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Rosinenpicken
von Gruppe Perspektiven


Die größte und dynamischste soziale Bewegung in Österreich seit zumindest einem Jahrzehnt hat eine unüberschaubare Menge an Analysen, Berichten, Kommentaren und Beiträgen zur Bildungspolitik produziert. Hervorheben wollen wir hier drei besonders gelungene Publikationen: Das 16 Seiten starke Special Protest-Wissenschaft der Wiener Monatszeitschrift Malmoe, die erste Ausgabe von andiamo!, der Mobilisierungszeitung zum Bologna-Gipfel im März 2010, und die Textsammlung Jenseits von Humboldt. In allen drei Fällen schreiben AktivistInnen der unibrennt-Bewegung und ihr solidarisch Verbundene. Im Jenseits von Humboldt-Reader werden radikale Alternativen zum vorherrschenden Wissenschaftsbetrieb aus der Perspektive einer „solidarischen Ökonomie des Wissens“ diskutiert. andiamo! #1 widmet sich Bildungsprotesten in Österreich und international aus aktivistischer Perspektive. Und Malmoe vereint Analysen der Bewegung, die noch in deren Hochphase entwickelt wurden, mit strategischen Vorschlägen und grundlegender Kritik an der Bildungspraxis der neoliberalisierten Hochschulen.

Auch wir PerspektivistInnen waren publizistisch nicht untätig: Mario Becksteiner hat zu Streikperspektiven an Universitäten (im erwähnten Malmoe-Special) geschrieben und Thesen zu sich verändernden Subjektivierungsformen in den Uni-Protesten formuliert (in der Gewerkschaftszeitschrift Arbeit & Wirtschaft). Benjamin Opratko hat Entstehung, Zusammensetzung und Perspektiven der Bewegung in analyse + kritik sowie in lunapark21 diskutiert. Und schließlich haben wir als Gruppe Perspektiven eine Kritik an der reaktionären
und verleumderischen Haltung der unique – der Zeitung der Österreichischen HochülerInnenschaft an der Uni Wien – zu den Uni-Protesten formuliert, die auf unserer Homepage nachzulesen ist.

Das Jahr 2010 begann jedoch gleichzeitig auch auf ähnlich tragische Weise, wie 2009 geendet hat. In der letzten Perspektiven-Ausgabe haben wir noch auf die Interviews mit Giovanni Arrighi und Peter Gowan verwiesen, die jene kurz vor ihrem Ableben der Zeitschrift New Left Review gaben. Seither sind gleich mehrere prominente Theoretiker und Aktivisten verstorben, deren scharfsinnige Analysen und entschlossene politischen Interventionen der radikalen Linken abgehen werden. Zuletzt traf es den französischen Philosophen, langjährigen Aktivisten der LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire) und Mitbegründer der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA), Daniel Bensaïd, der im Januar 2010 nach langer Krankheit an Aids starb. Zwar sind die meisten seiner Publikation weiterhin nur auf französisch verfügbar, eine Auswahl an Artikeln in englischer Übersetzung findet sich aber im Marxists Internet Archive. Eine echte Empfehlung: Leaps, Leaps, Leaps!, ein 2002 erschienener Aufsatz, in dem Bensaïd sich auf originelle und erfrischend undogmatische Weise mit der politischen Theorie und Praxis Lenins beschäftigt, um Argumente für eine
revolutionäre Strategie und Politik im 21. Jahrhundert zu entwickeln.

Chris Harman, dessen letztes Buch, Zombie Capitalism, von Philipp Probst in dieser Ausgabe von Perspektiven besprochen wird, war bis zu seinem plötzlichen Tod im November 2009 Herausgeber des International Socialism Journal. Dessen aktuelle Ausgabe widmet ihm einen Heftschwerpunkt, in dem nicht nur Erinnerungen an den langjährigen Genossen versammelt werden, sondern auch Beiträge zur Analyse der aktuellen Wirtschaftskrise von Guglielmo Carchedi und Harman selbst.

Die Krise war in den letzten Jahren auch für Jörg Huffschmid, der im Dezember 2009 verstorben ist, zentraler Untersuchungsgegenstand. Er war über Jahrzehnte der profilierteste marxistische Ökonom im deutschsprachigen Raum und prägte den Begriff des „Finanzmarktkapitalismus“ für jene Entwicklungsweise der Marktwirtschaft,
die gerade so eindrucksvoll gegen die Wand gefahren ist. Dass sowohl die marktschreierische Verkündung eines raschen Wiederaufschwungs, als auch apokalyptische Endzeiterwartungen von Teilen der veröffentlichten Meinung wenig wahrscheinliche Szenarien sind, hat Huffschmid in einem zweiteiligen Artikel für die Tageszeitung Junge Welt erklärt.

Wie die Krise das politische Terrain für gewerkschaftliche Kämpfe aktuell prägt, haben Mario Becksteiner, Tobias Boos und Ako Pire in Perspektiven Nr. 8 am Beispiel Österreichs analysiert. Als weiterführende Lektüre bietet sich hier die jüngste Ausgabe von Das Argument an. Darin beleuchten Bernd Röttger und Mario Candeias die bisherigen Versuche deutscher Gewerkschaften, ihren Machtverlust durch eine neue kämpferischere Gewerkschaftspraxis entgegenzuwirken. Im Angesicht der Krise drohe jedoch eine Reintegration der Gewerkschaften in ein restauratives Krisenregime. Spannend ist auch der Artikel von Rainer Berger und Malte Meyer, der das oft gehypte Konzept des „Organizing“ in den US-Gewerkschaften kritisch diskutiert. Sie zeigen, dass letztere durch Organizing-Strategien keineswegs einen linearen Zuwachs an Durchsetzungsmacht verzeichnen, sondern insbesondere unter Obama und angesichts der Auswirkungen der Krise vor vielen ungelösten strategischen und organisatorischen Problemen stehen.

Seit Perspektiven Nr. 3 (Pun Ngai zum „Schlafsaalkapitalismus in Shenzhen“)
beschäftigen wir uns mit den Entwicklungen der Klassenkämpfe in China. Daran anschließend möchten wir die erste Ausgabe des im Netz frei zugänglichen Global Labour Journal empfehlen, in der sich eine interessante Sammlung von Texten findet, die sich der Analyse neoliberaler Globalisierungsprozesse sowie der Organisierung und den Kämpfe von ArbeiterInnen in China und Indien widmen.

Dann wollen wir eure Aufmerksamkeit noch auf zwei Artikel zur Protestbewegung im Iran lenken, die Behrooz Rahimi in Perspektiven Nr. 9 analysiert hat. Zib Mir-Hosseini beschreibt im Middle East Report Online, wie die „grüne Bewegung“ Geschlechterstereotype und sexuelle Tabus in Frage stellt und die „Kultur der Ehre“ brüchig macht. Und Jasmin Ramsey widmet sich jenen poltischen Kräften, die noch vor kurzem für eine Militärintervention und Sanktionen gegen den Iran argumentierten und sich nun als besonders entschlossene UnterstützerInnen der iranischen Widerstandsbewegung darstellen. Der auf dem Pulse-Blog erschienene Beitrag schließt unmissverständlich: „The new-found affinity the Right has found for the Iranian protestors is neither genuine nor worthy of praise and should be pointed out as such especially when they combine it with calls to war on the same people they claim their readers should now support.“ Zwar last sich im deutschsprachigen Raum diese sonderbare Kombination aus Bellizismus und Solidarität mit den potentiellen Zielen westlicher Bombenteppiche eher bei AkteurInnen der selbsternannten Linken – etwa bei den AktivistInnen der kurios betitelten Kampagne „Stop the Bomb“ – finden. Ramseys Argumente sind aber auch in diesem Zusammenhang hilfreich.

Und schließlich: wer Zeit und Geld hat, um sich drei oder vier Jahre in eine Berghütte mit W-Lan zurück zu ziehen, um die wichtigsten politischen und theoretischen Debatten der westdeutschen Linken von Anfang der 1970er Jahre bis heute nachzulesen, kann das mit Hilfe des soeben online gegangenen Volltext-Archivs der Prokla tun. Deren neue, schicke Homepage bietet mit Ausnahme der jeweils drei letzten Jahrgänge alle Ausgaben seit 1971 (als der Titel noch für Probleme des Klassenkampfs stand) als pdf-Files zum Download. Wem die EinsiedlerInnenoption nicht zusagt, kann sich per Volltextsuche durch die eigenen Interessengebiete klicken oder die „Brennpunkte“, heftübergreifende Zusammenstellungen von Artikeln zu aktuellen Themen wie Krise, Naturverhältnisse oder Stadtforschung durchstöbern. Da können einige Schätze gehoben werden – zum Beispiel Anwar Shaiks Artikel zu marxistischen Krisentheorien aus dem Jahre 1978, der allerhand Rüstzeug für die polit-ökonomischen Debatten im Krisenjahr 2010 bietet.

Zum Nachlesen:
Schwerpunkt Protest-Wissenschaft, Malmoe Nr. 48, Dezember 2009, S. 17-32.

andiamo! #1, Dezember 2009, erhältlich überall wo AktivistInnen sind, und unter http://bildungsstreik.at/andiamo/andiamo1.pdf

Plattform Massenuni (Hg.): Jenseits von Humboldt. Von der Kritik der Universität zur globalen Solidarischen Ökonomie des Wissens. Workshop, Dokumentation & theoretische Hintergründe – eine Textsammlung, erhältlich über massenuni@gmx.at.

Becksteiner. Mario: Streikperspektiven an den Universitäten. Erste Schritte für einen Plan, in: Malmoe Nr. 48, Dezember 2009, S. 23.

Ders.: Es brodelt in der Uni. Thesen eines besetzenden Lehrenden zu den aktuellen
Protesten an den österreichischen Universitäten, in: Arbeit & Wirtschaft, S. 35-35.

Opratko, Benjamin begin_of_the_skype_highlighting     end_of_the_skype_highlighting: Hurra, hurra, die Uni brennt!, in: analyse + kritik Nr. 544, S. 19.

Ders.: Bologna im Wiener Audimax. Bildungsproteste in Österreich werden zum Flächenbrand, in: lunapark 21 Nr. 8, Winter 2009/2010, S. 20-21.

Gruppe Perspektiven: Anti-unique. Zur Verleumdung der unibrennt-Bewegung durch die Zeitung der Österreichischen HochschülerInnenschaft Wien, http://www.perspektiven-online.at/?p=636

Daniel Bensaïd Archive, http://marxists.org/archive/bensaid/index.htm.

Bensaïd, Daniel: Leaps! Leaps! Leaps!, in: International Socialism Journal Nr. 95, Summer 2002, S. 73-86, http://pubs.socialistreviewindex.org.uk/isj95/bensaid.htm.

Birchall, Ian: Chris Harman: a life in the struggle; Choonara, Joseph: Another side of Chris Harman; Harman, Chris: Not all Marxism is dogmatism: a reply to Michael Husson; Durgan, Andy: A whiff of tear gas;

Carchedi, Guglielmo: Zombie Capitalism and the origin of crises, in: International Socialism Journal Nr. 125, Winter 2010, http://isj.org.uk/index.php4?s=contents&issue=125

Huffschmid, Jörg: Neue Quellen des Profits. Nach der Krise: Das Ende des Finanzmarktkapitalismus? Teil I: Die Akteure auf den internationalen Kapitalmärkten und ihre bisherigen Hauptstrategien, in: Junge Welt, 19. Mai 2009, http://www.axel-troost.de/serveDocument.php?id=1118&file=6/6/1159.pdf

Ders.: Keine Wende in Sicht. Nach der Krise: Das Ende des Finanzmarktkapitalismus? Teil II: Der Charakter des gegenwärtigen Abschwungs und seine politischen Dimensionen, in: Junge Welt, 22. Mai 2009, http://www.axel-troost.de/serveDocument.php?id=1117&file=6/0/b17.pdf

Candeias, Mario/Röttger, Bernd: Ausgebremste Erneuerung? Gewerkschaftspolitische
Perspektiven; Berger, Rainer/Meyer, Malte: US-Gewerkschaften im Jahr ein nach Lehman: From bad to worse?, in: Das Argument Nr. 284, 894-904 und 916-925.

Global Labour Journal, Special Issue on Globalization(s) and Labour in China and India, Vol. 1, No. 1, 2010, http://digitalcommons.mcmaster.ca/globallabour/Mir-Hosseini, Ziba: Broken Taboos in Post-Election Iran, in: Middle East Report Online, 17. Dezember 2009, http://www.merip.org/mero/mero121709.html

Ramsey, Jasmin: On the Right’s Newfound Affinity for the „Iranian People“, http://pulsemedia.org/2009/12/28/onthe-rights-new-found-affinity-for-theiranian-people/
Prokla-Online-Archiv: http://www.prokla.de/jahrgange/

Shaikh, Anwar: Eine Einführung in die Geschichte der Krisentheorien, in: Prokla Nr. 30, 1978, S. 3-42.





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