Rezension: ten Brink, Tobias: Staatenkonflikte. Zur Analyse von Geopolitik und Imperialismus. Ein Überblick, Stuttgart: UTB 2008, 313 Seiten, € 19,90
„Staatenkonflikte“ gehört zu der raren Spezies von „Lehrbüchern“, die auf gelungene Weise einen konzisen Überblick über die Debatten eines wissenschaftlichen Feldes mit den historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontexten ihrer Entstehung und Verläufe verknüpft. Thema des Buches sind die Auseinandersetzungen um die Frage, wie Konkurrenz-, Macht- und Ausbeutungsverhältnisse zwischen Staaten unter kapitalistischen Bedingungen verstanden werden können. Einerseits ist dieses Themenfeld alles andere als neu und Diskussionen darum haben die Durchsetzung des Kapitalismus von Anfang an begleitet. Andererseits ist es durchaus nicht selbstverständlich, heute (wieder) von Staatenkonflikten und Geopolitik zu sprechen, waren doch noch in den 1990er Jahren, unter dem Eindruck des Falls der Mauer und dem Ende des Kalten Kriegs, Thesen von deren Ende besonders en vogue. Das Erscheinen von ten Brinks Buch (besonders in dem großen akademischen Verlagsverbund UTB) ist insofern auch ein Indikator für die Rückkehr der Theoretisierungen zwischenstaatlicher Konkurrenz und Kriegen in den sozialwissenschaftlichen Diskurs.
Der Aufbau des Buches folgt der Einteilung in drei große historische Abschnitte, die der Autor zu Beginn vornimmt. Die erste Periode, von 1875 bis 1945, war geprägt von einer multipolaren Welt, in der politische und ökonomische Rivalitäten oft militärischen Ausdruck fanden, Kolonialreiche erobert wurden und die wechselseitige Durchdringung von Staat und Ökonomie zu einem „organisierten Kapitalismus“ (Rudolf Hilferding) führte. Der zweite Abschnitt, zwischen 1945 und 1989, war charakterisiert von der politischen Rivalität zwischen der USA und der Sowjetunion, während die Weltwirtschaft von der Konkurrenz mehrerer Zentren – darunter den aufstrebenden Ökonomien Japans und Westdeutschlands – bestimmt war: eine „geopolitisch bipolare, aber ökonomisch multipolare Welt“. Die Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“ und die Strategien importsubstituierender Industrialisierung sind ein weiterer Faktor, der diese Phase von der vorhergegangenen unterscheidet, während die Entstehung mehr oder weniger ausgeprägt staatskapitalistischer Blöcke in den ersten Jahrzehnten nach 1945 als Vertiefung des bereits zuvor existierenden Trends zur staatlichen Intervention in die Ökonomie verstanden wird. Hier stellen die 1970er Jahre einen Wendepunkt hin zur Entflechtung von Staat und Wirtschaft und der Schaffung von deregulierten, inter- und transnationalisierten Wirtschaftsbeziehungen dar. Schließlich beschreibt ten Brink die Phase nach 1989 als ein geopolitisch von der USA dominiertes System, in dem sich die Rückkehr multipolarer politischer Rivalitäten andeutet: im Aufstieg „subimperialistischer“ Regionalmächte wie Pakistan, Südafrika, Iran oder Argentinien sowie der so genannten „BRIC-Staaten“ (Brasilien, Russland, Indien, China) als globale Herausforderer der US-Dominanz. Der „Mega-Trend“ des späten 20. Jahrhunderts, die Globalisierung, wird als widersprüchlicher Prozess beschrieben, in dem zwar die Transnationalisierung ökonomischer und politischer Prozesse ein nie gekanntes Niveau erreicht hat, (National-)Staaten aber weiterhin wichtige Bezugspunkte aller Akteure bleiben.
Diese Einteilung bildet nun den Rahmen für den eigentlichen Anspruch des Buches, einen Wegweiser für die Theoriedebatten dieser Epochen zu schaffen. „Staatenkonflikte“ unterscheidet sich damit wohltuend von anderen Einführungsbüchern zu Theorien der Internationalen Politik, in denen allzu oft verschiedene Theorien vorgestellt werden, als wären sie weitgehend unbehelligt von den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen ihrer Zeit formuliert worden und bloß als Ergebnis innerwissenschaftlicher Diskussionen und Interventionen zu verstehen. Der weite historische Rückblick erlaubt es ten Brink auch, die heute wenig beachteten Beiträge der „klassischen“ Imperialismustheorie vorzustellen und für aktuelle Debatten aufzubereiten. Während in anderen Lehrbüchern dazu oft nur ein kurzer Verweis auftaucht, werden hier die Beiträge von u.a. John Hobson, Lenin, Leo Trotzki, Rosa Luxemburg, Nikolai Bucharin, Fritz Sternberg, Henryk Grossmann, Joseph Schumpeter, Karl Kautsky und Hannah Arendt besprochen. Insgesamt ist der zentrale Begriff, den der Autor als roten Faden durch die Geschichte der Theoretisierung von Staatenkonflikten legt, jener des Imperialismus. So werden zwar auch historische und aktuelle Stränge des Mainstreams in der Internationalen Politik referiert – von Idealismus und Realismus über Neoinstitutionalismus und Neorealismus bis zur Regimetheorie und neoweberianischen Ansätze –, seinen besonderen Mehrwert besitzt das Buch jedoch wegen seiner Konzentration auf kritische Ansätze. Die meisten davon stehen in marxistischer Tradition oder wurden in Hörweite zum Marxismus entwickelt, und es ist die enorme Breite der vorgestellten Perspektiven, die das Buch so wertvoll macht. So werden Strömungen wie Weltsystem- und Dependenztheorie, kritische Friedensforschung, Neogramscianismus, die imperialismustheoretischen Thesen von Paul Sweezy und Harry Magdoff, Nicos Poulantzas, Ernest Mandel und Cornelius Castoriadis, oder die westdeutsche „Weltmarktdebatte“ ebenso vorgestellt wie die aktuellen Kontroversen um einen „neuen Imperialismus“, mit den Beiträgen von u.a. Toni Negri, Leo Panitch und David Harvey. Klarerweise ist der Platz, den ten Brink den einzelnen AutorInnen widmen kann, entsprechend beschränkt und manche Details fallen der knappen Darstellung zum Opfer. Die Lektüre des Buches soll die Beschäftigung mit den Originaltexten aber ohnehin nicht ersetzen, und die weiterführenden Literaturangaben bieten hilfreiche Einstiege in die einzelnen theoretischen Debatten.
Insgesamt ist dies ein ungemein nützliches Buch, das nicht zuletzt einen wichtigen Beitrag zur Rettung des Begriffs „Imperialismus“ als analytischem Werkzeug darstellt. Dieser wird nur zu häufig als politischer Kampfbegriff missbraucht – sowohl von solchen, die sich als besonders konsequente „antiimperialistische“ KämpferInnen gerieren als auch von jenen, die Antiimperialismus bloß als Codewort für Antiamerikanismus und unkritische Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen missverstehen. Hier wird hingegen gezeigt, dass imperialismustheoretische Analysen sich der Komplexität ökonomischer und geopolitischer Machtverhältnisse und der Verschränkung von „horizontalen“ (zwischen dominanten Akteuren, „Nord-Nord“) und „vertikalen“ (zwischen dominanten und subalternen Akteuren, „Nord-Süd“) Konfliktachsen stellen können.