Im Sommer findet in Südafrika die Fußballweltmeisterschaft statt. Dass die Lebensrealität der Mehrheit der SüdafrikanerInnen mit dem Hochglanz-Image globaler Sportevents nichts zu tun hat, zeigt der Dokumentarfilm When the Mountain meets its Shadow (dt.: Im Schatten des Tafelbergs). Franziskus Forster sprach mit den FilmemacherInnen Romin Khan, Alexander Kleider und Daniela Michel sowie mit Ashraf und Mne, zwei der ProtagonistInnen des Films, über den täglichen Überlebenskampf in den Armenvierteln rund um Kapstadt und über Formen solidarischen Widerstands.
Wie kam es zu diesem Filmprojekt und was ist der Grundgedanke Eures Films?
Alexander: Normalerweise verfolgen wir immer das Ziel, Dokumentarfilme über sozialkritische Themen oder – vor allem in letzter Zeit – über die Auswirkungen des Neoliberalismus auf einzelne Menschen zu machen. Romin Khan, der auch bei dem Film beteiligt war, hat ein Jahr in Kapstadt studiert und mir von den dort vorherrschenden sozialen Umständen erzählt. Das war der Auslöser dafür, dass wir uns dazu entschieden haben, „Südafrika“ als Projekt in Angriff zu nehmen.
Ihr habt euch ja bewusst das Medium „Film“ ausgesucht. Welche Erwartungen habt ihr damit verbunden?
Daniela: Unser Ziel ist es, Erfahrungsräume zu schaffen, in denen man sich austauschen kann. Für uns war und ist vor allen Dingen die Filmtour sehr wichtig, da wir dadurch den Film in vielen verschiedenen Kinos oder Veranstaltungsräumen zeigen können und die Möglichkeit haben, mit Leuten zu diskutieren.
Ashraf: Wir versuchen Leuten zu vermitteln, wie es ist, in Armut zu leben. Unsere Filme sollen die Menschen aufrütteln, damit sie sehen, dass die Ursachen für Armut in der weltpolitischen Lage und in der neoliberalen Politik liegen. Ich bin mir zwar sicher, dass die Menschen das im Grunde genommen wissen, aber es ist notwendig, diese Missstände immer und immer wieder aufzuzeigen.
Plant ihr den Film beispielsweise auch in Brasilien oder Indien zu zeigen?
Romin: Wir wollen natürlich, dass der Film so oft wie möglich in der ganzen Welt gezeigt wird. Gerade weil die Probleme ja an verschiedenen Orten relativ ähnlich sind, wäre es, aus unserer Sicht, sehr wichtig, dass die Menschen über diesen Film zusammenkommen. Im Schatten des Tafelberges ist in Deutschland und der Schweiz schon ziemlich präsent. In Kiew und Vancouver läuft der Film auch schon auf diversen Dokumentarfilmfestivals. Wir hoffen natürlich, dass er sich weiter in die verschiedenen Teile der Welt verbreitet, er also auch in Brasilien oder Indien gezeigt wird.
Glaubt ihr, dass die Fußballweltmeisterschaft euer Projekt weiter stärkt?
Romin: Ich denke schon, dass die Aufmerksamkeit für den Film im Kontext der Fußballweltmeisterschaft gestiegen ist und noch weiter steigen wird. In den Medien wird immer der positive Einfluss der Weltmeisterschaft auf Südafrika betont – viele Menschen haben daher keine Ahnung davon, dass dieser „ökonomische Gewinn“ den Armen in Südafrika nicht zugute kommt. Der Film soll ihnen daher zeigen, wie die soziale Situation in Kapstadt wirklich aussieht und warum die Weltmeisterschaft diese sogar noch verschlechtern kann.
Mne, Ashraf, ihr seid ja direkt von den Auswirkungen der Weltmeisterschaft betroffen. Was passiert gerade in Kapstadt? Wen treffen die Umwälzungen am meisten?
Mne: Die Auswirkungen der Weltmeisterschaft betreffen in erster Linie die Armen und diejenigen, die gewerblich in der (Innen-)Stadt zu tun haben. Alte Gebäude werden abgerissen, um neue, den „westlichen Standards“ entsprechende Gebäude zu errichten. Dadurch müssen viele Menschen ihre Läden oder Wohnungen räumen und sie werden aus ihren „communities“ vertrieben. Fußball ist an sich ein beliebter Sport in Südafrika – durch die Auswirkungen der Weltmeisterschaft ändert sich das jetzt allerdings zunehmend.
Ashraf: In nur wenigen Monaten wurden – nicht nur in unmittelbarer Nähe zum Stadion – 800 Räumungen vorgenommen. Insgesamt betrifft das 420.000 Menschen. Man sieht ganz deutlich, dass die Regierung die Weltmeisterschaft den Menschen vorzieht. Sie nimmt für kurzfristige Profite und globale Anerkennung zunehmende Obdachlosigkeit und Armut in Kauf. Wie Mne bereits angedeutet hat, ist es so, dass die armen Leute zunehmend die Möglichkeit verlieren, Handel zu treiben, weil sie plötzlich keine Geschäftslokale mehr haben. Das heißt wiederum, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Miete oder ihr Essen zu zahlen.
Was hat es mit der Anti-Räumungskampagne auf sich? Wie und in welchem historischen Kontext ist sie entstanden?
Ashraf: Durch den politischen Wandel 19941 erwarteten alle, dass sich vor allem für die Armen die Situation verbessern würde. Stattdessen wurde der öffentliche Sektor, unter anderem der Wohnungsbau und viele Bildungseinrichtungen, privatisiert. Die Lage der Armen in Kapstadt und also auch unsere eigene Situation ist dadurch natürlich noch prekärer geworden. Auch wenn wir keine Kriminellen sind, wurden und werden wir ständig kriminalisiert.
Um diese Situation zu ändern, formierte sich nach 1994 vor allem in strukturschwachen communities die Anti-Räumungskampagne. Wir gründeten eine Plattform, deren Ziel es war, gemeinsam für unsere Rechte zu kämpfen. Die Situation ist heute zwar noch immer nicht viel besser; die Kampagne ist allerdings in den communities ziemlich bekannt. Die Menschen wissen genau, wer wir sind und was wir tun. Sie kommen auch immer öfter mit ihren Problemen zu uns. Die Anti-Räumungskampagne verhandelt nicht – sie protestiert. Die Protestformen haben sich seit dem Ende der Apartheid allerdings stark gewandelt. Da die Politik weiß, wie sie mit traditionellen Protestformen umgehen muss, um sie ins Leere laufen zu lassen, versuchen wir neue, kreative Protestformen zu entwickeln. Die direkte Aktion ist ein Beispiel dafür. Wenn beispielsweise von staatlichen oder privaten Organen Wasserleitungen durchtrennt werden, weil die Rechnungen nicht bezahlt wurden, fixieren wir sie einfach wieder. Wir gehen auch gemeinsam in Kliniken und versuchen Gratisbehandlungen für arme Menschen zu erzwingen. Wir wollen unmittelbare Erfolge sehen und versuchen daher direkte Aktionen durchzuführen, anstatt Diskussionen zu führen.
Die Anti-Räumungskampagne hat in vielen Stadtgebieten, in denen es soziale Probleme gibt, Anlaufstellen eröffnet, die gemeinsam mit den communities entscheiden, was unmittelbar getan werden muss und kann. Unsere Ideologie kann daher als communitism bezeichnet werden: Wir versuchen die communities zu stärken und eigenständig zu machen, anstatt – wie eine Behörde – Sachen für sie zu erledigen.
Ein großes Problem eurer Kämpfe scheint das Verhältnis zum African National Congress (ANC) bzw. die Geschichte des ANC zu sein. Es wirkt von außen so, als ob es eine Art Kampf darum gäbe, wer der/die „legitime“ StellvertreterIn der Armen sein darf. Ihr versucht ja über eure Kampagne die Legitimation des ANC herauszufordern.
Ashraf: Der ANC ist eine politische Partei und längst keine revolutionäre Bewegung mehr. Die Mitglieder der politischen Elite innerhalb des ANC mögen zwar Ex-RevolutionärInnen sein, aber jetzt sind sie eben MillionärInnen – wir wissen also, dass sie die Interessen der armen Leute nicht (mehr) vertreten.
Unser Ziel ist es nicht, Legitimation zu erkämpfen. Wir sind gegen jede politische Partei, egal ob das der ANC, die Democratical Alliance, die Inkatha Freedom Party, das United Democratic Movement, die African Christians oder die National Party ist. Einer unserer Grundsätze aus dem Jahr 2004 besagt: „Kein Land, kein Haus – keine Wahl“. D.h. wir sagen unseren Leuten, sie sollen nicht wählen gehen, sondern am Tag der Wahl lautstark protestieren. Am 27. April ist beispielsweise der sogenannte Freedom Day 2. Wir von der Anti-Räumungskampagne „feiern“ an diesem Tag den Unfreedom Day und weisen damit auf die schlechte Situation und die herrschenden Umstände hin.
Versucht ihr auch über offizielle, rechtliche Wege, beispielsweise durch Berufung auf die Verfassungsgrundsätze, etwas zu verändern?
Ashraf: Ja, 2002 haben wir einen Koordinierungsausschuss gegründet, dessen Ziel es war, die Stadt Kapstadt zu verklagen und das Kappen von Wasserleitungen als verfassungswidrig zu deklarieren. Wir wollten so etwas eigentlich nie tun, aber weil wir gesehen haben, dass die Abgeordneten des ANC nicht uns, sondern den Staat unterstützen, haben wir uns dazu entschieden, den offiziellen Weg zu gehen. Mittlerweile hat sich die Arbeit des Koordinierungsausschusses auch ausgeweitet. Wir versuchen beispielsweise die Armen vor einer Verurteilung zu bewahren, wenn sie im Falle von Räumungen gezwungen werden, vor Gericht zu gehen – wenn jemand nämlich nicht vor Gericht geht und einfach in das Haus zurückkehrt, in dem er/sie unter Umständen 30 Jahre gelebt hat, wird er/sie wegen Hausfriedensbruch verurteilt. Wir haben desweiteren in Durban3 gegen ein Gesetz geklagt, das die BewohnerInnen einer unserer communities zu SlumbewohnerInnen erklärt hätte, d.h. die Orte, an denen sie lebten, sollten zu Slums erklärt werden. Dies hätte es der Politik erlaubt, ohne gerichtliches Verfahren jederzeit alles räumen zu lassen. Das Gesetz ist zwar noch nicht verhindert, aber wenigstens steht es jetzt wieder zur Diskussion.
Eigentlich wollen wir überhaupt nicht vor Gericht gehen, aber weil die Politik und die Wirtschaft es machen, machen wir es auch. Wir sind andererseits aber auch davon überzeugt, dass der rechtliche Kampf nur wenig bewirkt und dass Widerstand auf vielen, anderen Ebenen geleistet werden muss.
Versucht ihr auch mit anderen sozialen Bewegungen, z.B. der Landlosenbewegung zusammenzuarbeiten?
Ashraf: Ja natürlich! 2002 sind wir als community im Rahmen der Anti-Räumungskampagne zum Weltkongress für Nachhaltige Entwicklung gefahren. Allerdings stehen wir einigen NGOs auch kritisch gegenüber. Wir haben im Laufe der Jahre leider erfahren müssen, dass sich beispielsweise die South African National NGO Coalition (SANGOCO) all unsere Ressourcen aneignen wollte, weshalb wir uns 2002 von den NGOs verabschiedeten und das Netzwerk sozialer Bewegungen in Südafrika (SMI) gründeten. Das SMI institutionalisierte sich jedoch relativ rasch und wurde zu einer wichtigen NGO Südafrikas. Als wir 2006 zur – jährlich stattfindenden Konferenz – des SMI gingen, mussten wir erfahren, dass diese NGOisierung das SMI komplett verändert hatte. Das Netzwerk sprach über die Interessen der Armen – also über unsere Interessen – ohne mit uns zu reden, ohne uns einzubinden.
Neben dem SMI haben wir uns auch an der Gründung anderer Bewegungen und Netzwerke beteiligt. Ein Beispiel ist die Shacklessness-Bewegung, also eine Bewegung von und mit Menschen, die in Baracken wohnen. Desweiteren sind wir auch in der Action Alliance aktiv, in der verschiedene soziale Gruppierungen und Personen zusammenarbeiten. Durch diese Action Alliance haben wir Kontakte zu anderen, kämpfenden communities geknüpft, insbesondere zu der Landlosenbewegung und zum Rural Network. Mit diesen haben wir die Poor People Alliance of South Africa gegründet.
Also, um deine Frage zu beantworten: Ja, wir versuchen ständig uns mit anderen sozialen Bewegungen zusammenzuschließen. Unser nächstes Ziel ist die Vernetzung mit Leuten und Bewegungen aus Europa, um eine Poor People Alliance of the World zu gründen.
Wie könnte eine solche Allianz zwischen europäischen und südafrikanischen sozialen Bewegungen aussehen?
Ashraf: In Südafrika besitzen große, multinationale Konzerne – darunter auch viele europäische Firmen – fast alles und mischen sich in Angelegenheiten, die uns betreffen, ein. Wir denken daher, dass die Kooperation mit sozialen Bewegungen in Europa besonders wichtig ist, weil sie ihre eigenen Regierungen anprangern können. Unser gemeinsames Ziel muss es sein, aufzuzeigen, dass es nicht nur „arme AfrikanerInnen“ auf der einen und „reiche EuropäerInnen“ auf der anderen Seite gibt, sondern dass wir alle mit denselben Problemen zu kämpfen haben. Während die politische Klasse weltweit von diesem System profitiert, leiden in allen Gebieten der Erde Menschen unter dessen Auswirkungen. Ein gemeinsames Ziel könnte beispielsweise die Forderung nach einem universellen und bedingungslosen Grundeinkommen für alle sein. Zwischen sozialen Bewegungen in Europa und (Süd-) Afrika sollte eine gleichberechtige Beziehung hergestellt werden, ein Geben und Nehmen, und nicht ein „Wir“ und „Ihr“. Wir glauben zudem eher an Solidarität durch Aktionen und nicht an Solidarität durch ökonomische Unterstützung. Wir wären um einiges schlagkräftiger, wenn wir uns über gemeinsame Aktionen zusammenschließen und definieren würden. Sowohl in Südafrika als auch in Europa gibt es viele Orte, die für Aktionen in Anspruch genommen werden können.
Vielen Dank für eure interessanten Ausführungen!
Romin Khan forscht zu Südafrika und ist Mitherausgeber des Bandes Südafrika. Die Grenzen der Befreiung (Assoziation A, Berlin/Hamburg)
Alexander Kleider ist Autor, Ressigisseur und Kameramann sowie Mitbegründer der Filmkooperative DOKWERK.
Daniela Michel ist Autorin, Regisseurin und Produzentin sowie Mitbegründerin der Filmkooperative DOKWERK.
Ashraf Cassiem und Mncedisi Twalo sind Aktivisten der Anti-Räumungskampagne Kapstadt.
Franziskus Forster studiert Internationale Entwicklung und ist aktiv bei attac.
Anmerkungen
1 1994 wurden in Südafrika die ersten freien Wahlen nach dem Ende des Apartheid-Regimes abgehalten. Der African National Congress (ANC) gewann die Wahlen und Nelson Mandela wurde Präsident. Die Partei ist seit 1994 durchgehend an der Macht.
2Der 27. April 1994 ist der Tag der ersten freien Wahlen und daher in Südafrika Nationalfeiertag.
3 Durban ist eine Großstadt an der Ostküste Südafrikas.