Artikel drucken Twitter Email Facebook

Feminismus mal multikulturell?
von Katharina Hajek

Rezension: Sauer, Birgit/Strasser, Sabine (Hg.): Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus, Wien: Promedia Verlag 2008, 260 Seiten, € 24,50

„Is multiculturalism bad for women?“ – mit diesem Titel ihres programmatischen Aufsatzes löste Susan Moller Okin 1997 eine bis heute anhaltende, höchst emotional und kontrovers geführte Debatte aus. Gruppenrechte, die im Rahmen des Multikulturalismus „kulturellen Minderheiten“ zugestanden werden, so ihre These, können sich wiederum negativ auf „Minderheiten innerhalb dieser Minderheiten“, wie z.B. Frauen und Jugendliche, auswirken. Die sich daraus ergebende Pattsituation scheint ausweglos, die Lager gespalten. Auf der einen Seite wird die Forderung nach Anerkennung kultureller Normen und Traditionen von Minderheiten in den Fokus gerückt, um dem Recht auf selbstbestimmte Lebensführung, politischer Partizipation und dem Schutz vor Diskriminierung nachkommen zu können. Auf der anderen Seite wird betont, dass ebendiese Normen und Traditionen das Recht von Frauen auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung konterkarieren können. Die politischen Kampfbegriffe, wie „Genitalverstümmelung“, „Kopftuchzwang“ und „Ehrenmord“, die im Rahmen dieser Kontroverse ins Feld geführt werden, klingen wohlbekannt und tragen ebenso wenig zu einer nüchternen und fruchtbaren Auseinandersetzung mit dieser Problematik bei, wie ein politisches Umfeld, in dem der Multikulturalismus als politisches Programm – im Gegensatz zu den 1990er Jahren und damit auch der Zeit, in der Okin ihren Artikel verfasst hat – von rechten und konservativen Stimmen zunehmend als „gescheitert“ abgeurteilt wird.
Dass es sich dabei jedoch nicht um einen unvereinbaren Gegensatz von Feminismus und Multikulturalismus, ja bei genauerer Analyse nicht einmal um ein „Spannungsverhältnis“ (wie jedoch überraschenderweise im Klappentext des Bandes behauptet) handelt, darauf wollen die Beiträge in „Zwangfreiheiten“ verweisen, die Birgit Sauer, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien, und Sabine Strasser, Associate Professor an der Middle East Technical University in Ankara, zusammengetragen haben.
Anstatt alle Beiträge ausführlich zu referieren, möchte ich mich im Folgenden vor allem auf ausgesuchte Texte konzentrieren, um den Fokus auf die theoretisch-analytischen Implikationen der Problematik zu legen. Dies werde ich anhand von fünf Themengebieten leisten, denen die Beiträge zugeordnet werden können.
Einer der Schlüsselbeiträge dieses Bandes im Hinblick auf die Debatte um den Multikulturalismus kommt von Anne Phillips. In der Gegenüberstellung von juristischen und deliberativen Argumentationsweisen, denen sie den Großteil der dazu publizierten Abhandlungen zuordnet, streicht sie heraus, dass beide den Fehler begehen, von den konkreten – meist nationalen – politischen und rechtlichen Kontexten zu abstrahieren. Eben dieser Umstand führt jedoch nicht nur zu simplifizierenden Schlussfolgerungen, sondern entkontextualisiert auch die Forderungen und Praxen politischer AktivistInnen. So argumentiert sie, nachdem sie die konkreten Auswirkungen multikultureller Programme – staatliche Zuwendung für Minderheiten, gesetzliche Ausnahmeregelungen und Autonomiebestimmungen – nachzeichnet, dass die daraus resultierenden ‚Problematiken‘ selten antagonistischen Wertvorstellungen geschuldet sind, sondern häufig vielmehr Macht- und Ressourcenkonflikte betreffen. Stehen folglich Forderungen nach Gleichberechtigung und Partizipation im Vordergrund, können ‚Kultur’ und ‚Geschlecht’ nicht als zwei voneinander getrennte Systeme, sondern müssen immer in Bezug zu einander behandelt werden. Eine „entgeschlechtliche“ Konzeption von Kultur suggeriert, so Phillips, nicht nur die Existenz von vermeintlich ‚kulturell neutralen‘ Werten von Geschlechtergleichheit, sondern verdeckt auch Widersprüchlichkeiten und Entwicklungen im Umgang mit kulturellen Werten und somit nicht zuletzt auch feministische Kämpfe und Forderungen ‚innerhalb’ von Minderheiten. In Folge skizziert sie ihre Thesen anhand von drei empirischen Beispielen, in denen sie die Möglichkeiten aber auch Fallstricke nachzeichnet, Geschlechtergleichheit abseits von kulturellen Stereotypen, Rassismen und Migrationskontrolle zu thematisieren und zu fordern.
Auch Sabine Strasser nähert sich dem Themenkomplex ‚Kultur’, jedoch mittels einer völlig anderen, nämlich sozialanthropologisch informierten Herangehensweise. Nachdem sie die Bedeutung und Instrumentalisierung von ‚Kultur’ und ‚Ehre‘ in den unterschiedlichen, auch konservativen und rechten Argumentationsweisen um Menschenrechte und Multikulturalismus nachgezeichnet hat, plädiert sie dem gegenüber für einen konventionellen Relativismus im Bezug auf Diskurse um „Ehre“ und „Scham“ in den migrantischen Communities selbst. Anhand von Interviews mit jungen Frauen türkischen Migrationshintergrunds in Österreich zeigt sie auf, dass ‚Ehre‘ entgegen weitläufiger Vorstellungen nicht bloß als Legitimationsgrundlage für männliche Gewalt dient, sondern vielmehr einen Verhaltenskodex darstellt, der in der sozialen Praxis jedoch beständig in Frage gestellt wird. Bezogen auf eine feministische Praxis und Theoriebildung ginge es hierbei darum, die Widersprüchlichkeit, Prozesshaftigkeit und Transformationsmöglichkeiten dieser Diskurse herauszustreichen, das heißt, an den in den Aushandlungsprozessen implizierten, alternativen Deutungsmöglichkeiten anzuknüpfen, anstatt dominante maskulinistische und durch die Mehrheitsgesellschaft oft unterstützte Deutungen als Vorwand für restriktives Eingreifen heranzuziehen.
Als einer von zwei Beträgen ist Sawitri Saharsos Text der Thematik FGM (female genital mutilation, dt. Genitalbeschneidung) gewidmet. Anhand der niederländischen Debatte legt sie dar, wie Geschlechterbeziehungen sowohl in der Mehrheitsgesellschaft als auch in den Minderheiten selbst als zentrale Marker von Gruppendifferenzen fungieren. Als Beispiel nennt sie etwa die Beobachtung, dass muslimische Minderheiten während der Salman-Rushdie-Krise oder nach den Anschlägen auf das World Trade Center als Reaktion auf ein restriktives und rassistisches politisches Umfeld ihrerseits dazu tendierten, Gruppengrenzen und -identitäten stärker zu betonen, was oftmals zu strengeren Vorschriften (etwa bezüglich der Kleidung) für Frauen aus diesen Minderheiten geführt hat. Auch die Debatten um FGC müssen – um Pattsituationen scheinbar antagonistischer Ideale von Geschlechtergerechtigkeit zu umgehen – auf diese Weise kontextualisiert werden. Dazu schlägt sie ein prozessuales Autonomiekonzept als Maßstab feministischer Politiken vor, bei dem – im Gegensatz zu einem substantiellen Autonomiebegriff – nicht die Handlung selbst (i.e. die Beschneidung weiblicher Genitalien) zum Kern der Auseinandersetzungen wird, sondern auf Art und Weise sowie den Grad der Autonomie bei der Entscheidungsfindung der betroffenen Frauen fokussiert wird. Anhand postkolonialer Argumentationsweisen und in der Gegenüberstellung mit in Europa zunehmend populären Brustvergrößerungen, die nicht zuletzt auch eine Abrichtung des weiblichen Körpers anhand androzentrischer Kriterien darstellt, streicht die Autorin jedoch die Schwierigkeiten heraus, „freie“ von „erzwungenen“ Entscheidungen zu unterscheiden, müssen diese doch immer im Kontext kultureller Normen betrachtet werden. Resümierend hält sie fest, dass nur ein ‚kulturübergreifender’ Vergleich, die Einbeziehung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen sowie der jeweiligen Positioniertheit der ForscherIn/FeministIn selbst paternalistische und eurozentristische Haltungen vermeiden und feministische Solidarität möglich machen.
Ein Themenbereich, dem sich gleich fünf Beträge dieses Bandes widmen, stellen die multiplen Gewaltformen dar, mit der sich MigrantInnen aufgrund androzentrischer Machtverhältnisse aber auch aufgrund institutioneller und kultureller Rassismen konfrontiert sehen. So plädiert Birgit Sauer dafür, die spezifischen Gewaltformen, denen sich Migrantinnen ausgesetzt sehen, im Rahmen der strukturellen Gewaltförmigkeit der Mehrheitsgesellschaft zu kontexualisieren, um problematischen Zuschreibungen und Viktimisierungen im Rahmen des Diskurses um „traditionsbedingte Gewalt“ zu entgehen. Anknüpfend an einen weiten, feministischen Gewaltbegriff, der sowohl direkte physische und psychische, strukturelle wie auch – im Sinne von hegemonialen Normen und Symbolsystemen entlang hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit – kulturelle Gewaltformen umfasst, skizziert sie die Grundzüge eines intersektionellen Gewaltbegriffes: geschlechterspezifische Ungleichheitsstrukturen dürfen und können demnach nicht losgelöst von anderen Ungleichheits- und Gewaltstrukturen entlang der Kategorien von Ethnizität und Klasse analysiert werden. Mit Iris Marion Youngs Begriff der „politics of positional difference“ argumentiert sie dafür, die Debatte um Gewalt gegen Migrantinnen vom Kulturdiskurs zu entflechten und diese stattdessen unter Einbeziehung der ungleichen sozialen Positioniertheit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu akzentuieren. Im Rahmen eines multikulturellen Feminismus müssen somit in Konsequenz vor allem zwei Aspekte beachtet werden. Zum einen bedarf es der Berücksichtigung von restriktiven Asyl- und Migrationspolitiken und deren Rolle in der Reproduktion patriarchaler Strukturen, etwa bei Abhängigkeitsverhältnissen infolge des Familiennachzugs. Zum anderen verweist der intersektionelle Gewaltbegriff darauf, dass der Diskurs um traditionsbedingte Gewalt selbst als diskursive und kulturelle Gewalt gefasst werden muss, da er nicht nur eine rassistische Praxis der hierarchischen Trennung des unmarkierten „Eigenem“ vom „kulturell Anderem“ darstellt, sondern Migrantinnen darüber hinaus zu passiven Opfern „ihrer Kultur“ stilisiert.
Daran knüpft implizit auch der Beitrag von Gamze Ongan an, der sich dieser Thematik jedoch aus einer anderen, nämlich aktivistischen Perspektive nähert. Als Leiterin des Vereins Peregrina – ein Bildungs- und Beratungszentrum für migrantische Frauen und Mädchen – schildert sie ihre Arbeitsweisen und Probleme. Dazu zählt sie nicht zuletzt den kontraproduktiven Sensationsdiskurs rund um Zwangsverheiratungen. Dieser, so Ongan, steht nicht nur in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Anzahl der Fälle, sondern befördert vor allem rassistische Stereotype und lenkt von Problemen wie Armut und Diskriminierungserfahrungen ab, die für den Alltag von migrantischen Mädchen und Frauen weitaus prägender seien.
Dem Thema Frauenhandel widmen sich ebenfalls zwei Beiträge in diesem
Band. Der Text von Cristina Boidi und Faika Anna El-Nagashi legt dabei, basierend auf den Erfahrungen der Autorinnen in der Frauen- und Migrantinnenorganisation LEFÖ, dar, welche Implikationen die problematische und gegenwärtig vorherrschende diskursive Verschränkung von Frauenhandel und Prostitution mit sich bringt. Diese bewirke nicht nur eine De-Legitimierung (auch im juristischen Sinne) von Sexarbeit und Instrumentalisierung im Rahmen staatlicher Migrationskontrolle, sondern befördere dazu eine Passivierung und Viktimisierung betroffener Frauen. Dem gegenüber gelte es, ‚tatsächlichen’ Frauenhandel als strafrechtlichen Tatbestand zu markieren und zu verfolgen, gleichzeitig jedoch das Recht auf Migration zu verteidigen bzw. die Rechte von betroffenen Frauen zu stärken, die zunehmend nicht nur im Bereich der Sexarbeit, sondern auch in der Haushaltsarbeit Fuß fassen.
Dem vielleicht prominentesten Thema, dem Kopftuch, widmen sich schließlich zwei Beiträge aus sehr unterschiedlichen Positionen. Neben einem Beitrag zu den Argumentationen muslimischer Feministinnen vergleichen Nora Gresch und Leila Hadj-Abdou in ihrem Text die Debatten um das Kopftuch in Österreich und Deutschland und kommen zu dem Ergebnis, dass sich der überwiegende Teil der Argumentationen in der Tradition des liberalen Feminismus verorten lässt, und damit vor allem die Momente der juristischen Gleichberechtigung und -behandlung betonen. Mulikulturelle oder postkoloniale Feminismen geraten dagegen ins Hintertreffen. Die von ihnen dabei diagnostizierte problematische Hierarchisierung von Gleichheitsimperativen entlang Geschlecht und Kultur, die Kulturalisierung von Geschlechterungleichheit, sowie die Tatsache, dass sich Gruppenrechte für Minderheiten nur schwer mit liberalen Positionen vereinbaren lassen, führen sie – wie auch schon andere Beträge – zu der Forderung, dieses Thema immer im Kontext der Konstruktions- und Hierarchisierungsprozessen der Minoritäts- und Majoritätsgesellschaft zu analysieren.
Wie durch die Skizzierung der einzelnen Beiträge schon klar geworden sein sollte, lässt sich aus der Zusammenstellung der Texte eine klare politische Haltung der Herausgeberinnen ablesen. Diese besteht einerseits in der erfrischenden Weigerung, gängige Muster der meisten Publikationen zu diesem Thema zu vermeiden, in denen nur allzu oft wiederum ‚weiße’ AkademikerInnen über und damit nicht zuletzt auch für Angehörige von Minderheiten sprechen und debattieren. So stammt fast ein Drittel der Beträge selbst von Migrantinnen und auch das Einbeziehen von Aktivistinnen sorgt dafür, dass viele Fragen mit direktem Rekurs auf die politische Praxis und in Auseinandersetzung mit dieser diskutiert werden. Dies stellt nicht zuletzt auch ein ‚Faktenwissen’ bereit, mit dem die großteils sehr polemisch geführten Debatten rund um Feminismus und (kulturelle oder religiöse) Gruppenrechte entemotionalisiert und auf konkrete Problemstellungen (oder deren ‚Lösung’) herunter gebrochen werden können. Eng damit verbunden ist andererseits das Argument, dass eine feministische Position im Diskurs um Multikulturalismus nicht umhin kommt, die Stärkung der Rechte und Sprecherinnenpositionen der betroffenen Frauen selbst zu fordern, strebt man die größtmögliche Durchsetzung selbstbestimmter Lebensentwürfe an.





Artikel drucken Twitter Email Facebook