Rezension: Hecken, Thomas: 1968. Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik. Bielefeld: transcript 2008, 18,80 €
Die ganz große Aufregung rund um das vierzigjährige Jubiläum von „1968“ hat sich – den Sommermonaten sei Dank – inzwischen gelegt. Für diejenigen, die trotz des medialen und publizistischen Wirbels im Frühjahr noch immer nicht genug bekommen können, bieten daher die kommenden Monate Gelegenheit, das Phänomen „1968“ abseits der ausgetretenen Pfade – zumeist die Nacherzählung bekannter Ereignisse, Stichwort Pariser Mai – unter neuartigen Perspektiven zu betrachten. Eine von vielen Möglichkeiten für eine solche Annäherung stellt das Büchlein 1968. Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik von Thomas Hecken dar, erhebt dieser Essay doch bewusst den Anspruch, „über ein teilweise unbekanntes, wieder vergessenes 1968 zu sprechen“. Wie bereits aus dem Titel ersichtlich, sind es in erster Linie die rund um „1968“ einflussreichen Schriften, Abhandlungen, Theorien und Diskussionen – kurz, intellektuelle Erzeugnisse aller Art – die der rund 180 Seiten umfassende Band ins Gedächtnis der LeserInnen zurückrufen möchte. Zu diesem Zweck unternimmt der Autor in dem ersten und umfangreichsten von insgesamt drei Kapiteln unter der Überschrift „Politisch-ökonomische Kritik“ zunächst den Versuch, wichtige Argumente der sogenannten Neuen Linken vorzustellen und dabei die vielfältigen Zusammenhänge der einzelnen Themenfelder nachzuzeichnen, indem er zentrale Texte und Reden der Zeit diskutiert. Ausgehend von dem für die Neue Linke namensgebenden Artikel des amerikanischen Soziologen C. Wright Mills im New Left Review und ersten Statements des US-amerikanischen SDS (Students für a Democratic Society) zu Beginn der 1960er Jahre spannt Hecken im Folgenden einen weiten Bogen über demokratie- und kapitalismustheoretische Texte von Herbert Marcuse und Jürgen Habermas oder die antikolonialen Schriften von Frantz Fanon bis hin zu konkreteren, aktivistisch motivierten Beiträgen über feministischen Protest oder die Legitimität von Guerillataktik und bewaffnetem Widerstand vom Ende des Jahrzehnts. Wenngleich ob dieser Fülle unterschiedlicher Ansätze und der Vielzahl der vorgestellten AutorInnen manche Feinheit unter den Tisch fällt, gelingt es dem Autor in seiner am historischen Verlauf der Proteste und Revolten orientierten Darstellung nicht nur, zentrale Begriffe und Denkfiguren wie „Entfremdung“, „Fokustheorie“ oder „antiautoritäres Verhalten“ verständlich zu machen, sondern auch und besonders, die Wechselwirkung zwischen dem dynamischen Verlauf der realen Kämpfe und den theoretischen Debatten aufzuzeigen. Gerade weil Hecken keine reine Ideengeschichte betreibt, werden hier die Überlegungen und Theoreme der ProtagonistInnen der späten 1960er Jahre in ihrer inneren Logik und handlungsleitenden Funktion ebenso plastisch nachvollziehbar wie praktische und theoretische Radikalisierungstendenzen.
Zugleich führt diese Form der Beschränkung auf Texte und Theorien der sogenannten Neuen Linken jedoch auch zu gewissen Verengungen. Denn obwohl der Autor eingangs die beiden Begriffe „Alte“ und „Neue“ Linke problematisiert, erweckt er im Verlauf seiner Darstellung doch manchmal den Eindruck, als handelte es sich bei letzterer um ein geschlossenes, klar definiertes Programm und als wäre allein diese Neue Linke „1968“ einflussreich gewesen. Infolgedessen überrascht es nicht, dass Hecken etwa die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse, die sich im Rahmen widersprüchlicher Auseinandersetzungen z. T. durchaus innerhalb der Zentren der sogenannten Alten Linken, d. h. der Gewerkschaften sowie der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien, formierten und eigene, auch theoretische Konzepte hervorbrachten – z. B. das der „Arbeiterselbstverwaltung“ –, praktisch unberücksichtigt lässt. Ebenso scheint „1968“ für den Autor lediglich in den USA und Mitteleuropa stattgefunden zu haben, erfahren andere Länder oder Weltregionen und transnationale Vernetzungen in Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik doch keinerlei Aufmerksamkeit. Diese Reproduktion der ohnehin bereits dominanten Bilder von „1968“ setzt sich leider im zweiten Teil des Buches weitgehend fort. Unter dem Titel „Lebensformen“ widmet sich Hecken hier den verschiedenen gegenund jugendkulturellen Strömungen der späten 1960er Jahre – z. B. Hippies, KommunardInnen, Rockfans oder KünstlerInnen – sowie deren theoretisch-intellektuellen Bezugspunkten von Wilhelm Reich bis zur Situationistischen Internationale. Dass letztlich auch dieses Kapitel trotz seines vor allem geographisch (zu) engen Fokus lesenswert ist, verdankt es dem Bemühen des Autors, den LeserInnen einen Einblick in das konfliktbehaftete und zugleich von großen inhaltlichen und personellen Überschneidungen geprägte Verhältnis der gegenkulturellen Bewegungen zu den explizit politisch orientierten Gruppierungen der Neuen Linken zu gewähren. Wenngleich dabei manches, das bereits aus dem ersten Kapitel bekannt ist, eine Wiederholung findet, macht es sich grade hier bezahlt, dass Hecken konsequent die ProtagonistInnen jener Zeit durch ihre damals veröff entlichten Texte und Pamphlete selbst sprechen lässt. Ebenfalls positiv hervorzuheben ist der Versuch des Autors, der Frage nach einer Vereinnahmung gegenkultureller Lebensformen und somit nach einer möglichen Verantwortung der „68er-Bewegung“ für gegenwärtige (neo-)liberale Zustände nachzugehen. Denn obwohl der These Heckens, diese Bewegung wäre ihrer Intention nach anti-liberal gewesen und könnte daher kaum liberalisierende Effekte gehabt haben, nicht zuzustimmen ist, öffnet diese Fragestellung doch den Blick dafür, dass die Kämpfe von „1968“ gerade wegen ihrer möglichen Folgen für die Gegenwart ein derart vieldiskutiertes Thema sind.
Speziell aus dieser Perspektive hochinteressant ist schließlich auch das Schlusskapitel des Essays, in dem der zeitgenössischen „Kritik an der 68er-Bewegung“ nachgegangen wird. Dabei zeigt der Autor, dass wesentliche Argumente gegenwärtiger Debatten über „1968“ nicht unbedingt neu sind, sondern bereits in den späten 1960ern und frühen 1970ern als Kritik von konservativen, liberalen, aber auch linken Intellektuellen – von Habermas bis Hobsbawm – geäußert wurden. Die meisten der von Hecken zusammengetragenen Beiträge erscheinen folglich zwar ob ihres teilweise alarmistischen Grundtons übertrieben und zum Teil skurril, wirken in ihrer inhaltlichen Stoßrichtung aber gleichzeitig doch seltsam vertraut. Insofern diese zeitgenössischen Einschätzungen von „1968“ in der gegenwärtigen Debatte bisher kaum wahrgenommen wurden, löst der Autor mit dem Schlusskapitel seines Buches tatsächlich den eigenen Anspruch ein, „über ein teilweise unbekanntes, wieder vergessenes 1968 zu sprechen“.
Wenngleich dies für den Rest des Buches nur bedingt gilt und Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik an mancher Stelle droht, redundant zu werden, ist die Lektüre des gut lesbaren Essays doch lohnenswert. Dies gilt insbesondere für jene, die sich in knapper Form der theoretischen Seite von „1968“ nähern möchten und dabei auf eine klare Sprache, Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit Wert legen. Wer darüber hinaus ein umfassenderes Bild erhalten und die auch in Heckens Buch angelegte Reduzierung von „1968“ auf eine jugendliche und studentische Revolte in Mitteleuropa und Nordamerika umgehen möchte, der/die sei z. B. auf die in Perspektiven Nr. 5 rezensierten Sammelbände Weltwende 1968 von Jens Kastner und David Mayer und 1968 und die Arbeiter von Bernd Gehrke und Gerd-Rainer Horn verwiesen.