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US-Wahlen: Is real change coming?
von Gary Younge

Barack Obama ist vom idealistischen Außenseiter der Demokraten zum ersten schwarzen US-Präsidentschaftskandidaten einer Großpartei geworden. Gary Younge untersucht die Bedeutung des Obama-Phänomens sowie die Grenzen seiner politischen Agenda.

Dieses Jahr war etwas anders an der Parade zum Martin Luther King Day in Charleston, South Carolina. Zu den Trommelschlägen der Marschkapellen schwarzer Schulen und den ruhigeren Tönen ortsansässiger schwarzer Pfarrer gesellten sich diesmal schwungvolle Gesänge von Vertretern lokaler schwarzer Kirchen und ein Pulk mehrheitlich weißer ehrenamtlicher WahlhelferInnen Barack Obamas: „Obama 08! We’re ready. Why wait?“ Unter ihnen war ein junger Mann, der nach Obamas Niederlage in den Vorwahlen in New Hampshire „so deprimiert“ war, dass er alles in Guatemala liegen und stehen gelassen hat, um zurückzufliegen und mitzuhelfen. Da war auch eine ältere Dame aus Florida, die zwei Wochen zuvor sein Buch Dreams From My Father gelesen hatte und davon so inspiriert war, dass sie fühlte, sie müsse einfach etwas tun.
Vom Gehsteig aus jubelten AfroamerikanerInnen Beifall. Ein paar Wochen zuvor hatte Obamas Sieg in Iowa (einem der weißesten Staaten der USA) bewiesen, dass die Präsidentschaftskandidatur eines Schwarzen kein Wunschtraum mehr war. Nun war eine größere Zahl weißer WahlhelferInnen – die meisten von außerhalb der Stadt – zur Parade gekommen und forderte die SympathisantInnen auf, sich ihnen anzuschließen. Hin und wieder gingen die WahlhelferInnen zum Gehsteig, teilten Flugblätter aus, boten unbeholfen High Fives an oder umarmten gar einige Ortsansässige.
All das war natürlich nicht der Mississippi Freedom Summer.1 Aber es war immerhin etwas. Ein Moment. Ein politischer Moment, der hoffnungsvolles Engagement hervorrief. Innerhalb einer halben Stunde hatte er sich in Luft aufgelöst. Die Parade war vorbei. Die weißen Ehrenamtlichen sprachen nun nicht mehr ohne Erlaubnis des Obama-Hauptquartiers mit mir, nicht einmal um ihre Begeisterung zu erklären. Als die Genehmigung eintraf, erzählte der Mann aus Guatemala etwas über das kommende „post-rassistische“2 Amerika. Währenddessen gingen die Schwarzen zurück in ihre Häuser in den ärmsten Teilen der Stadt und warteten auf Veränderung.
Es ist leicht, über den historischen Charakter Obamas Präsidentschaftskandidatur in Zynismus zu verfallen. In einer Nation, die sich ihrer gesellschaftlichen Leistungsorientierung und ihres unerbittlichen Fortschritts rühmt – auch wenn die soziale Mobilität unter jener Großbritanniens liegt – können symbolische Fortschritte leicht überbewertet werden. Das trifft insbesondere für die politische Kultur Amerikas zu, in der die Wirklichkeit so stark von Image überlagert wird, dass George W. Bush gleichzeitig ein ehemalig alkoholsüchtiger Sohn reicher und mächtiger Eltern sein kann, und als Mann des Volkes wahrgenommen wird, mit dem die WählerInnen am liebsten einen trinken gehen würden.
Darüber hinaus war Obamas Sieg in den Vorwahlen weder so entscheidend, noch so eindeutig, wie oft dargestellt. Sicherlich, bis März hatte er sich eine fast unangreifbare Führungsposition erarbeitet, die nur von den nicht gewählten „Superdelegierten“3 gefährdet werden hätte können. Doch seine Führung war so beständig wie knapp, und Hillary Clinton war stets nahe dran. Letztlich gewann er mit nur 0,4 Prozent Vorsprung bei den Stimmen und 7 Prozent bei den Delegierten. Sogar als sein Sieg praktisch sicher war, gewann Clinton sechs der letzten zehn Staaten und Wahlkreise – nicht wirklich ein Vertrauensvotum der Demokratischen Basis.
Indem er sieben „weiße“ und neun „schwarze“ Bundesstaaten gewann, brach er mit den bisherigen Vorstellungen davon, was ein schwarzer Politiker in der US-Politik auf nationaler Ebene erreichen kann. Doch das neue Bild ist nicht wirklich jenes einer Ära „post-rassistischer“ Politik, wie so viele behaupten. In Gegenden, in denen genügend Schwarze leben, dass race – und Rassismus – die lokale politische Kultur prägen, aber nicht genug, um eine ins Gewicht fallende Anzahl an Stimmen darzustellen, schwächelte Obama. Clinton gewann acht der zehn Staaten, in denen der Anteil der schwarzen Bevölkerung knapp unter dem nationalen Durchschnitt liegt. Darunter waren auch die für die Präsidentschaftswahl strategisch wichtigen „Swing States“4 Ohio, Pennsylvania, Missouri und Nevada.

Armut

Doch obwohl seine Kandidatur einen wahltechnischen Fortschritt für Afro-AmerikanerInnen bedeutet, sagt sie ungefähr so viel über die soziale und ökonomische Situation schwarzer AmerikanerInnen aus, wie die Wahl der verstorbenen Benazir Bhutto über die Lage der Frauen in Pakistan. Tatsächlich steht Obamas Kandidatur nicht im Einklang mit dem sozialen Aufstieg von AfroamerikanerInnen, sondern stellt einen Ausnahmefall dar. Einem Bericht des Pew Research Centre vom November letzten Jahres zufolge sind schwarze AmerikanerInnen mit ihrer Lebenssituation unzufriedener als jemals in den letzen zwanzig Jahren. Eine andere, zur selben Zeit von Pew veröffentlichte Erhebung zeigt, dass annähernd die Hälfte (45 Prozent) der AfroamerikanerInnen, die nach der Bürgerrechts-Ära als Kinder von Eltern mit mittlerem Einkommen geboren wurden, als Erwachsene in Armut oder Armutsnähe abstiegen.
„[Obama] wird als Verkörperung der Farbenblindheit wahrgenommen“, meinte Angela Davis, Professorin für Ideengeschichte an der University of California, Santa Cruz, letztes Jahr zu mir. „Es ist die Idee, dass wir den Rassismus hinter uns gelassen haben, indem wir race nicht mehr berücksichtigen. Das ist es, was ihn als Präsidentschaftskandidaten denkbar macht. Er ist zum Modell für Diversität in dieser Zeit geworden… ein Modell von Diversität als ein Unterschied, der keinen Unterschied macht. Die Veränderung, die keine Veränderung bedeutet.“ Letzlich hat er keine multi-racial Koalition gebildet, sondern eine bi-racial Koalition. Clintons Basis wurde fälschlicherweise als aus der weißen ArbeiterInnenklasse und älteren weißen Frauen bestehend dargestellt. Doch in Kalifornien stimmten aus Lateinamerika und Asien stammende AmerikanerInnen stärker für Clinton als Weiße und ermöglichten so ihren Sieg. Das selbe war mit Latinos und Latinas in Texas der Fall. Tatsächlich war der einzige Staat, in dem Obama die Latino/a-Stimmen gewonnen hat, sein Heimatstaat Illinois. Und selbst dort mit nur einem Prozent Vorsprung.
Obamas Sieg war also knapp. Der Symbolgehalt seiner Kandidatur wurde ebenso übertrieben wie seine Fähigkeit, die rassifizierte und ethnische Kluft zu überwinden. Dennoch war es ein Sieg. Dennoch ist seine Kandidatur historisch und symbolisch wichtig. Und er bildete tatsächlich ein Bündnis, das sich über rassistische Linien hinweg setzte. Dies ist keine geringe Leistung, und sie nicht ernst zu nehmen wäre kein geringerer Fehler, als sie zu übertreiben. Damit sie wirklich bedeutsam sein kann, muss sie etwas Substantielles symbolisieren, und gelegentlich kann dieses „etwas“ ziemlich entscheidend sein. In Obamas Fall wurde sein Aufstieg durch die Bürgerrechtsbewegung und deren Erben ermöglicht, auch wenn sein Programm diesen gegenüber einen Paradigmenwechsel darstellt.
In der Vergangenheit kam schwarze politische Führung in erster Linie aus religiösen Institutionen. Während der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gingen schwarze Führungspersonen hauptsächlich aus religiösen Institutionen hervor, die seit der Sklaverei einen der wenigen autonomen Bereiche schwarzen Lebens bildeten. „Die zentrale soziale Institution in jeder schwarzen community war die Kirche“, schrieb der schwarze Wissenschafter und Aktivist Manning Marable. „Als politische Führer waren die schwarzen Kleriker gewöhnlich die Wortführer für die gesamte schwarze Community, besonders in Krisenzeiten. Als das politische System demokratischer wurde und Schwarze an Wahlen teilnehmen konnten, war es nur ein kleiner Schritt vom Führen einer großen Kirche zur Kandidatur für ein öffentliches Amt“.5 Wie problematisch die Rolle der Kirche auch war, sie war trotz allem organisch mit der schwarzen Community verbunden. Doch die Erfolge des Civil Rights Movement eröffnete andere Möglichkeiten für eine neue Generation schwarzer Führungspersonen, von denen Obama nur die prominenteste Figur ist. Ihre politischen Ausrichtungen mögen unterschiedlich sein, aber ihr Werdegang ist ähnlich. Sie alle haben – wie Obama, der die Universitäten Columbia und Harvard besuchte – Lebensläufe, für die man sterben würde. Unter ihnen finden sich der Gouverneur von Massachusetts, Deval Patrick (Harvard); der Bürgermeister von Newark, Cory Brooker (Yale); der Vorsitzende des Democratic Leadership Council und ehemalige Krongressabgeordnete aus Tennessee, Harold Ford Jr. (University of Pennsylvania); und der Vizegouverneur von Maryland, Anthony Brow (Harvard). Solche Karrieren sind nicht die Regel, aber sie sind heute auch keine Ausnahmen mehr.
In anderen Worten, die schwarzen Führungspersönlichkeiten der Vergangenheit wurden aus den schwarzen Communities hervorgebracht. Heute ist es wahrscheinlicher, dass sie diesen präsentiert werden. Das erklärt die Ambivalenz, die schwarze WählerInnen Obama gegenüber anfänglich an den Tag legten. Nach acht Jahren Colin Powell und Condoleezza Rice hatten sie keine Ahnung, wer er war und wollten wissen, woher er kam und wen er vorhatte zu vertreten. „Sind sie schwarz genug?“ war oft die Kurzfassung des allgemeinen Bedenkens der WählerInnen: „Werden sie meine Interessen vertreten?“ Als Obamas WahlhelferInnen den Martin Luther King Day in Charleston beehrten, war diese Zögerlichkeit bereits verschwunden. Zu dem Zeitpunkt, als Bill Clinton damit aufgehört hatte, Obama in rassistisch kodierten Begriffen anzugreifen, hatte sich die Ambivalenz – über eine Phase des schwarzen Selbstbewusstseins – in eine antirassistische Verteidigungshaltung verwandelt, die die schwarzen Stimmen für die restlichen Vorwahlen sichern konnte.
Doch diese Generation schwarzer Politiker hat auch Zugang zu einer weiteren Ressource, die ihnen noch vor 20 Jahren kaum zugänglich war – weiße Stimmen. 1958 gaben 53 Prozent der WählerInnen an, sie würden nicht für einen schwarzen Kandidaten stimmen, 1984 waren es 16 Prozent, 2006 dann 6 Prozent. Vor 1958 dachten MeinungsforscherInnen nicht einmal daran, die Frage zu stellen. Dies ist eine der zentralen Tatsachen, welche die Möglichkeiten für schwarze PolitikerInnen heute neu gestalten – weiße AmerikanerInnen sind zu einem möglichen WählerInnenkreis für schwarze KandidatInnen geworden, was aus diesen wiederum ernstzunehmende MitbewerberInnen außerhalb der schwarzen Community macht.
„Die Generation der Bürgerrechtsbewegung sah die Politik als nächsten Schritt im Kampf um Bürgerrechte“ erklärt Salim Muwakkil, Herausgeber der Monatszeitschrift In These Times, „ihr Ziel war, dass ihr Programm aufgenommen würde, wer auch immer gewinnen sollte. Doch die neue Generation versteht Politik nicht als den nächsten Schritt, sondern einfach als das, was sie ist – Politik. Ihr Ziel ist, zu gewinnen.“ Das ist eine echte Weiterentwicklung. Aber sie bringt echte Herausforderungen mit sich. Um erfolgreich zu sein, muss diese neue Generation auf eine andere Basis Rücksicht nehmen und andere Interessenskoalitionen zusammenführen, als es ihre VorgängerInnen taten. Das verlangt einen anderen rhetorischen Stil, andere Formen der Kampagne und macht eine Veränderung der Strategie erforderlich. Darin liegt der zentrale Generationenkonflikt zwischen Obama und seinem ehemaligen Pfarrer, Reverend Jeremiah Wright. Wrights ätzende Kommentare über die US-Außenpolitik sind an afroamerikanischen Mittagstischen so üblich wie scharfe Sauce, auch wenn sie manche Weiße schockierten. Doch in einer früheren Generation hätte Wright keine Peinlichkeit für den Kandidaten dargestellt.6 Er wäre selbst der Kandidat gewesen. Und er hätte nicht auf die Sensibilitäten von Weißen achten müssen.
Obama weiß das alles nur zu gut. In The Audicy of Hope erinnert er sich daran, wie er im Senat von Illinois mit einem weißen Abgeordneten saß, während sie einem schwarzen Kollegen zuhörten, der eine Rede über die rassistischen Implikationen der Abschaffung eines bestimmten Programms hielt. „Weißt du was das Problem mit ihm ist“, bemerkte der weiße Senator, „immer wenn ich ihn sprechen höre, fühle ich mich noch weißer“. Obama dachte nach: „Um meinen schwarzen Kollegen zu verteidigen, wies ich darauf hin, dass es nicht immer einfach ist, den richtigen Ton zu treffen, wenn man die enormen Belastungen anspricht, von denen die eigene Wählerschaft betroffen ist: zu wütend? Nicht wütend genug?
Trotzdem war [sein] Kommentar instruktiv. Ob zu Recht oder zu Unrecht, ‚weiße Schuld‘ [white guilt] hat sich in Amerika größtenteils erschöpft.“

Geouted

Ob „weiße Schuld“ jemals wirklicht ausgeübt, ausgetrieben oder gar aufgebraucht wurde, und ob es jemals irgendjemandem Gutes tat, wenn dies passierte, sind hypothetische Fragen. Tatsache ist, dass ein schwarzer Politiker, der die Unterstützung von Weißen will, zuerst den „richtigen Ton“ finden muss. Für Obama war es ein Teil dieser Strategie, zu insistieren, er habe die Frage der race überwunden. „Es gibt kein schwarzes Amerika oder ein weißes Amerika; es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika“ sagte er der Democratic National Convention in seiner Rede, die ihm 2004 erstmals zu großer Aufmerksamkeit verhalf. In vieler Hinsicht war seine race sein am schlechtesten gehütetes Geheimnis. Eine seiner zentralen Aufgaben scheint es zu sein, Weißen keine Angst zu machen; also muss er einen Weg finden, Weiße dazu zu bringen, sich dabei wohl zu fühlen, wenn sie einen schwarzen Kandidaten wählen, ohne wirklich darüber zu sprechen.
Ansonsten ist, abgesehen von ein paar Bezugnahmen auf die Bürgerrechtsbewegung, race zwar von seiner Botschaft praktisch abwesend, aber gleichzeitig zentral für seine Bedeutung. Ständig und sehr subtil evoziert er den historischen Charakter seiner Kandidatur. Doch in Momenten starker rassistischer Spannungen – etwa als Polizisten einen unbewaffneten schwarzen New Yorker mit fünfzig Kugeln niederstreckten, oder bei den maßlosen und diskriminierenden Anklagen, die gegen sechs schwarze Jugendliche in Jena, Louisiana erhoben wurden, die angeblich in eine Schulhofprügelei verwickelt waren – kamen seine Antworten spät und halbherzig. Kürzlich, bei einem Treffen in Detroit, hinderten WahlhelferInnen Obamas Kopftuch tragende Musliminnen daran, hinter diesem zu sitzen. Am vierzigsten Jahrestag der Ermordung von Martin Luther King schafften es McCain und Clinton nach Memphis, Obama aber blieb fern. Solche strategischen Abwesenheiten ernteten ernste Kritik von vielen AfroamerikanerInnen.
Aber hin und wieder wird er geouted. Die Jeremiah Wright-Kontroverse, in der ein großer Teil des weißen Amerikas erschüttert schien, als es entdeckte, dass sein neuer schwarzer Freund selbst einen schwarzen Freund hatte, war bis jetzt das eklatanteste Beispiel. In letzter Zeit wurden diese outings auf seine Frau Michelle abgelenkt. Als Demokraten die Republikaner aufforderten, ihre Attacken auf Michelle Obama einzustellen, titelte Rupert Mudochs Fox News mit der Zeile: „Schockierte Liberale: hört auf, auf Obamas baby mama herumzuhacken“. In der Nacht, in der Obama die Nominierung gewann, ballte er die Faust mit Michelle – ein üblicher, banaler Gruß unter AfroamerikanerInnen und Jugendlichen. Fox News nannte es einen „terroristischen Gruß“. Offensichtlich gibt es ein weißes und ein schwarzes Amerika. Beide leben in unterschiedlichen, wenn auch sich überschneidenden, kulturellen Räumen. Die Segregation, die sie trennt, ist nicht nur physisch, sondern psychisch. Bevor Obama race überschreiten kann, wird er seinen Teil dazu beitragen müssen, den Rassismus abzuschaffen, der das Konzept „Rasse“ überhaupt möglich macht.
Doch der symbolische Charakter seiner Kandidatur geht über Fragen der Hautfarbe hinaus. Indem er gegen Hilary Clinton und John McCain antrat, repräsentiert er einen Generationenbruch mit den allzu bekannten Namen, welche das amerikanische politische System in den letzten zwei Jahrzehnten dominierten – zu einem Zeitpunkt, da AmerikanerInnen inständig einen Kurswechsel wünschen.
Nur 15 Prozent glauben, dass Amerika auf dem richtigen Weg ist – ein Drittel der Zahl nach der Wahl Bushs 2004. Mittlerweile glaubt beinahe die Hälfte, dass die besten Tage des Landes vorüber sind. In den letzten 18 Monaten hat fast jede Umfrage, in der AmerikanerInnen über die Führung ihres Landes befragt wurden, Reaktionen zu Tage gefördert, die zu den pessimistischsten aller Zeiten zählen – die längste Periode, an die man sich seit Watergate erinnern kann. Und es ist nicht schwer zu erkennen, warum. Rund zwei Drittel sind mit Bushs Vorgehen im Irak nicht einverstanden, das KonsumentInnenvertrauen ist das niedrigste seit Jahrzehnten, und drei Viertel der Bevölkerung glauben, dass die wirtschaftliche Entwicklung noch schlimmer wird. Löhne stagnieren, die Kosten für Nahrung und Benzin schießen in die Höhe und die Preise für Immobilien stürzen ab.
Veränderung (change) mag ein Obama-Slogan sein. Aber es ist auch das tiefe Verlangen einer überwältigenden Mehrheit der AmerikanerInnen, die in den letzten acht Jahren ZeugInnen eines rapiden Niedergangs sowohl der eigenen Lebensumstände als auch des globalen Ansehens der USA wurden.
Obamas Kandidatur bietet keine wirkliche Lösung für diese Probleme. Er ist kein Radikaler. Im Bezug auf Politikinhalte ist seine Agenda nicht progressiver als jene Clintons. Seine Antworten auf die drängenden Fragen, denen sich die USA im Inland wie auf internationaler Ebene stellen muss, sind inadäquat und teilweise recht naiv. Am Tag nachdem er die Nominierung unter Dach und Fach hatte, deklarierte er sich vor der Pro-Israel Lobby als „wahrer Freund Israels“ und versprach: „Jerusalem wird die Hauptstadt Israels bleiben, und sie muss ungeteilt bleiben“. (Tatsächlich wird Jerusalem nicht offiziell als Hauptstadt Israels anerkannt. Nur Israel selbst behauptet das.)
Seine Programme sowohl für das Gesundheitswesen, als auch die Hypothekenkrise betreffend, waren von allen HauptkandidatInnen die am wenigsten umfangreichen. Sein BeraterInnenstab ist voll von Neoliberalen und Pro-Israelis. Er hat versprochen, den Großteil der Truppen aus dem Irak abzuziehen, aber nur unter der Bedingung, dass die Situation vor Ort dies zulässt. Das kann alles bedeuten, oder auch nichts.
Dass er eine deutliche Verbesserung gegenüber McCain darstellt, einem Abtreibungsgegner, der sagte, es sei ihm egal, ob die US-Truppen für weitere tausend Jahre im Irak bleiben würden, ist zweifellos wahr. Allgemein mag es keine großen Unterschiede zwischen Republikanern und Demokraten geben, aber der kleine Unterschied, den es gibt, könnte für viele Leute einen großen Unterschied machen. Acht Jahre Bush setzten die Latte beklagenswert niedrig.

Warum die Begeisterung?

Nun, die Wirkmacht von Momenten wie jenen in Charleston am Martin Luther King Day – so flüchtig und illusorisch sie scheinen mögen – wird weiterhin im ganzen Land, in je eigenen Formen wiederholt. Jedes Mal kommen seine mehrere Generationen umfassenden Scharen unterschiedlicher Hautfarbe zusammen; aus Illusionen scheinen sie eine neue Wirklichkeit zu kreieren.
Das Potential liegt nicht so sehr in Obama selbst, als in denen, die ihn unterstützen. Er hat es geschafft, WählerInnenschaften zu aktivieren, die lange für entweder indifferent oder inaktiv gehalten wurden, und eine politische Kultur anzuregen, die seit 2004 (und ungeachtet des Triumphs der Demokraten 2006) quasi tot war – besonders unter Jüngeren und Schwarzen, die ihre Beteiligung bei den Vorwahlen der Demokraten verglichen mit 2004 um 25 Prozent erhöhten.
Was die Wahlen betrifft, könnte er in Bereichen erfolgreich sein, in denen Demokraten seit Jahrzehenten nicht mehr konkurrenzfähig waren. Doch es ist noch früh, ein Sieg McCains ist absolut möglich. Die Heftigkeit der republikanischen Angriffsmaschine ist wohlbekannt, die Mächtigkeit von Rassismus und Xenophobie in den USA müssen noch auf die Probe gestellt werden. Doch bis jetzt zeigen die Umfragen, dass Obama all jene Staaten verteidigt, in denen Kerry knapp gewonnen hatte, einige gewinnt, in denen Bush knapp gewonnen hatte, und viele von jenen herausfordert, von denen Republikaner niemals dachten, dass sie sie verteidigen müssten, wie Virgina, North Carolina und sogar Mississippi. Jene Bevölkerungsteile, die er im Kampf mit Clinton nicht gewann, scheinen ihn nun zu untstützen. Je nachdem, welche Umfrage man ansieht, führt er vor McCain bei den Frauen um 13 bis 19 Prozent. Kerry hatte bei Frauen um 3 Prozent gewonnen. Unter Latinos/as schlägt er McCain mit 62 zu 28 Prozent, Bush bekam 44 Prozent. Letzten Endes scheinen WählerInnen Krieg, Arbeitslosigkeit, Anti-Abtreibungsgesetzgebung und Pfändungen mehr zu hassen als Schwarze. Wer weiß, wie viele feurige Priester, geballte Fäuste und „baby mama“- Sager das ändern können.
Aber zunächst mussten Wahlregistrierungsbüros in größtenteils schwarzen Gegenden in Louisiana neues Personal anstellen und Zwölf-Stunden-Schichten einlegen, nachdem die Demokraten dort zur WählerInnenrergistrierung aufgerufen hatten. Kurz vor den Vorwahlen in Oregon sprach er vor 75.000 Menschen. In South Carolina erhielt er allein mehr Wahlstimmen, als alle KandidatInnen der Demokraten im Vorjahr zusammen. Meiner Tante in Houston zu Folge verwandelte er meinen Cousin von einem couch potato in einen Wahlbezirksleiter.
Ihm wurde nachgesagt eine Grassroots-Bewegung anzuführen. Das ist nur die halbe Wahrheit. Sicherlich sind es Grassroots. Bei über das Internet organisierten Treffen kommen die Leute unabhängig von der Kampagne zusammen. Auf Facebook hat seine Kandidatur ein Eigenleben entwickelt. Ein Grund dafür, dass er die Vorwahlen für sich entscheiden konnte, ist darin zu suchen, dass seine UnterstützerInnen engagierter und auf lokaler Ebene besser organisiert sind als jene Clintons. Aber es ist keine Bewegung. Bis jetzt hat die Kampagne keinen Zweck und keine Bedeutung, die über seine Wahl hinausgeht. Seine Kandidatur wurde durch die große Welle an Energie, die nach der Mutlosigkeit der Bush-Jahre freigesetzt wurde, ermöglicht, sie fungierte auch als Bindemittel für diese Energie, die nirgendwo anders hin fließen konnte. Die zentrale Frage ist, wie sich das symbiotische Verhältnis zwischen seiner großen und hoffnungsvollen Basis und seiner Kandidatur über die nächsten Monate entwickeln wird – ob und wie eine echte politische Basis aus dem Moment des Wahlkampfs entstehen kann. Die Fähigkeit und auch das Verlangen seiner UnterstützerInnen, eine von der Kampagne unabhängige Rolle zu spielen, wird während eines Wahljahres begrenzt sein, nicht zuletzt wenn nach zwei Amtszeiten republikanischer Missregierung die Aussicht auf einen Sieg McCains realistisch ist. Das ändert nichts daran, dass sie dies tun müssen, wollen sie ihre Erwartungen erfüllt sehen.

Die meisten linken Kritiken an Obamas Politik sind richtig und notwendig, verfehlen für sich allein genommen aber das Wesentliche. Jene, die wollen, dass er eine progressivere Agenda übernimmt, müssen zuallererst eine progressive Bewegung etablieren, an die er sich wenden kann. Es ist keineswegs gesichert, dass das geschieht. Aber es ist zumindest möglich. Und nach den letzten Jahren bedeutet alleine diese Möglichkeit einen bedeutenden Fortschritt.

Anmerkungen

Gary Younge ist Kolumnist und New York-Korrespondent der britischen Tageszeitung The Guardiann.
Erstmals erschienen in Socialist Review Juli/August 2008.
Übersetzt von Katherina Kinzel und Benjamin Opratko.

1 Als Misssissippi Freedom Summer wird die 1964 vom Council of Federated Organisations (COFO) gestartete Kampagne bezeichnet, die möglichst viele Afro-AmerikanerInnen dazu motivieren sollte, sich für die Wahlen, von denen Schwarze zuvor ausgeschlossen gewesen waren, registrieren zu lassen. Auch hier waren die ehrenamtlichen HelferInnen größtenteils junge Weiße (Anm. d. Ü.).
2 „post-racial“ (Anm. d. Ü.)
3 „Superdelegierte“ ist der informelle Name für die Partei-Elite der Demokraten: (ehemalige) Kongressabgeordnete, Senatoren, Gouverneure, Mitglieder der Parteiführung etc., die Kraft ihres Amtes ein Stimmrecht auf dem Wahlparteitag haben, ohne an die Ergebnisse der Vorwahlen gebunden zu sein.
4„Swing States“ sind Bundesstaaten, in denen ein knappes Ergebnis zwischen Demokraten und Republikanern erwartet wird. Aufgrund des US-amerikanischen „winner takes all“-Systems, in dem der Sieger in einem Bundesstaat die Stimmen aller „Wahlmänner“ erhält, sind diese Staaten für den Wahlausgang besonders entscheidend.
5 Marable, Manning: Black Leadership, New York 1998
6 Rev. Wright war der Pfarrer und langjährige Vertraute von Barack Obama. Im März 2008 wurden „unpatriotische“ und „unamerikanische“ Aussagen in Wrights Predigten publik gemacht, in denen er den USA unter anderem die Vertreibung der indigenen nordamerikanischen Bevölkerung, die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die Unterstützung von Staatsterrorismus in Südafrika und Palästina und nicht zuletzt die unmenschliche Behandlung schwarzer AmerikanerInnen vorwarf. Obama distanzierte sich darauf hin von seinem langjährigen Mentor.





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