die gegenwärtige Krise auf internationaler Ebene von autoritären, antidemokratischen Kräften als Gelegenheit wahrgenommen wurde, die eigene Machtposition zu konsolidieren und auszubauen.
Für Osteuropa gelangen die AktivistInnen Maria und Peter, die wir in einem Interview zur aktuellen Situation in der Ukraine bzw. Kroatien befragt haben, zu einem ganz ähnlichen Fazit. Anhand eines Rückblicks auf die Transformationsprozesse der letzten 20 Jahre und einer kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle der EU, des IWFs und Russlands machen sie nachvollziehbar, warum auch in der europäischen Semi-Peripherie v. a. die Lohnabhängigen für die Krise zahlen müssen.
Nach diesen zeitdiagnostischen Beiträgen wechseln wir zum Abschluss unseres Schwerpunkts auf die historisch-theoretische Ebene. Der Aufstieg und die Machtergreifung faschistischer Bewegungen und Parteien im Europa der 1920er und -30er Jahre stellt zweifellos das extremste Beispiel für eine autoritäre Krisenantwort dar. Um Gefahren richtig einzuschätzen und gleichzeitig ungerechtfertige Panikmache vermeiden zu können, ist die Auseinandersetzung mit dem historischen Faschismus gerade in der gegenwärtigen Situation dringend geboten. Deshalb zeichnen Tobias Boos, Veronika Duma und Hanna Lichtenberger wichtige Stränge linker Faschismustheorien nach und veranschaulichen deren Erklärungspotential anhand der Entwicklung des Faschismus in Italien und des Nationalsozialismus in Deutschland.

Darum, dass sich autoritäre und antidemokratische Kräfte Krisensituationen zunutze machen, geht es zunächst auch außerhalb des Schwerpunkts: Peter Hallward analysiert die Situation in Haiti neun Monate nach dem verheerenden Erdbeben und zeigt, wer von der Katastrophe profitiert und warum die armen Massen erneut die VerliererInnen sind.
Wie eindrucksvoll es Kinofilmen gelingen kann, revolutionstheoretische Fragen aufzuwerfen und den Blick auf die Möglichkeiten einer „anderen Welt“ zu eröffnen, zeigt Paul Pop: Er stellt in seinem Artikel zehn Filme über die Schönheit und das Scheitern der Revolution vor.
Weil wir bis auf weiteres aber noch mit der bitteren Realität des globalen Kapitalismus konfrontiert sind, präsentieren wir euch eine neue Serie zu marxistischen Krisentheorien: Im ersten Teil erarbeitet Philipp Probst das theoretische Grundgerüst für ein Verständnis der strukturellen Ursachen kapitalistischer Krisentendenzen.

Der Rezensionsteil fällt diesmal zwar recht theorielastig, dafür aber nicht weniger interessant aus: neben sozialen Bewegungen in Argentinien spannt sich der Bogen von kritischer (Arbeits-)Soziologie über Ideologietheorien bis hin zur Radikalen Philosophie von Frieder Otto Wolf. Anschließend wartet wie immer das große Rosinenpicken.

Trotz des etwas pessimistischen Ausgabeschwerpunktes bleibt nicht zu vergessen: Wo sich (autoritäre) Herrschaft formiert, entsteht auch immer Raum für Widerstand.
Dementsprechend: ¡Get organized!

Eure Perspektiven-Redaktion





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