Rezension: Neubert, Harald: Linie Gramsci – Togliatti – Longo – Berlinguer. Erneuerung oder Revisionismus in der kommunistischen Bewegung? Hamburg: VSA 2009, 157 Seiten, € 14,80
Die Auseinandersetzung darum, wie das Werk Antonio Gramscis zu interpretieren sei, ist fast so alt wie die Gefängnishefte – seine im faschistischen Kerker verfassten, umfangreichen Notizen zu Politik, Kultur und Geschichte – selbst, die, posthum veröffentlicht, als fragmenthaftes „Hauptwerk“ gelten. Gerne wird dabei auf die Metapher der Linie zurück gegriffen, die wahlweise zu Gramsci hin oder von ihm weiter gezogen wird, um seine theoretischen Positionen in eine bestimmte politische Tradition einzugemeinden. Beispiele sind die in der ersten Rezeptionsphase in Italien gerne von linksliberaler Seite betonte Kontinuität von Benedetto Croce, dem „italienischen Hegel“, zu Gramsci oder die von Peter Weiss formulierte These von der „Linie Luxemburg-Gramsci“. Dementsprechend scheint das neue Buch von Harald Neubert zumindest auf den ersten Blick eine Intervention in eben diese Debatte darzustellen, die einen roten Faden von Gramsci zu Palmiro Togliatti, Luigi Longo und Enrico Berlinguer ziehen will. Mit diesen Namen ist auch schon Neuberts Referenzrahmen abgesteckt: sie alle waren Nachfolgende Gramscis als Vorsitzende der Italienischen Kommunistischen Partei (IKP), und eben diese ist auch der eigentliche Gegenstand des Buches.
Tatsächlich geht es nämlich kaum um eine „Linie“ der Gramsci-Rezeption, wie es Titel und Klappentext nahe legen. Vielmehr handelt es sich um einen historischen Abriss der sich wandelnden Programmatik der IKP von der Gründung 1921 bis in die 1980er Jahre. Als solcher ist das Buch durchaus nützlich und bietet einen kompakten Überblick. Das ist allerdings auch das Beste, was dazu zu sagen ist. Denn Neuberts Art der Geschichtschreibung ist Ideengeschichte im schlechtesten Sinne. Die Wandlungen der IKP-Programmatik werden in erster Linie als Entwicklung von Ideen, die den Köpfen der im Titel genannten großen Männer entspringen, beschrieben. Der historische Kontext wird in den meisten Fällen auf die „sozialistischen Länder“ – die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten nach 1945 – und die „internationale kommunistische Bewegung“ – die offiziellen kommunistischen Parteien – reduziert. Und auch dort, wo die italienischen politischen Verhältnisse in der Darstellung aufscheinen, führt der enge Blick des Autors auf die „große“ Politik dazu, dass nur Parteien und Regierungen als handelnde AkteurInnen vorkommen. Als historische Arbeit ist das Buch deshalb äußerst unbefriedigend. Gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, soziale Bewegungen, zivilgesellschaftliche Auseinandersetzungen, Klassenkämpfe oder kulturelle Dynamiken spielen darin keine Rolle. Das ist gerade für ein Verständnis der italienischen Nachkriegsgeschichte, die reich ist an Revolten, die sich jenseits der kommunistischen Parteiorgane abspielten, verheerend; und nicht zuletzt steht diese Herangehensweise im krassen Gegensatz zu Gramscis Sensibilität für die Komplexität geschichtlicher Entwicklung.
Nun könnte eingewendet werden, dass das Buch ja nicht als geschichtswissenschaftliche Arbeit konzipiert ist,
sondern in erster Linie ein politisches Argument stark machen will, nämlich dass die in der IKP entwickelten strategischen Positionen ein möglicher Anschlusspunkt für eine erneuerte kommunistische Bewegung wären. Doch auch dieses ist wenig überzeugend, was vor allem daran liegt, dass der Grundton des Buches ein konsequent apologetischer ist. Gelegentlich fühlt man sich an die kuriosesten Blüten stalinistischer Hagiographie erinnert, besonders wenn die (selbstverständlich nur vorzüglichsten) charakterlichen Eigenschaften Togliattis oder Berlinguers beschrieben werden. Dass dies nicht nur ein stilistisches Problem ist, sondern Ausdruck der politischen Überzeugung des Autors, zeigen zahlreiche Stellen, in denen Neubert unvermittelt von der nacherzählenden in die kommentierende Position wechselt, um einzelne politische Entscheidungen seiner Protagonisten zu verteidigen. So wird die Beteiligung Togliattis an den Verbrechen des stalinistischen Regimes während seiner Tätigkeit für die Komintern dadurch entschuldigt, dass dieser „wie die meisten seiner Moskauer Mitstreiter“ vor eine „Gewissensentscheidung“ gestellt wurde und er sich eben – bei aller Schändlichkeit der „Stalinschen Willkür“ – dagegen entschieden hätte, zum „Renegaten“ zu werden und „gänzlich der Bewegung den Rücken zu kehren“. In anderen Fällen steckt die nachsichtige Bewertung in den gewählten Formulierungen, etwa wenn die militärische Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 durch die sowjetische Armee zu einer Intervention wird, um „sowohl dem inzwischen außer Kontrolle geratenen Reformprozess wie der akut drohenden Konterrevolution gewaltsam ein Ende zu setzen“.
Die Haltung, sich nur zu sehr zaghafter Kritik an der „hochstalinistischen“ Phase der IKP unter Togliatti durchringen zu können, scheint Neubert für nötig zu halten, um seine allgemein positive Beurteilung der späteren strategischen Umorientierungen der Partei nicht zu unterminieren. Diese beinhalteten bereits in den unmittelbaren Nachkriegsjahren eine Abkehr von der ArbeiterInnenklasse zu Gunsten des „italienischen Wegs zum Sozialismus“, wobei sich dieser „Sozialismus“ bequem in den Apparaten des bürgerlichen Staats einzurichten gedachte. Dies zeigte sich – und hier ist eine „Linie“ von Togliatti zu Berlinguer tatsächlich nicht zu bestreiten – im „Historischen Kompromiss“ der 1970er, als die IKP die christdemokratisch geführte Regierung von Andreotti unterstützte. Warum gerade diese Entwicklung, die letztlich zur Selbstauflösung der IKP geführt hat, eine mögliche „Ausgangsbasis für die Öffnung und Erneuerung der internationalen kommunistischen Bewegung“ darstellen soll, erschließt sich dem Rezensenten allerdings nicht. Letztlich steht Neuberts Buch selbst in einer „Linie“, nämlich in einer alten Strömung innerhalb der Gramsci-Debatte, die von Togliatti selbst begründet wurde. In ihr wird Gramsci als Teil stalinistischer Tradition bzw. als Stichwortgeber poststalinistischer, „eurokommunistischer“ Initiativen behandelt, wobei die Prämissen des „Sozialismus von oben“ – StellvertreterInnenpolitik, strategische Fixierung auf die Parteiform, Geringschätzung sozialer Bewegungen – beibehalten wird. Bei Neubert kommt daher auch nur ein Gramsci im Konjunktiv vor, als Theoretiker, dessen Thesen „die Entwicklung des realen Sozialismus in eine konstruktive Richtung hätten lenken können und möglicherweise dem nachfolgenden Niedergang hätten entgegenwirken können“, wie in Bezug auf Togliatti formuliert wird. Wer nicht der Meinung ist, dass die Diktaturen des „realen Sozialismus“ irgendetwas „rettenswertes“ an sich hatten, dürfte von diesen Überlegungen jedenfalls kaum überzeugt werden. Der überwiegende Effekt des Buches ist negativ: es verstellt den Blick für tatsächlich offene, kreative Anschlüsse an Gramscis Politik und Theorie.