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Verordnete Ordnungen
von Stefan Probst

Etzemüller, Thomas (Hg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20.Jahrhundert, Bielefeld: transcript Verlag 2009, 328 Seiten, € 30,70

Im Florida Film hat Walt Disney 1966 die Konturen von „Waltopia“, seiner Vision einer rational durchkonstruierten und durchorganisierten Gesellschaft der Weltöffentlichkeit vorgestellt. In den Sümpfen Floridas sollte auf 113 Quadratkilometern die Experimental Prototype Community of Tomorrow als Gegenentwurf zu Hektik, Dreck, Kriminalität und Desorganisation moderner Großstädte entstehen: ein Prototyp einer vernünftigen sozialen Ordnung. Zwar wurde Disneys Utopie nie verwirklicht, sie verweist aber auf ein Ordnungsdispositiv, das – mit Vorläufern im späten 19. Jahrhundert – zwischen den 1920er und 1960er Jahren seine Hochblüte erlebte.
Während der erste Weltkrieg selbst als Laboratorium für Modelle technokratischer Steuerung ganzer Gesellschaften gedient hatte, verdeutlichte sein Ende drastisch die „Gefahren“ sozialer Desintegration. Als Reaktion auf die diagnostizierte Krise erarbeiteten ExpertInnen mit den Mitteln moderner Sozialtechnologie und auf Grundlage der wissenschaftlichen Erfassung der Bevölkerung umfassende Ordnungspläne, die jeweils darauf zielten, „sozialökologische Umwelten“ zu schaffen und auszugestalten, welche die von sozialen und politischen Verwerfungen durchzogene Gesellschaft in „organische Gemeinschaften“ zu re-integrieren suchten.
Einsatzpunkt dieser Ordnungsprojekte war die Strukturierung von Wohn-, Verkehrs-, Betriebs- und städtischem Raum sowie die Rationalisierung und Effektivierung der Alltagspraktiken der Menschen, auf deren Grundlage die kontrollierte Steuerung gesellschaftlicher Stabilität und Entwicklung ermöglicht werden sollte.
Diese Kombination von Sozialtechnologien, bestimmter sozialer Ordnungsmodelle und einem dezidierten Gestaltungsimperativ wird im von Thomas Etzemüller herausgegebenen Sammelband unter dem Schlagwort social engineering diskutiert. Dabei geht es zunächst um eine Systematisierung und Präzisierung des meist sehr unspezifisch verwendeten Begriffs. Anhand von zwölf empirischen Untersuchungen wird dieser dann in weiterer Folge konkretisiert.
Etzemüller konturiert in seiner programmatischen Einleitung social engineering als vielschichtiges Phänomen. Grundlegend handle es sich um „Verhaltenslehren“, die nicht über Verordnungen operierten, sondern über eine subtile Pädagogik der Normalisierung und über räumliche Strukturierung Gemeinschaften „neuer Menschen“ schaffen wollten: den taylorisierten Industriebetrieb als Gemeinschaft der ArbeiterInnen, die Familie als Kameradschaft der EheparterInnen und Kinder, Nachbarschaften als städtische Gemeinschaften, samt Kontrolle der Bewegungen im Raum, von der Küche bis zur Nation. So sollte z.B. die räumlich-funktional differenzierte Wohnung unerwünschte Verhaltensweisen (wie die als moralisch und hygienisch problematisch angesehene Vermischung von Schlafen, Kochen und Körperhygiene) verhindern, und zugleich den BewohnerInnen rationale, effiziente Praktiken antrainieren, die durch die Struktur des Wohnraums selbst nahegelegt wurden. Die Küche konnte dann etwa als Symbiose von Hausfrau und Technik imaginiert werden.
„Ordnung“ gilt hier zugleich als Zielvorstellung und als permanenter Prozess der Adjustierung, angeleitet von ExpertInnen einer verwissenschaftlichten Politik, die aus der als Krise wahrgenommenen Gegenwart die Pflicht zur Intervention ableiteten. Die Spannbreite des social engineering reicht folglich von sozialstaatlichen Techniken bis zu totalitären Experimenten und umfasst Stadt-, Raum- und Verkehrsplanung ebenso wie die Regulation von Wohnraum oder Konsumverhalten sowie die sozialeugenischen Visionen und Praktiken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In zwölf empirischen Studien, die hier nicht im Detail diskutiert werden können, wird dieses Spektrum sozialplanerischer Ordnungstechniken auf spannende Art und Weise verdeutlicht. Die Zusammenschau der Beiträge zeigt zudem auch, welche neuen Perspektiven eine „Problemgeschichte“ des social engineering als „spezifischer Modus der Problematisierung der Moderne“ auf eine Geschichte des 20. Jahrhunderts – jenseits der Erzählung des „Zeitalters der Extreme“ – eröffnen kann.
Anselm Doering-Manteuffel vertieft diese Überlegungen in einem zweiten programmatischen Einleitungsaufsatz, der anhand unterschiedlicher Semantiken von „Ordnung“ drei sich überlagernde „Zeitschichten“ seit ca. 1880 differenziert. Während in der ersten Phase, die bis in die 1940er Jahre reicht, die liberale Fortschrittsidee von der Suche nach „natürlichen, ewigen Ordnungen“ abgelöst wurde, wird in einer zweiten Phase zwischen 1929 und den 1980er Jahren die Fortschrittsidee als planbarer und planungsbedürftiger Fortschritt aktualisiert. Diese Phase modernisierungstheoretischer Ordnungsentwürfe sei im Verlauf der vergangenen vierzig Jahre wiederum durch ein neues Ordnungsparadigma ersetzt worden. Dieses behaupte nicht mehr die Planbarkeit von Gesellschaft, sondern die Immanenz permanenter Gegenwärtigkeit: Politik reduziert sich darin von technokratischer Sozialplanung auf technisches Mikromanagement.
Auch wenn die Praktiken und Techniken des social engineering seit den 1960er Jahren aufgrund der Erfahrung, dass Pluralisierung nicht notwendig mit sozialer Desintegration einhergeht, massiv an Überzeugungskraft eingebüßt haben, lebt dessen Erbe auch heute, unter den veränderten Bedingungen der von Doering-Manteuffel als „poststrukturalistisch“ bezeichneten sozialen Konfiguration fort. Ordnungsentwürfe und biopolitische Regulation kreisen heute zwar nicht mehr um die Frage der Reintegration in „organische Gemeinschaften“, zielen aber ebenfalls auf die Regulation der Alltagspraktiken über Lernprozesse, die den Menschen vermitteln, sich selbst, ihre Ernährung, ihre Körper, ihr Verhalten „in Form zu bringen“. Nicht zuletzt, weil der Sammelband Kontinuitäten und Brüche gegenwärtiger Ordnungsvorstellungen historisch zu verorten hilft, ist Die Ordnung der Moderne uneingeschränkt zu empfehlen.





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