Rezension: Schwenken, Helen: Rechtlos, aber nicht ohne Stimme. Politische Mobilisierungen um irreguläre Migration in die Europäische Union. Bielefeld: transcript 2006, 29,80 €
Im Großteil der sozialwissenschaftlichen Literatur wird das Phänomen der Migration in erster Linie aus dem Blickwinkel der Integration betrachtet. „Integrationsfixierung“ nennt Helen Schwenken das und macht schon zu Beginn ihres mit 370 Seiten recht umfangreichen Buches deutlich, dass sie hierin eine problematische Verengung der Thematik sieht. Das Anliegen der Kasseler Politikwissenschaftlerin, die selbst im Untersuchungsfeld politisch aktiv ist, ist es, die Möglichkeitsbedingungen politischer Mobilisierung von irregulären MigrantInnen auszuloten. In ihrer Dissertation stellt sie MigrantInnen als handelnde Subjekte n den Mittelpunkt ihrer Analysen, nennt und untersucht jedoch auch eine Reihe anderer AkteurInnen, die im Konfliktfeld Migration agieren. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie den Kontextstrukturen, aus denen sich der Grad der Offenheit für politische Anliegen von MigrantInnen ableiten lässt. Gleichzeitig werden die bewussten oder unbewussten Strategien beleuchtet, die von staatlicher Seite, NGOs und MigrantInnen erfolgt werden.
Ein Ergebnis der Studie ist die Unterscheidung von drei Mobilisierungstypen, die jeweils andere TrägerInnen und Ziele haben und über unterschiedliche Handlungsspielräume verfügen. Hierbei fasst die Autorin „politische Mobilisierung“ mit dem Verweis auf die Theorie Antonio Gramscis soweit, dass auch staatliches Handeln unter den Begriff fällt.
Der erste Mobilisierungstyp ist das vorwiegend staatlich betriebene „repressive Migrationsmanagement“, das wohlweislich von „illegaler Migration“ spricht und ihre Bekämpfung zum Ziel hat. Zweitens gibt es den Ansatz der Re-Regulierung“, der überwiegend von großen pro-migrant-Organisationen und advocacy-Netzwerken vertreten wird. Sie wollen Migration regulieren und gerecht(er) gestalten. Drittens lässt sich noch eine sehr heterogene Akteursgruppe ausmachen, deren Maxime sich mit der Forderung des „Rechts auf Rechte“ charakterisieren lässt. Neben MigrantInnen-Selbstorganisationen lassen sich auch einige pro-migrant-Organisationen in diese Kategorie einordnen. Sie betrachten irreguläre Migration als eine soziale Tatsache und versuchen nicht nur die konkreten Lebensbedingungen der irregulären MigrantInnen sondern auch ihre rechtliche Situation zu verbessern und die Kräfteverhältnisse im Konfliktfeld der Migration grundsätzlich zu verschieben.
Anhand von zwei Fallbeispielen werden die Voraussetzungen erfolgreicher politischer Mobilisierung der „schwachen Interessen“ von irregulären MigrantInnen aufgezeigt.
Bei der ersten Fallstudie handelt es sich um das Rote-Kreuz-Zentrum in Sangatte an der Nordküste Frankreichs, in dem ich von 1999 bis 2002 insgesamt etwa 80.000 Menschen aufhielten, die irregulär nach England einreisen wollten. Helen Schwenken vollzieht die Auseinandersetzungen auf den verschiedenen Ebenen nach. Sie schildert detailreich die Entwicklung verschiedener Formen des migrantischen Widerstands, der über Demonstrationen, die Veröffentlichung von Forderungen bis zu Besetzungsaktionen und Eindringen in den Eurotunnel reichte. Sie argumentiert, dass sich in den Grenzräumen auf spezifische Weise Macht-, Wissens- und Herrschaftsverhältnisse überschneiden, welche diese zu prädestinierten „terrains of resistence“ machen.
Auch der Konflikt auf staatlicher Ebene wird beleuchtet, um das Zustandekommen der Konfliktkonstellation zu erläutern. Der Elitenkonflikt zwischen französischer und englischer Regierung habe es ermöglicht, so ihre These, dass das Zentrum des Roten Kreuzes überhaupt über einen relativ langen Zeitraum als Zwischenstation für MigrantInnen Bestand hatte und eine breite gesellschaftliche Debatte anstieß, in der auch die MigrantInnen und ihre Verbündeten als AkteurInnen sichtbar wurden.
Bei der zweiten Fallstudie handelt es sich um eine Untersuchung des RESPEKTNetzwerks von und für MigrantInnen, die ohne gültigen Arbeits- und Aufenthaltsstatus in Privathaushalten Arbeiten verrichten. Im Gegensatz zu den relativ spontanen Protesten in Sangatte, die nur in der speziellen räumlichen und zeitlichen Konstellation Wirkungsmächtigkeit entfalteten, werden bei der Untersuchung des RESPEKT-Netzwerks die Kontinuität der Interventionen und das geschickte strategische Vorgehen hervorgehoben.
Die Fallstudien, welche auch für sich allein stehen können, werden vielfach mit den Analysen über den Einfluss der neu entstehenden Strukturen der Europäischen Union und Überlegungen zu möglichen Bündnispartnern der irregulären MigrantInnen verschränkt. Besonders aufschlussreich ist ein Kapitel, in dem Erfahrungen beim Versuch der Kooperation mit Gewerkschaften zusammengetragen werden. Helen Schwenken plädiert für ein stärkeres Engagement der Gewerkschaften und zählt verschiedene Gründe für deren Zurückhaltung auf. Struktur und Größe der Gewerkschaften haben oftmals eine gewisse Trägheit zur Folge. Auf neue Entwicklungen im Arbeitssektor wie dem Anstieg informeller, prekärer Erwerbsarbeit und der Internationalisierung des Arbeitsmarkts wird nur zögerlich reagiert. Außerdem müssen sich migrantische Initiativen gegen rassistische Ressentiments in den Reihen der Gewerkschaftsmitglieder durchsetzen. Die Autorin nennt aber auch Beispiele für erfolgreiche Ansätze. Hierzu zählen der von der IG BAU gegründete „Europäische Verband der Wanderarbeiter“ und die amerikanischen worker centers.
Eine besonders kreative Maßnahme stellt die Entscheidung der britischen Transport and General Workers’ Union dar, Gewerkschaftsmitgliedskarten unabhängig vom Aufenthaltsstatus zu vergeben.
Dieses Dokument ermöglicht es auch MigrantInnen „sans papiers“ sich auszuweisen, wenn sie in eine Polizeikontrolle kommen oder ins Krankenhaus müssen. Durch diese Schilderungen trägt das Buch zur Sichtbarmachung von lokalen und nationalen Kämpfen und ihrer partiellen Erfolge bei.
Zu der großen Bandbreite der untersuchten Themenfelder und der auf unterschiedlichen Ebenen ansetzenden Fragestellungen kommt hinzu, dass die Studie Beispiele aus Frankreich, Deutschland und England heranzieht und dabei die sich unterscheidenden Bedingungen für den Kampf der MigrantInnen unterstreicht. Auch das lobbypolitische Zentrum in Brüssel wird untersucht. In diesem Zusammenhang wird jedoch eine kritische Betrachtung der Institutionalisierungsprozesse sozialer Bewegung vernachlässigt. Der fast durchgehend positive Bezug auf feministische Bürokratinnen stellt hierfür ein anschauliches Beispiel dar. Denn für linke, im Migrations- und Flüchtlingsbereich aktive Organisationen ist die Frage nach den unintendierten Wirkungen des eigenen Engagements von zentraler Bedeutung: Wo muss die Hilfe für Betroffene und die konkrete Verbesserung ihrer Lebensbedingungen an erster Stelle stehen und wann trägt das eigene Engagement lediglich zur Optimierung des repressiven Migrationsmanagements bei? Diesen Fragen wird in der Arbeit zu wenig Platz eingeräumt.
In der Arbeit finden sich auch kurze theoretische Abschnitte, in denen wichtige Referenzpunkte wie Pierre Bourdieus Theorie des sozialen Kapitals, Foucaults Vorstellungen von Macht und Widerstand und Bob Jessops Ansatz der strategischen Selektivität benannt werden.
Helen Schwenken ist sich der politischen Implikationen der Begriffe, die auf dem umkämpften Feld der Migration verwendet werden, bewusst, und legt die sowohl politisch als auch methodisch motivierten Entscheidungen für ihre Begriffswahl verschiedentlich offen.
Die Autorin verzichtet weitgehend auf isolierte, ausschließlich theoretisch angelegte Kapitel. Die Entscheidung, stattdessen über die Kapitel hinweg konkrete Beispiele mit präziser Weitergabe von Fakten und theoretischen Erörterungen zu verknüpfen, trägt maßgeblich zur guten Lesbarkeit der Arbeit bei und ermöglicht auch die gewinnbringende Lektüre einzelner Abschnitte.
Hinsichtlich der gegenwärtigen Auseinandersetzungen um eine neue Form von Souveränität kommt Helen Schwenken zu dem Schluss, dass die These vom Verschwinden der Grenzen ebenso wie jene von der Auflösung des Nationalstaats nicht haltbar ist. Vielmehr sei eine Verschiebung der Grenzen ins Innere, das Unsichtbarwerden von Grenzverläufen und die Vervielfachung von Überwachungs- und Kontrollpunkten festzustellen.
Eine Reihe von theoretischen Debatten, die im Zusammenhang mit dem Konfliktfeld Migration stehen, werden leider lediglich angerissen. So etwa die Frage nach neuen Subjektivitäten und der Notwendigkeit von kollektiven Identitäten sowie die Diskussion um unterschiedliche Rechtsauffassungen und ihre politischen Implikationen. Vor dem Hintergrund dieser Debatten scheint der Titel „Rechtlos aber nicht ohne Stimme“ unglücklich gewählt, da er inhaltlich den Kernthesen der Arbeit nicht gerecht wird. Auch irreguläre MigrantInnen haben unveräußerliche Rechte. Ob diese faktisch von Bedeutung sind, ist von politischen Kämpfen, gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Strategien der politischen Mobilisierung um Migration abhängig.
Methodisch stützt sich die Arbeit auf eine Mischung aus ExpertInneninterviews, Dokumentenanalyse, Ereignisdatenanalyse und teilnehmender Beobachtung. Als besonders fruchtbar erweist sich hierbei der framing-Ansatz: Es werden Möglichkeiten und Prozesse fokussiert, in denen soziale Bewegungen ihre Anliegen artikulieren, präsentieren und nach Außen wie Innen mit Legitimation und Sinn versehen.
Die Autorin beschränkt sich nicht auf die Betrachtung der unterschiedlichen Strategien, die hinter der Entscheidung zu Lobbyarbeit auf Europäischer Ebene oder der Ausrichtung von autonomen noborder-Grenzcamps stehen. Vielmehr versucht sie, die dahinter stehenden framings auszumachen und deren Anschlussmöglichkeit, Resonanz und politische Implikationen zu ergründen.
So benennt Helen Schwenken etwa die Diskussion um Frauenhandel bzw. neue Sklaverei als einen frame, der zwar auf große Resonanz stößt, jedoch auch an repressive Sicherheitsdiskurse anschlussfähig ist und die Situation vieler MigrantInnen nicht erfassen kann. Dem entgegen steht der „Autonomie der Migration“-frame, der MigrantInnen zwar nicht in eine Opferrolle drängt sondern zu handelnden Subjekten macht, dessen Forderungen jedoch wesentlich geringere politische Realisierungschancen haben.
Die Arbeit bietet einen guten Überblick über die aktuellen europäischen Entwicklungen der Migrationspolitik und liefert eine Reihe von Anregungen für LeserInnen, die selbst an den politischen Auseinandersetzungen teilnehmen. Zwar sind die Ergebnisse der Studie, wie betont wird, nicht auf andere Politikfelder übertragbar. Helen Schwenken hat jedoch eine Arbeit vorgelegt, die zeigt, wie die Analyse politischer Möglichkeitsbedingungen emanzipatorischer Kämpfe aussehen muss, um die Erfolgschancen der Organisierung „schwacher Interessen“ zu erhöhen.
Helen Schwenken macht deutlich, dass sie nicht nur über, sondern auch für die Akteure im Konfliktfeld Migration schreibt. Hierbei positioniert sie sich durch ihre wissenschaftliche Analyse zweifelsfrei auf der Seite der MigrantInnen und der pro-migrant-Organisationen und liefert eine fundierte Kritik an der Ausrichtung des europäischen Grenzregimes. Auch ihrem eigenen Anspruch einer feministischen Perspektive auf den Themenkomplex Migration wird sie gerecht. Insbesondere die Auswahl des RESPEKT-Netzwerkes, in dem überwiegend philippinische Frauen organisiert sind, unterstreicht diesen Fokus. Es gelingt ihr, das Potential einer Verschränkung von Frauenrechts- und Migrationsthemen in der gegenwärtigen europäischen Konstellation aufzuzeigen.
Das Buch stellt einen wichtigen Beitrag zum Thema irreguläre Migration dar. Die Lektüre ist wissenschaftlich Interessierten aber auch AktivistInnen wärmstens zu empfehlen, da Helen Schwenken windows of opportunity und Erfolge aufzeigt, ohne über die schwierigen Bedingungen emanzipatorischer Mobilisierungen im Feld irregulärer Migration hinwegzutäuschen.