Das chinesische “Wirtschaftswunder” beruht auch auf neuen, intensiven Formen der Ausbeutung junger, binnenmigrantischer Arbeiterinnen in den Zonen der Exportindustrie. Pun Ngai, Professorin für Sozialwissenschaften an der Hong Kong University of Science and Technology und Präsidentin des Chinese Working Women Network beschreibt die Arbeitsbedingungen und Organisationsversuche in den Fabriken und Schlafsälen der Textilindustrie Südchinas.
Die Reformen der späten 1970er Jahre haben eine bisher beispiellose Fluchtbewegung aus den ländlichen in die städtischen Gebiete Chinas bewirkt. Der anhaltende Migrationsstrom wurde von der Ankunft transnationaler Konzerne (TNK) aus allen Ländern, vor allem aus Hong Kong, Taiwan, Japan, USA und Westeuropa begleitet. Eine neue Generation von Binnenflüchtlingen oder WanderarbeiterInnen hat begonnen für diese TNKs zu arbeiten, entweder direkt bei Joint-Ventures großer amerikanischer oder europäischer Unternehmen oder bei chinesischen Unternehmen und deren Unterhändlern in den Städten der Exportproduktionszone des Landes.
Die Zahl dieser WanderarbeiterInnen wurde im Jahr 2000 von der Fünften Volkszählung in China auf 120 Millionen geschätzt. Diese flüchteten aus den inneren Provinzen, wie Hunan, Hubei, Guizhou, Sichuan, Jianxi und Anhui in die südlichen Küstenprovinzen, wo Special Economic Zones (SEZ) errichtet wurden. Diese BinnenmigrantInnen zogen für eine kurze oder längere Zeit von ihrem registrierten Wohnort weg, ohne einen dementsprechenden Wechsel des eingetragenen ständigen Wohnsitzes, auch hukou genannt. Das bewirkte, dass sie, anders als registrierte BewohnerInnen der Städte, von subventionierter Unterstützung für Wohnung, Bildung, Ausbildung, Gesundheitssystem und Sozialhilfe in den Städten ausgeschlossen wurden.1 WanderarbeiterInnen, vor allem Frauen, arbeiten hauptsächlich in der arbeitsintensiven verarbeitenden Leichtindustrie, wie der Kleidungs-, Elektronik-, Schuh- und Spielzeugindustrie und im unteren Dienstleistungssektor.
Der Aufstieg Chinas zur „Weltfabrik“ kennzeichnet außerdem ein neues Jahrhundert, in dem Mehrarbeit aus den ländlichen Gebieten Chinas die globale Wirtschaft anheizt.2 Nicht nur im chinesischen Küstengebiet, sondern viel mehr im ganzen Land haben städtische Industriezentren zu boomen begonnen. Der Beitritt Chinas zur WTO setzte das Einfließen von Kapitalien aus der Produktionsindustrie, den High-Tech-Sektoren und den Finanzmärkten fort, begleitet von der Kritik des Westens, dass die chinesischen ArbeiterInnen den ArbeiterInnen im Westen die Arbeitsplätze mehr und mehr wegnehmen würden. In Wahrheit jedoch leiden beide ArbeiterInnenklassen – die westliche wie die östliche – am globalen Preiskampf, dem Unterbieten von Umweltschutzbedingungen und der Verschlechterung der Arbeits- und Wohnstandards. Trotz vermehrter Reformen des Arbeitsrechts seitens der Zentralregierung und der Einführung von Verhaltenskodizes für Unternehmen in den letzten Jahren, hindern die Globalisierung und die Einführung von Just-in-Time-Produktion internationaler Konzerne die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse in China. Stattdessen setzen Dormitory-Labour-Stätten ihren Siegeszug fort und schaffen hiermit hochgradig ausbeuterische Verhältnisse, vor allem für chinesische Arbeiterinnen, während sie gleichzeitig eine neue gesellschaftliche Kraft hervorbringen, die stillschweigend den neuen Kapital-Arbeits-Beziehungen Widerstand leistet. Wir werden zuerst diese neue Dagong-Klasse [dagong bedeutet „für den Boss arbeiten“ und steht im Gegensatz zu gangren (ArbeiterIn); Anm. d. Ü.] der WanderarbeiterInnen und das Aufkommen eines speziellen Dormitory-Labour-Regimes für diese neuen, vor allem weiblichen, ArbeiterInnen in Südchina analysieren.
Chinas Reformen der letzten zwei Jahrzehnte setzten ein globales Produktionssystem in Kraft, das die sozialistischen Arbeitsbeziehungen verändert und zur Schaffung einer neuen chinesischen ArbeiterInnenklasse beigetragen hat. Gleichzeitig mit der Privatisierung oder dem Bankrott des Staates und der kollektiven Wirtschaft Mitte der 1990er Jahre gruppieren sich private, ausländische und Joint-Venture-Unternehmen nicht nur um die Küstenregion, sondern auch in fast allen Industriestädten Chinas im Inland zusammen. Eine neue ArbeiterInnenklasse von ländlichen WanderarbeiterInnen, die Dagong-Klasse,3 im Gegensatz zur Maoistischen ArbeiterInnenklasse, ist im heutigen China entstanden. Seit den späten 1970er Jahren hat die Dekollektivierung einen massiven Überfluss an ländlichen Arbeitskräften produziert. Zur gleichen Zeit, hat die Zentralregierung die Migration vom Land in die Stadt durch die Lockerung des hukou-Systems4 erleichtert. Die meisten transnationalen Konzerne und ihre chinesischen Unterhändler rekrutierten Millionen von BauernmigrantInnen für die Export-orientierte Industrie. Bis in die frühen 1990er lag die akzeptierte Zahl der WanderarbeiterInnen bei 70 Millionen für ganz China. Während den frühen Jahren nach dem Jahrtausendwechsel schnellte die offizielle Zahl auf 120 Millionen WanderarbeiterInnen hoch, wobei Schätzungen von bis zu 200 Millionen ausgehen.5 Frauen sind für die Formierung dieser in privaten oder ausländischen Unternehmen ausgebeuteten neuen ArbeiterInnenklasse zentral, speziell in der Exportproduktionszone. Die Entwicklung dieser SEZs über ganz China basierte, ähnlich der Entwicklung dementsprechender Einrichtungen in den meisten anderen sich entwickelnden Wirtschaften, auf einer massiven Nutzbarmachung junger ArbeiterInnen, vor allem unverheirateter und jüngst verheirateter Frauen.6 Im Jahr 2000 machten Arbeiterinnen ungefähr 47,5 Prozent aller chinesischen WanderarbeiterInnen Chinas aus. In der Küstenregion Chinas sind sogar 65,6 Prozent aller WanderarbeiterInnen Frauen.7
Diese neugeformte ArbeiterInnenklasse oder Dagong-Klasse wird daran gehindert, sich in den Städten niederzulassen, also an den Orten, an denen sie Arbeitsplätze zugeordnet bekamen. Schlimmer noch, das hukou-System, gemeinsam mit Arbeitskontrollen, ist entscheidend für die Produktion einer verschwommenen, unklaren Identität ländlicher WanderarbeiterInnen, indem sie gleichzeitig die Ausbeutung dieses großen Teils der Bevölkerung verschärft und verbirgt. WanderarbeiterInnen gelten nicht als vollwertige BürgerInnen vor dem Gesetz; mehr noch, den Familienangehörigen der WanderarbeiterInnen ist es nicht erlaubt, in der jeweiligen Industriestadt zu leben, wenn sie dort nicht ebenfalls einen Arbeitsplatz finden und damit den Status eines Zeitarbeiters/einer Zeitarbeiterin erwerben. Während Lokalregierungen und ausländische Unternehmen von der Arbeit der WanderarbeiterInnen profitieren, können sie gleichzeitig wohlfahrtsstaatliche Ausgaben vermeiden, die ArbeiterInnen rechtlich zustehen würden.
Weil offizielle und inoffizielle Strukturen verhindern, dass diese neue Dagong-Klasse ihre eigenen Communities in den Städten aufbauen kann, liegt die Verantwortung kontinuierlich die benötigte Arbeitskraft sicherzustellen, und damit die tägliche Reproduktion der Arbeitskraft, alleine bei der Industrie. Diese Verschiebung der Verantwortung vom Staat hin zum privaten Sektor schafft das, was wir „Dormitory Labour Regimes“ nennen, was zur Entstehung eines besonders ausbeuterischen Systems im Kontext der internationalen Arbeitsteilung beiträgt. Während Millionen von WanderarbeiterInnen in die Industriestädte strömen, bleibt die Bereitstellung von Schlafräumen (engl. Dormitory) eine chinesische Besonderheit globaler Produktionsprozesse. Unabhängig von der Industriebranche, vom Ort oder der Herkunft des Kapitals werden chinesische WanderarbeiterInnen – weiblich oder männlich, verheiratet oder nicht – in Schlafsälen untergebracht, die sich in der Nähe oder auf dem Fabrikgelände selbst befinden. Wir bezeichnen dieses Phänomen als „Dormitory Labour Regime“, um die Rückkehr einer Verbindung von Schlafsälen und Fabriken als hybridem Auswuchs des globalen Kapitalismus einerseits und des Erbes des Staatssozialismus zu fassen.8 Wir hoffen dieses Dormitory Labour Regime nicht nur als Form des Arbeitsmanagement, sondern auch als Ort für ArbeiterInnensolidarität und Arbeitskämpfe betrachten zu können. Während diese Art der Verwendung von „dormitory labour“ spezifisch für das heutige China ist, ist ihre Auswirkung auf die globale Produktion, besonders im Hinblick auf Arbeitskontrolle und Widerstand, weitreichend.
Bemerkenswert ist die systematische Bereitstellung von Schlafsälen durch Unternehmern für ihre ArbeiterInnenschaft, die mit der Öffnung Chinas für die globalen Produktionsprozesse, beginnend mit der Shenzhen SEZ 1981, einhergeht. Das wurde zur Norm und wurde auf die Mehrheit der ProduktionsarbeiterInnen ausgedehnt. Diese Schlafsäle in China passen weder zum westlichen Vorurteil einer angeblich paternalistischen Form, noch zum „Managerfamiliarismus“ Japans, noch zum Betrieb als „ganzheitlicher Organisation“ der vor-reformierten chinesischen Staatswirtschaft.9 Der Grund liegt darin, dass die gegenwärtigen Schlafsäle nicht als langfristige Einrichtungen, sondern hauptsächlich als kurzfristige Unterkunft für WanderarbeiterInnen dienen. Diese Schlafsäle schließen ein längeres Verhältnis zwischen der einzelnen Firma und dem/der einzelnen ArbeiterIn aus. Dieses Schlafsaal-System wird in den verschiedensten Betrieben angewandt, unabhängig von unterschiedlichen Produktionscharakteristika, Saison oder Standort.
Wichtig ist, dass in China nicht die Unternehmen Unterkünfte für ArbeiterInnen bereitstellen, um die Loyalität des/der ArbeiterIn oder knappe Fähigkeiten [Skills; d.Ü.] zu sichern, sondern um die kurzfristige Verfügbarkeit der WanderarbeiterInnen zu gewährleisten und den Gebrauch dieser Arbeitskraft während des Arbeitstages zu maximieren. Die so gesicherte Beute repräsentiert eine neue Produktionsart, die sowohl dem Überfluss an ländlichen ArbeiterInnen als auch der ökonomischen Integration Chinas in das globale Fließband Rechnung trägt.
Die offensichtliche Rückkehr dieser alten Form der Arbeitskraftverwendung ist das hybride Ergebnis des globalen Kapitalismus und des Staatssozialismus, neu belebt von den transnationalen Konzernen und den Lokalwirtschaften im Kontext der Globalisierung. Praktisch alle ausländischen Unternehmen nutzen Schlafsäle, die sie entweder von lokalen Behörden mieten oder selber zu Verfügung stellen. Jeder dieser Konzerne strebt die Sicherung jugendlicher WanderarbeiterInnen, speziell Arbeiterinnen, für kurze Arbeitsdauer im Betrieb an. So verfestigt sich eine Infrastruktur, die die unsicheren chinesischen Arbeitsverhältnisse aufrechterhält.
Die Schlafsäle für FabriksarbeiterInnen gehören zum oder grenzen an das Fabrikgelände. Sie sind kommunale Hochhäuser, die einige hundert ArbeiterInnen beherbergen, mit in der Regel acht bis zwanzig ArbeiterInnen pro Raum. Wasch- und Toiletteinrichtungen sind gemeinschaftlich und zwischen den Räumen, Etagen oder ganzen Einheiten gelegen. Dies macht den Lebensraum extrem kollektiv, ohne Möglichkeit auf Privatsphäre, außer hinter den geschlossenen Vorhängen einer Schlafkoje. Diese materiellen Umstände erklären jedoch nicht die Rolle der Schlafsäle als Form der Unterbringung – als Leben-bei-der-Arbeitsstätte. Zentral für diese Schlafsaalform ist eine politische Ökonomie, die das Zusammenkommen typischerweise junger weiblicher Arbeiterinnen regelt. Getrennt von ihren Familien, ihrer Heimat und ihrer normalen Routine, leben diese Menschen konzentriert am Arbeitsplatz und den herrschenden Gesetzen unterworfen, die ihre Persönlichkeiten vollständig unterjochen und sie zu Instrumenten der Produktion degradieren. Weil das vertragliche Arbeitsverhältnis äußerst kurz gehalten ist, übersteigt die Entfremdung der Individuen den Mangel an Besitz von Produktionmitteln oder die Kontrolle über den Produktionsprozess. ArbeiterInnen in Schlafsälen leben in einem System, das sie von ihrer Vergangenheit entfremdet und das alltägliche Umfeld durch die Fabrik, dominiert von ungewöhnlicher Sprache, Essen, Produktionsmethoden und Produkten ersetzt.
Die doppelte Entfremdung, die von diesen WanderarbeiterInnen erlebt wird, wird durch die Kontrolle über die ArbeiterInnenschaft durch Dormitory Labour Regimes illustriert. Das führt zu einer absoluten Verlängerung des Arbeitstages und zur Rückkehr zu einer absoluten Mehrwertproduktion. Auf Grund dieses leichten Zugangs zur Arbeitskraft während des Arbeitstages ist ein Just-in-Time-Arbeitssystem für die Just-in-Time-Produktion möglich geworden. Die Dormitory Labour Regimes bedeuten ebenso Kontrolle über die tägliche Reproduktion der Arbeitskraft innerhalb der Fabrik. Unterkunft, Essen, Reisen, Soziales und Freizeit – alles geschieht innerhalb einer Produktionseinheit. Wir können deshalb eine Verdichtung des „Arbeitslebens“ durch überlange Arbeitszeiten und den produktionsbasierten Gebrauch junger Arbeitskräfte erwarten.
Die Arbeitsbedingungen von ArbeiterInnen in der Textilindustrie sind ein gutes Beispiel. Die Guangdongprovinz in Südchina ist das größte Produktionsgebiet chinesischer Textilexporte. Wir führten 2003-2004 eine Untersuchung in zehn kleinen bis mittelgroßen Bekleidungsfabriken in Shenzen durch. Die Ergebnisse bezüglich Bezahlung von Arbeiterinnen, Arbeitszeiten und Gesundheit zeigten Arbeitsbedingungen, die disziplinierend und ausbeuterisch sind. Von den 50 bis 200 ArbeiterInnen einer jeden Fabrik sind über 70 Prozent Frauen, verantwortlich fürs Nähen – junge Mädchen und Frauen mittleren Alters. Die kleineren Fabriken gehören hauptsächlich kleinen Subunternehmern. Die größeren Betriebe, die internationale Marken beliefern, sind von Investoren aus Hong Kong und Taiwan finanziert.
Das chinesischen Arbeitsrecht, welches seit 1. Jänner 1995 in Kraft ist, legt für die Arbeitszeit fest, dass eine Fünf-Tage-Woche nicht mehr als 40 Arbeitsstunden umfasst und dass Überstunden im Monat auf 36 Stunden begrenzt sind. Trotzdem ignorieren nahezu alle Unternehmen diese Gesetze und der durchschnittliche Arbeitstag beträgt oft 12 oder 13 Stunden – sechs bis sieben Tage die Woche. Rückt die Deadline für eine Produktion näher, kürzt das Management oft die Essens- und die Zwischenpausen auf nur 30 Minuten. Um mit der immer häufiger werdenden Just-in-Time-Produktion fertig zu werden, fordert das Management oft das Durcharbeiten bis in die frühen Morgenstunden. In den extremsten Fällen werden ArbeiterInnen gezwungen, 48 Stunden durchzuarbeiten. Die totale Arbeitszeit pro Woche erhöht sich so oft auf 90 bis 110 Stunden.10 Selbstverständlich spielen bei solchen Arbeitsbedingungen betriebsinterne Schlafräume eine essentielle Rolle, um eine Verfügbarkeit von ArbeiterInnen rund um die Uhr zu gewährleisten.
Unter solchen Druck gestellt leiden Arbeiterinnen an einer ganze Reihe beruflich bedingter Krankheiten, wie Menstruationsstörungen, Rücken- und Kopfschmerzen, verschlechterter Sehkraft, Müdigkeit und Atembeschwerden. Die Situation wird durch die schlechte Belüftung des Arbeitsplatzes noch verschlimmert. Schwächere Arbeiterinnen fallen am Arbeitsplatz, vor allem während der heißen Sommermonate, manchmal in Ohnmacht. Bei den meisten Unternehmen gibt es keinen bezahlten Krankenstand. Bezahlte Karenz, ebenfalls durch ein Gesetz „gesichert“, wird teilweise ignoriert, obwohl dies als Grundrecht gilt.
Das größte Problem aller interviewten ArbeiterInnen der Textilindustrie war die illegale (Unter-)Bezahlung unter dem Subsistenzniveau. Zwischen dem 1. Mai 2004 und 2005 betrug der Mindestlohn in Shenzhen SEZ 610 Yuan (d. s. ca. 58 Euro). Der Stundenlohn beträgt so 3,51 Yuan (33 Cent). Überstunden sollten mit 5,30 Yuan (50 Cent) wochentags und 7,01 Yuan (66 Cent) am Wochenende bezahlt werden. Durchschnittliche ArbeiterInnen in Shenzhen, die 13 Stunden am Tag arbeiten müssen, müssten für 400 Stunden pro Monat 1.916 Yuan (180 Euro) verdienen. Selten verdienen die ArbeiterInnen aber mehr als 500-800 Yuan (47-75 Euro) pro Monat. Es gibt zwei Hauptgründe dafür: Erstens sind die anstelle eines Monatslohns erhaltenen Stücklöhne extrem niedrig, zweitens wird der Stücklohn für ArbeiterInnen niemals transparent gemacht. Am Lohnzettel scheint nur ein Pauschalbetrag auf, ohne auf einzelne Komponenten einzugehen, während Geldstrafen und Abzüge wie für Essen und Unterkunft klar aufgelistet werden und 150-200 Yuan (14-18 Euro) pro Monat betragen können. ArbeiterInnen können sich kaum das Leben in Großstädten wie Shenzhen leisten.
Die Mehrheit der befragten TextilarbeiterInnen in den kleineren privat geführten Unternehmen, haben noch nicht einmal einen Arbeitsvertrag – ein klarer Verstoß gegen das chinesische Arbeitsrecht. Ohne legales Beschäftigungsverhältnis haben die ArbeiterInnen auch keinen Anspruch auf staatlich geregelte Versicherungen. Leiden ArbeiterInnen unter arbeitsbedingten Krankheiten oder Verletzungen haben sie große Schwierigkeiten, medizinische Hilfe zu erhalten.
Auf die lokalen Regierungen kann offensichtlich nicht gezählt werden, wenn es darum geht, Arbeitsrechte durchzusetzen. Um ökonomisches Wachstum zu forcieren und um für ausländisches Kapital attraktiv zu werden, gehen lokale Regierungen mit Absicht sehr locker mit dem Arbeitsrecht um und bekommen so im Gegenzug große Steuereinnahmen von den Unternehmensgewinnen, und Boni von prosperierenden Konzernen. Oft sind lokale Beamte gleichzeitig selbst Investoren in größere Unternehmen und nehmen manchmal Bestechungsgelder von kleineren Fabriken an, um Zertifikate für Sicherheitsbestimmungen auszustellen.
Andrerseits beklagen FabriksbesitzerInnen und ManagerInnen den Druck von transnationalen Konzernen. Ein Manager einer großen Textilfabrik in Dongguan in der Provinz Guangdong beschreibt in der Financial Times diesen Druck: „Wir stehen unter großem Stress, Kunden bestellen oft sehr kurzfristig, ändern ihre Bestellung, während die Produktion schon läuft und zahlen ihre Rechnungen spät. Zur gleichen Zeit verlangen sie eine bessere Ausbildung unseres Personals, bessere Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen. Wir können nicht alles gleichzeitig erfüllen.“11
Für TNKs, wie beispielsweise Levi Strauss, Nike, Reebok, The Gap und andere sind Konzernkodizes zum Trend geworden. Die Einführung solcher Kodizes wurde Teil deren Unternehmensstrategie, um den Verkauf ihrer Waren und Dienstleistungen am globalen Markt sicher zu stellen. Interne Überprüfungen von Subunternehmen oder Zulieferern durch Konzernvertreter sind normalerweise der Fall, obwohl manchmal unabhängige PrüferInnen, wie zum Beispiel AkademikerInnen, AutorInnen und/oder NGOs eingeladen werden, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen.
Konzerneigene Kodizes müssen in den größeren ökonomischen Zonen der Deltas des Pearl- und des Yangtze-Flusses im Süden Chinas erst vollständig implementiert werden. Korruption, Falschaussagen und Verschleierungen sind an der Tagesordnung. Der chinesische Manager einer großen Zuliefererfabrik für die Textilindustrie im Pearl-Fluss-Delta in Guangdong berichtete in der Financial Times, dass die Zeitkarten der ArbeiterInnen und die Verkaufszahlen gefälscht waren, um die Anforderungen der Kodizes zu erfüllen. Ein Team von sechs Angestellten wurde beauftragt die Dokumente vorzubereiten, so dass sie perfekt in die Wünsche ausländischer Investoren passen würden. Das ist nur ein Beispiel unter Tausenden. Wichtiger jedoch ist, dass das die Beschränkungen konzerninterner Prüfung klar zeigt. ArbeiterInnen wurde unter schwerer Strafe verboten, nicht vorgegebene Antworten zu geben und wurden für „richtige“ Antworten belohnt. Zum Beispiel, wenn InspektorInnen nach den Arbeitszeiten fragen, müssen die ArbeiterInnen antworten, dass sie einen Standard-Arbeitstag von acht Stunden haben, mit höchstens drei Überstunden pro Tag.
Die Abwesenheit oder Ineffizienz der staatlichen Rolle, als auch der Unternehmenskodizes, im Schutz der ArbeiterInnen-Rechte, schaffen ein Bedürfnis nach alternativen zivilen Organisationen. Wir erleben einen Boom an ArbeiterInnen-NGOs im Pearl-Fluss-Delta der späten 1990er und 2000er Jahre, die um ihr Dasein kämpfen, während eine Zivilgesellschaft noch nicht entstanden ist. Durch den geringen politischen, legalen und organisatorischen Raum, den solche ArbeiterInnen-NGOs haben, haben sie keine andere Wahl als eine Taktik anzunehmen, die diese als „NGOs of Chinese characteristics“ formen. Einige von ihnen unterhielten eine enge Verbindung mit sozialen Organisationen oder Stiftungen in Hong Kong, wie beispielsweise das „Chinese Working Women Network“ (CWWN) oder „Workers’ Empowerment“. Andere wurden von chinesischen AnwältInnen und JournalistInnen gegründet, wie das „Institute of Contemporary Observations“ (ICO). Viele wurden von WanderarbeiterInnen gegründet, wie beispielsweise die „Migrant Workers’ Association“. Ohne Zivilgesellschaft, ohne öffentliche Teilnahme mussten sich diese Organisationen großen Herausforderungen stellen, um langfristig Raum für die Organisierung von ArbeiterInnen oder deren Stärkung zu schaffen. Während einige von ihnen einen „bevormundenden“ Partner, wie beispielsweise die lokale ACFTU (All Chinese Federation of Trade Unions), die „Youth League“ oder das Gesundheitsminsterium finden, um einen legalen Status zu erlangen, sind einige auch einfach als Wirtschaftseinheiten gegründet worden, wie bspw. das ICO. Der Rest dieser NGOs operiert einfach ohne Registrierung.
Nehmen wir das CWWN als Beispiel, um die Organisierung und Arbeit von ArbeiterInnen-NGOs im Pearl-Fluss-Delta zu illustrieren. Als NGO aus Hong Kong wurde sie bereits 1996 in der Industriezone Südchinas ins Leben gerufen und organisiert seither Fabriksarbeiterinnen in Shenzhen, der ersten SEZ Chinas. Sie kämpft für die Anerkennung und die Aufrechterhaltung von Arbeits- und Genderrechten und unterstützt Grassroots-Netzwerke und soziale Gerechtigkeit in China. Wegen der großen Schwierigkeiten, WanderarbeiterInnen direkt am Arbeitsplatz zu organisieren, ist das CWWN in den WanderarbeiterInnen-Communities verwurzelt und fördert verschiedene Projekte, um ArbeiterInnen außerhalb der traditionellen Gewerkschaften zu stärken. Um eine Basis in China zu sichern, organisiert das CWWN nicht nur ArbeiterInnen, sondern arbeitet auch mit lokalen Staatsbeamten zusammen, die ebenfalls die missliche Lage von Wanderarbeiterinnen kritisieren und bereit sind gangbare Projekte zu unterstützen. So war es dem CWWN seit mehr als zehn Jahren möglich, verschiedene Grassrootnetwork Projekte im Zentrum der Guangdong-Provinz aufzubauen, die sich mit Arbeitsrechten, Gesundheits- und Sicherheitsthemen, Gendergleichheit und nachhaltiger Entwicklung beschäftigen. Das CWWN startete auch Initiativen zur Organisierung in den Fabriksschlafstätten, gründete Kooperativen für Arbeiterinnen und veranstaltete Trainingsworkshops zu Arbeits- und Genderrechten, um die Arbeitsbedingungen in den Fabriken zu verbessern und chinesische Arbeiterinnen Empowerment-Programme anzubieten. Es organisiert ebenso kulturelle und bildungstechnische Aktivitäten, um das soziale Leben von Arbeiterinnen zu bereichern und ermutigt zu Solidarität. Zusätzlich zu diesen Projekten organisiert das CWWN Arbeitsplatz-Trainings, Informations- und Erfahrungsaustausch unter den verschiedenen Gruppen.
Ein einzigartiges Programm des CWWN war das Mobile-Van-Projekt, wo ein „Women Health Express (WHE)“ die verschiedenen Dormitory-Industriezentren anfährt, um Wanderarbeiterinnen zu erreichen, die in Teilen Chinas leben, wo das Netzwerk keine feste Basis hat. Ein adaptierter Minibus beinhaltet medizinische Ausrüstung, Bücher, TV und VCDs sowie Lausprecher für Bildungsveramstaltungen im Freien. Dieser Van funktioniert als ein mobiles Service-Center für die Verbreitung von Information zu Gesundheits- und Sicherheitsthemen, genauso wie zur Information und Schulung grundlegender Arbeitsrechte. Der WHE begann seine Arbeit am 8. März 2000 im Industriegebiet des Pearl-Fluss-Deltas und beendete sie im März 2002. Dieses Projekt erreichte über 80.000 Arbeiterinnen. Trotz dieses Erfolges konnte das Projekt aufgrund seiner mobilen Konzeption keine dauerhaft organisierten Gruppen von ArbeiterInnen aufbauen und über einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten.
Das CWWN hat versucht die Integration von lokalen Arbeiterinnen in ihre Programme zu beschleunigen, damit sie eine größere Rolle in der Planung und Organisierung von Projekten einnehmen können. Zusätzlich zur Arbeit mit Wanderarbeiterinnen Südchinas unterhält das CWWN ein Arbeiterinnen-Zentrum, eine Gruppe für verletzte Arbeiterinnen und ein Gemeindezentrum für eine professionelle Gesundheitsausbildung. Auf dem WHE basierend bildete das CWWN ein Team von lokalen OrganizerInnen in China aus, um die selbstständige Organisierung verletzter Arbeiterinnen zu unterstützen und ein öffentliches Bewusstsein zu erzeugen, das berufsbedingte Krankheiten nicht ignoriert.
In aller Kürze betreffen die Hauptprobleme der Arbeiterinnen im Pearl-Fluss-Delta vor allem drei Bereiche: Arbeitsrechte, Berufskrankheiten und Sicherheit am Arbeitsplatz, und Frauenrechte bezüglich ökonomischer Unabhängigkeit. Diese Hauptthemen werden von der Arbeit des CWWN abgedeckt.
Zusätzlich zu den Trainings in den Communities versuchen die ArbeiterInnen-NGOs ebenfalls, ArbeiterInnen am Arbeitsplatz zu organisieren. 2004 schuf das CWWN, gemeinsam mit zwei Partner-Organisationen, ArbeiterInnen-Komitees in zwei Betrieben, um die Demokratie am Arbeitsplatz durch ein von den ArbeiterInnen ausgehendes Monitoring-Systems zu fördern. Die Größe der Komitees variiert mit der Anzahl der ArbeiterInnen in der Fabrik, ist jedoch zwischen 12 und 14 Personen groß, eine Relation von einem Mitglied des Komitees zu 30 ArbeiterInnen. Der Bennungs- und Wahlprozess ist offen und demokratisch, wo jedeR ArbeiterIn einen geheimen Stimmzettel während der Arbeitszeit abgibt.
Die ArbeiterInnen wissen über ihre Rechte Bescheid und, wie die Umsetzung des Verhaltenskodex am Arbeitsplatz überwacht werden kann. Die ArbeiterInnen führen fabriksweite Wahlen durch und bestimmen so ihre eigenen RepräsentantInnen im Komitee. Diese Komitees untersuchen, ob die Arbeitsbedingungen dem Gesetz entsprechen oder dem Verhaltenskodex. Sie verstehen sich als Alternative zum top-down organisierten offiziellen Gewerkschaftsbund ACFTU.
Die größte Herausforderung für dieses Projekt liegt in der langfristigen Unterstützung der Komitees. ArbeiterInnen-NGOs bemerken, dass ArbeiterInnen noch nicht an wichtigen Entscheidungsprozessen, die sie direkt betreffen, wie Arbeitszeit und Überstundenbezahlung, beteiligt sind. Die Verhandlungsposition gegenüber dem Management in täglichen Entscheidungen muss gestärkt werden. Der Versuch, die Demokratie am Arbeitsplatz zu fördern, scheint noch immer im Anfangsstadium und es wird definitiv noch ein langer Weg zu bestreiten sein.
China ist eine „Weltwerkstatt“ geworden, die im Zusammenhang mit Dormitory-Labour-Regime organisiert ist. Ein großer Pool an billigen WanderarbeiterInnen wurde geschaffen, um den Bedürfnissen globaler Produktionsprozesse in der internationalen Arbeitsteilung zu genügen. Mit dem Aufstieg Chinas zur Weltfabrik ist auch eine neue soziale Kraft – der Dagong-Klasse – entstanden. Die ArbeiterInnen-NGOs streben danach einen gesellschaftlichen Raum von unten für Millionen von WanderarbeiterInnen zu schaffen, die das Rückgrat der boomenden Exportwirtschaft Chinas darstellen, indem sie ArbeiterInnen und lokale OrganizerInnen ausbilden und Solidarität aufzubauen. In einem „Brief an die FreundInnen der WanderarbeiterInnen“, ruft die „Migrant Workers’ Association“ ArbeiterInnen zur Unterstützung auf:
„Nur wenn wir organisiert sind und uns gegenseitig solidarisch unterstützen, wird diese neue Klasse an WanderarbeiterInnen, diese große benachteiligte Gruppe, sich nicht „wie Sand zerstreuen“ und kein Opfer willkürlicher Tyranneien werden. Nur wenn wir organisiert sind, können wir die Aufmerksamkeit der Regierung erreichen und können wir effektive Wege finden, die unsere Probleme zu reflektieren. Nur wenn wir organisiert sind, können wir WanderarbeiterInnen eine hörbare Stimme haben, und kommunikative Mechanismen für einen ständigen und effektiven Austausch mit Regierung und Gesellschaft aufbauen, um unsere Arbeitsbedingungen zu verbessern. Nur wenn wir organisiert sind, können arbeitsrechtliche Bestimmungen und unser institutioneller Schutz gesichert werden.“
1 Solinger, Dorothy J.: Contesting Citizenship in Urban China. Berkeley 1999
2 Chan, Anita: China’s Workers Under Assault. The Exploitation of Labor in a Globalizing Economy, New York 2001; Lee, Ching Kwan: Gender and the South China Miracle. Two Worlds of Factory Women, Berkeley 1998; Pun, Ngai: Made in China. Women Factory Workers in a Global Workplace, Durham/ Hong Kong 2005
3 Pun: Made in China, a.a.O.
4 Das Hokou-System („eingetragener ständiger Wohnsitz“ oder „Anzahl der Haushalte und der Gesamtbevölkerung“), das den Aufenthaltsort an einen zugewiesenen Ort band. Der Aufenthalt am zugeordneten Wohnort war Voraussetzung für jede Art von Beschäftigung und die Vergabe von Essen und anderen wichtigen Konsumgütern.
5 Lavely, William: First Impressions of the 2000 Census of China, in: Population and Development Review 27(4), 2001, S. 755-69, hier S. 3; Liang, Zai/ Ma Zhongdong: China’s Floating Population. New Evidence from the 2000 Census, in: Population and Development Review 30(3), 2004, S. 467-88; Gaetano, Arianne M./ Jacka, Tamara (Hg.): On the Move: Women in Rural-to-Urban Migration in Contemporary China. New York 2004
6 Pun, Ngai: Becoming Dagongmei: The Politics of Identity and Difference in Reform China, in: The China Journal 42, 1999, S. 1-19, Gaetano/Jacka: On the Move, a.a.O.
7 Liang/ Ma: China’s Floating Population, a.a.O.
8 Pun, Ngai/ Smith, Chris: Putting Transnational Labour Process in its Place: Dormitory Labour Regime in Post-Socialist China, in: Work, Employment and Society 21(1), 2007, S. 27-45
9 Ebd.
10 SACOM: Looking for Mickey Mouse’s Conscience: A survey on working conditions of Disney supplier factories in China, online: http://www.sacom.org.hk (10. 11. 2005)
11 Code of Conduct Implementation in China: Laying a False Trail, The Financial Times, 21. April 2005
Mit freundlicher Genehmigung von Pun Ngai
Übersetzung: Michael Doblmair und Philipp Probst
„Made in China“ von Pun Ngai ist 2005 bei Duke University Press erschienen