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Rosinenpicken
von Perspektiven


G.M. Tamás, der in Perspektiven Nr.8 über den Aufstieg des Neofaschismus in Ungarn berichtete, wurde für die jüngste Ausgabe des International Socialism Journal ausführlich interviewt. Er spricht über den historischen Bruch von 1989 und seine eigene Rolle, erst in der Oppositionsbewegung gegen das stalinistische Regime, später als Parlamentsmitglied und führende Figur in der Liberalen Partei. Seine selbstkritische Abrechnung mit der Transitionspolitik nach der Wende, die vielen Menschen in Ungarn die ökonomischen Lebensgrundlagen entzog und der neoliberalen Transformation Mittel- und Osteuropas den Weg ebnete, ist ein willkommener Kontrast zum politischen und medialen Abfeiern zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer.

Im gleichen Heft findet sich ein sehr nützlicher Überblicksartikel zu aktuellen marxistischen Analysen der globalen Wirtschaftskrise. Joseph Choonara fasst zusammen, was Robin Blackburn und Peter Gowan, Costas Lapavitsas, David McNally, John Bellamy Foster und Harry Magdoff, Robert Brenner, Andrew Kliman und Anwar Shaikh in den letzten Monaten zu Entstehung und Verlauf der Krise geschrieben haben. Wem bei der Aufzählung dieser Namen nichts aufgefallen ist, sollte das Heft, das er oder sie gerade in Händen hält, noch einmal lesen. Dass es sich bei seinem Überblick um eine exklusive Männerrunde handelt, ist Choonara nur zum Teil anzulasten, ist marxistische Ökonomie doch eine durch und durch von Männern dominierte Veranstaltung. Dass ihm dieser Umstand selbst nicht aufgefallen zu sein scheint, ist jedoch sehr wohl kritisierenswert.

Wenn wir schon bei der Krise sind: Historical Materialism 17:2 bringt Beiträge eines Symposiums zur globalen Finanzkrise – besonders lesenswert ist hier die Analyse von Costas Lapavitsas. Und der zweite Teil von David McNallys Artikel „Von der Finanzkrise zur Weltwirtschaftskrise“ ist nun in Das Argument Nr. 281 erschienen.

Eben diese Argument-Ausgabe widmet sich „Elementen eines neuen linken Feminismus“ und passt somit wunderbar zu den aktuellen Perspektiven. Frigga Haug stellt hier in Auseinandersetzung mit Nancy Fraser die Frage, wie an die Politik der zweiten Frauenbewegung angesichts der erfolgten Einbindung feministischer Forderungen in den Neoliberalismus anzuknüpfen ist; Tove Soiland liefert eine knappe aber gute Darstellung des Wandels von Geschlechterverhältnissen in Verbindung mit dem Umbruch vom fordistischen zum postfordistischen Akkumulationsregime und argumentiert, dass dieser mit dem Konzept gender, verstanden als geschlechtliche Normierung, nicht reflektiert werden kann. Leider hat sie den Intersektionalitäts-Ansatz, dem eineinhalb kritische Sätze gewidmet werden, nicht verstanden. Lynne Segal gibt einen Überblick über die Konjunkturen der feministischen Frauen und/oder Geschlechterforschung und plädiert für eine globale feministische Perspektive.
dérive, die Wiener Zeitschrift für Stadtforschung, zeigt in ihrer jüngsten Ausgabe, dass sich im Stuwerviertel, der „Insel auf der Insel“ des zweiten Wiener Gemeindebezirks, einiges tut – oft muss man hinzufügen: leider. Roman Seidl stellt den Intentionen, Strategien, Legitimations- und Vorgangsweisen der Wiener „sanften Stadterneuerung“, die – wie im Fall des Brunnenviertels gegenwärtig zu beobachten – meist mit der Verdrängung sogenannter „sozial schwacher“ und meist migrantischer Bevölkerung einhergeht, eine gut informierte Bestandsaufnahme zu Bausubstanz, Bevölkerungsstruktur und Wohnungsmarkt entgegen. Motto: sie mit ihren eigenen Waffen schlagen! Des Weiteren im Schwerpunkt: ein aufschlussreiches Interview mit Vertretern der lokalen Gebietsbetreuung, eine kritische Betrachtung der Beteiligungsverfahren im Rahmen der Umgestaltung eines lokalen Parks, eine Illustration der Gefahren aber auch Chancen gegenwärtiger Projekte im Stuwerviertel, sowie ein Interview über die spezifische Situation von Sexarbeiterinnen in diesem Kontext.

Owen Hatherley, der für Perspektiven Nr. 7 Avantgarde-Filme der frühen Sowjetunion vorgestellt hat, spricht im 3:AM-Magazine über sein Kerngeschäft: Stadtentwicklung, Popkultur und -musik, und vor allem: Architektur. Das Interview erläutert auf äußerst lesenswerte Weise diese Zusammenhänge und was all das mit linker Politik zu tun hat.

Die Linke hatte im Sommer 2009 einiges zu betrauern; fast im Wochentakt trafen Todesmeldungen verdienter Theoretiker und Wissenschafter ein – zuletzt traf es den Historiker und E.P. Thompson-Schüler John Saville sowie den Protagonisten des „analytischen Marxismus“, G.A. „Jerry“ Cohen. Giovanni Arrighi, Mitbegründer der Weltsystemtheorie, gab noch kurz vor seinem Ableben der New Left Review ein ausführliches Interview, in dem er sein politisches Leben rekapituliert – ein beeindruckendes Zeugnis nicht nur seines eigenen Werdegangs, sondern auch als Einblick in die Geschichte der sozialen Bewegungen der letzten vier Jahrzehnte lesenswert. Ähnliches kann über das Interview mit Peter Gowan gesagt werden, das von einem Nachruf seines langjährigen Freunds und Genossen Tariq Ali begleitet wird. Beide haben einen wesentlichen Teil ihrer politischen Arbeit Regionen gewidmet, die auf der Linken oft wenig beachtet werden – Afrika im Falle Arrighis, Osteuropa bei Gowan.

Zum Nachlesen:
Tamás, G.M.: Hungary – ”Where we went wrong”, in: International Socialism Nr. 123, Summer 2009, online
unter: http://www.isj.org.uk/index.php4?id=555&issue=123

Choonara, Joseph: Marxist accounts of the current crisis, in: International Socialism Nr. 123, Summer 2009, online unter http://www.isj.org.uk/index.php4?id=557&issue=123

Lapavitsas, Costas: Financialised Capitalism: Crisis and Financial Expropriation, in: Historical Materialism 17:2 (2009), 114-148

McNally, David: Von der Finanzkrise zur Weltwirtschaftskrise (2. Teil), in: Das Argument Nr. 281 (2009), 471-
478

Haug, Frigga: Feministische Initiative zurückgewinnen – eine Diskussion mit Nancy Fraser, in: Das Argument Nr. 281 (2009), 393-408

Soiland, Tove: Gender oder Von der Passförmigkeit der Subversion. Über die Konvergenz von Kritik und
Sozialtechnologie, in: Das Argument Nr. 281 (2009), 409-419

Segal, Lynne: Erneuerungen des Feminismus, in Das Argument Nr. 281 (2009), 420-429

Seidl, Roman: Unter Druck? Vom angeblichen sanften Ende der „Insel in der Insel“, in: dérive Nr. 36. Juli-September 2009, 5-11

Hatherley, Owen: Militant Modernist. Interview by Andrew Stevens, in: 3:AM Magazine, August 13th 2009, online unter: http://www.3ammagazine.com/3am/militant-modernist-owenhatherley/

Arrighi, Giovanni: The winding paths of capital. Interview by David Harvey, in: New Left Review Nr. 56, March-April 2009, 61-94

Gowan, Peter: The ways of the world. Interview by Mike Newman and Marko Bojcun, in: New Left Review
Nr. 59, September-October 2009, 51-70

Ali, Tariq: Death of a comrade. Peter Gowan: 1946–2009, in: New Left Review Nr. 59, September-October 2009, 39-48





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