Das Organizing-Prinzip, als Best-Practice-Modell zur Organisierung der so genannten „Unorganiserbaren“, steht auf der (Gewerkschafts-)Linken vor allem dafür, dass aktives Handeln gegen den Mitgliederschwund möglich ist. Maria Asenbaum und Karin Hädicke argumentieren, dass für eine Revitalisierung der Gewerkschaftsbewegung nicht nur organisatorischer Wiederaufbau, sondern auch eine strategisch-politische Umorientierung nötig ist.
Gewerkschaften im europäischen und im nordamerikanischen Raum sehen sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zunehmend mit einer Verringerung ihrer organisatorischen Stärke, ihrer Handlungsmöglichkeiten und ihrer Glaubwürdigkeit konfrontiert. Dass die Gewerkschaften zusehends an gesellschaftlicher Relevanz verlieren, wird dabei häufig den veränderten ökonomischen Strukturen, zusammengefasst unter dem Schlagwort neoliberale Globalisierung, und der rasanten Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse zugeschrieben. Gerade in diesem Kontext ist aber eine durchsetzungsfähige Vertretung der Interessen lohnabhängig Beschäftigter unbedingt nötig. Die Schwierigkeiten, vor denen die Gewerkschaftsbewegung heute steht, haben jedoch nicht nur externen Charakter. Für die genauere Betrachtung von Lösungsstrategien müssen daher zunächst Problemfelder ausgemacht werden.
Ein Großteil der Beschäftigten sieht die Gewerkschaften immer weniger als Vertreterinnen ihrer Interessen, insbesondere als erfolgreiche Vertreterinnen ihrer Interessen. Im gesellschaftlichen Bewusstsein hat sich das Bild der Gewerkschaften gewandelt von einem verlässlichen Garanten für weitgehende soziale Sicherheit zu einer trägen, den Herausforderungen der Krise, der Globalisierung und damit einhergehenden Veränderungen in der Arbeitswelt und dem Abbau sozialstaatlicher Einrichtungen nicht gewachsenen Organisation. Messbar ist diese Veränderung an einem stetigen Mitgliederschwund in den Industriestaaten Europas und Nordamerikas. Dabei gibt es einen allgemeinen Trend, der jedoch von verschiedenen Faktoren überlagert und beeinflusst wird1.
Eine offensichtliche Schwäche der Gewerkschaften ist die halbherzige Reaktion auf die Veränderungen in der Arbeitswelt, in der immer mehr Frauen in die Erwerbstätigkeit gehen und MigrantInnen vorwiegend für niedrig bezahlte Jobs eingesetzt werden. Einzelne Gewerkschaften haben in den letzten Jahren Maßnahmen gegen die Benachteiligung von Minderheiten und Frauen in den Gewerkschaften ergriffen und fördern eine stärkere Berücksichtigung ihrer Interessen. Separate Strukturen und Netzwerke wurden eingerichtet, so dass zumindest spezielle Interessen und Bedürfnisse formuliert werden können.
Quotenregelungen in den Entscheidungsgremien wurden eingeführt. Die daraus resultierenden Strukturveränderungen – Frauen und MigrantInnen in Gewerkschaftsvorständen usw. – führen allerdings nicht automatisch zu Veränderungen in der Mitgliederzusammensetzung. Der Ausdruck der intensiven Auseinandersetzungen mit dem Thema Gleichstellung ist demnach vorwiegend formaler und organisatorischer Natur und stößt schnell an Grenzen. Obwohl zum Beispiel in Österreich der Anteil der erwerbstätigen Frauen immer weiter anwächst2, ist der Anteil von Frauen in der Gewerkschaft über Jahrzehnte mit ca. 30% gleich geblieben.3
In Studien, die die Ursachen für die sinkende Mitgliedschaft von Jugendlichen4 in den Gewerkschaften untersuchen, taucht immer wieder ein Faktor auf: Während organisierte Protestaktionen, Streiks und Solidarität als positiv wahrgenommen werden, empfinden Jugendliche gewerkschaftliche Strukturen als zu starr, zu undurchsichtig, zu undemokratisch. Das trifft ebenso für immer mehr Beschäftigte zu, die direkt oder indirekt mit prekären Arbeitssituationen konfrontiert sind und bisher nicht die Erfahrung haben, dass ihnen die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft Unterstützung bieten könnte.
Dass ein Kernstück der neoliberalen Umstrukturierung der globalen Ökonomie die so genannte Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen ausmacht, wurde im Schwerpunkt dieses Magazins bereits ausführlich diskutiert. Wie von gewerkschaftlicher Seite damit umgegangen wird, ist eng an das nähere Verständnis dieses Konstrukts geknüpft, das heißt, wie breit wird der Begriff gefasst, sprich, wer ist eigentlich von Prekarisierung betroffen?
Prekarisierung wird häufig definiert als Zuwachs an unsicheren, flexiblen Arbeitsverhältnissen, wie Leih- und Zeitarbeit, befristete Beschäftigung, erzwungene Teilzeit, Mini- und Midi-Jobs, Scheinselbstständige usw.5 Dass damit nur die Menschen, die in solchen Verhältnissen beschäftigt sind, als „Betroffene“ angesehen werden, ist dabei aber zu kurz gegriffen. Prekarisierung bedeutet gesamtgesellschaftliche Verunsicherung, „die Wiederkehr sozialer Unsicherheit“6. In einem „sicheren“ Beschäftigungsverhältnis zu stehen, wird immer mehr zum Privileg. Das Heer der Prekarisierten scheint stetig zu wachsen und der Diskurs zur neuen Unterschicht schürt die Ängste, noch weiter abzusteigen und irgendwann die Chance auf einen Platz in der Mitte der Gesellschaft endgültig verloren zu haben7. Das Wort Angst ist dabei keine Übertreibung. In der in Deutschland durchgeführten INFRATEST-Studie8 geben 49 Prozent der Befragten an, dass sie befürchten, „ihren Lebensstandard nicht halten zu können“, 46 Prozent empfinden ihr „Leben als ständigen Kampf“ und 63 Prozent machen „die gesellschaftlichen Veränderungen Angst“. Diese Angst, gepaart mit der uns täglich berieselnden Konkurrenzideologie, führt zu einer Art „neuen Gefügigkeit“, die es den herrschenden Eliten wiederum erleichtert, die gesamtgesellschaftliche Prekarisierung/Verunsicherung voranzutreiben.
Um in einer solchen Situation als gewerkschaftliche Interessensvertretung ernst genommen zu werden, muss die Problematik in ihrem vollen Umfang verstanden werden. Das Problem „atypischer“ Beschäftigungsverhältnisse zu separieren und als Randthema festzumachen, vertieft den Spalt zwischen Kernbelegschaft und „den Prekären“. Hyman9 fordert hier eine Redefinition der ArbeiterInneninteressen: „Dabei geht es um neue Definitionen und Repräsentationen der ArbeiterInnen-Interessen, diese muss einerseits sensitiv für die tatsächlichen und eventuell unterschiedlichen Interessen der (potentiellen) Mitglieder sein, andererseits eine Agenda aufstellen, die vereint anstatt zu spalten.“
Im Hintergrund dieser Problemstellungen steht die Selbstdefinition der Gewerkschaft und ihrer gesellschaftlichen Rolle, sowie die Frage, wessen Interessen genau vertreten werden sollen, d. h. eigentlich die Frage des Klassenbegriffs. Warum ist es so überraschend, dass auch teilzeitbeschäftigte Frauen, MigrantInnen in inoffiziellen Beschäftigungsverhältnissen oder Working Poor zur ArbeiterInnenklasse gehören? Warum werden sie als „neues Klientel“ so spät entdeckt? Häufig ist die Klassendefinition im gewerkschaftlichen Bereich sehr eng gefasst und mit dem Stereotyp des weißen, männlichen Industriearbeiters assoziiert. Tradierte Vorstellungen von ArbeiterInnen-Kultur und -Habitus verhindern einen weiter gefassten Begriff der Klasse. In diesem Zusammenhang erscheint es wesentlich, sich nicht durch traditionelle Denkfiguren den Blick auf die reale Vielfalt der ArbeiterInnenklasse verstellen zu lassen.
Die nächste grundlegende Frage ist, wie können „Interessen der Klasse“ durchgesetzt werden. In verschiedenen Ländern haben sich hier unterschiedliche strategische Bündnisse und unterschiedliche Gewerkschaftsidentitäten entwickelt, vom Business Unionism (z. B. USA), über Sozialpartnerschaft (z. B. Deutschland, Österreich), bis Antikapitalistische Opposition (z. B. Italien).10 Diese unterschiedlichen Formen fließen aus dem Selbstverständnis und der Geschichte der jeweiligen Gewerkschaft11, sie sind aber auch an die ökonomische Situation gebunden.12 “Nachdem der Triumph der Sozialpartnerschaft bisher stark auf ökonomischer Basis beruht hat und diese Basis jetzt untergraben wird, müssen Gewerkschaften nach neuen Instrumenten der Marktregulation suchen, die das Konsensuale überwindet. Und da das Aufeinanderprallen ökonomischer Interessen jetzt wieder im Mittelpunkt steht, erlangt die Klassenlogik neue Resonanz.“13
Die (sozial-)partnerschaftlichen Modelle sind unter den aktuellen ökonomischen Bedingungen nicht tragfähig. Beispielsweise in Österreich ist die Sozialpartnerschaft bereits einseitig aufgekündigt und besteht letztlich als eine Scheinpartnerschaft, die nur zu einer einfacheren Umsetzung der Interessen des Kapitals dient. Die Gewerkschaft wird damit zur Handlangerin des neoliberalen Umbaus und verliert nicht wegen verlorener, sondern vor allem wegen nicht geführter Kämpfe das Vertrauen der Mitglieder.
In fortschrittlichen Teilen einiger Gewerkschaften z. B. in Großbritannien oder Deutschland wird jetzt die Forderung laut, aus einer nötigen Problemanalyse nun auch Konsequenzen zu ziehen und zu handeln. Das Zauberwort „Organizing“ wird dabei gerne angeführt und steht in erster Linie dafür, dass aktives Handeln gegen den Mitgliederschwund möglich ist. Organizing kann ein Weg sein, um wieder in die Offensive zu kommen. Nicht nur im neoliberalen Sachzwangdenken zu verharren, sondern eine starke Gewerkschaftsbewegung zu formieren, die wieder gewichtigere Forderungen stellen kann.
Der Begriff Organizing ist dabei unscharf. Das zeigt z. B. der Definitionsversuch von Bremme14: „Organizing eignet sich nach der Überfrachtung dieses Begriffs nur noch als Überschrift für ein strategisches, an den Themen der Beschäftigten ausgerichtetes Empowermentkonzept, das für die Durchsetzung gewerkschaftlicher Ideen viele Elemente des Campaignings, des Communitiy Organizings wie des klassischen Projektmanagementwissens zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Machtentfaltung immer wieder neu kombiniert.“15
Trotz bzw. auch wegen der Schwammigkeit des Begriffs können damit relevante Debatten aufgeworfen werden. Ob die Organizing-Debatte um den heißen Brei herum geführt wird, oder ob Fragen der politischen Positionierung und der neuen Herausforderungen tatsächlich gestellt werden, liegt vor allem an den AkteurInnen und fällt demnach in verschiedenen Gewerkschaften unterschiedlich aus. Dass damit ein nachhaltiger Revitalisierungsversuch der Gewerkschaftsbewegung steht und fällt wird hier vorausgeschickt, soll aber im Folgenden genauer diskutiert werden.
In einem ersten Betrachtungsversuch wird an dieser Stelle die Organizingtechnik vorgestellt. Hierbei handelt es sich um eine Art schematischen Handlungsablauf, der Gewerkschaften, die sich dem Organizing-Projekt anschließen wollen, zur Verfügung gestellt wird. Es ist eine Art Aktions-Leitfaden, der sich an den erfolgreichen Kampagnen US-amerikanischer Gewerkschaften16 orientiert, aber von vielen AktivistInnen/AutorInnen ins Zentrum der Debatte gestellt wird.
Organizing hat zum Ziel, durch comprehensive campaigns Mitglieder zu aktivieren, Netzwerke zu schaffen, neue Mitglieder zu rekrutieren, indem professionelle OrganizerInnen eingesetzt werden und vor allem ein (Arbeits)kampf gewonnen wird. Die gesamte Kampagne wird zentral geplant, während die MitarbeiterInnen im Betrieb erst später einbezogen werden. Bei der Planung und Durchführung einer comprehensive campaign wird dabei meist folgendermaßen vorgegangen:17
Am Anfang steht der Plan to win. Es wird ein strategisch bedeutsamer Betrieb gewählt, bei dem es realistische Erfolgsaussichten gibt. In Vorbereitung auf die Kampagne wird ausführlich über das Unternehmen und seine geschäftlichen Beziehungen recherchiert, mögliche Allianzen mit zivilgesellschaftlichen AkteurInnen z. B. Prominenten, NGOs, Community Organisationen, werden ausgelotet, die Medienarbeit wird vorbereitet und Informationen zur rechtliche Absicherung werden eingeholt. Dann startet das Ground Campaining vor Ort. Dazu werden professionell ausgebildete OrganizerInnen eingesetzt, die die Beschäftigten am Arbeitsplatz oder zuhause aufsuchen und mit ihnen ihre Anliegen und Probleme diskutieren. Dabei sollen nicht nur der Kontakt hergestellt und mögliche Konfliktthemen im Betrieb eruiert, sondern auch SprecherInnen und MultiplikatorInnen ausgemacht werden, die dann die Stützen der Basisnetzwerke werden sollen. In Bezug auf die geführten Gespräche wird dann zunächst ein Kampf um ein kleines erreichbares Ziel organisiert, um Selbstbewusstsein zu schaffen (Empowerment). Die Kampagne im engeren Sinn, deren Ziel bereits im plan to win zentral festgelegt wurde, wird dann mit den Beschäftigten gemeinsam in Betriebs-/Orts-/Branchen-weiten Treffen aufgebaut. Dabei wird eine Strategie der „Eskalation mit kalkulierbarem Risiko“ verfolgt, d.h. ein Mix aus kleineren Arbeitskämpfen mit Medienaktionen, Kundgebungen, Einbindung der Zivilgesellschaft, Aktionen auf der KonsumentInnenseite, Aktionen, die die Kundenfirmen betreffen usw. Jetzt sollte der plan to win aufgehen und die Unternehmensleitung muss nachgeben. Darauf folgend wird eine „Blitz“-Rekrutierungsaktion unter Einsatz aller verfügbaren OrganizerInnen durchgeführt, um möglichst schnell möglichst viele neue Mitglieder zu gewinnen.
Diese Vorgehensweise ist der rechtlichen und politischen Situation der Gewerkschaften in den USA angepasst.18 Schon allein deswegen erscheint eine Übertragung eines Organizing-Modells in einige europäische Länder auf der rein technischen Ebene fragwürdig. So begrüßenswert die Idee ist, aktiv auf potentielle Mitglieder zuzugehen und sich über das Führen und Gewinnen von Kämpfen und Kampagnen Gehör im öffentlichen Raum zu verschaffen, sowenig stellt OrKa19 (Organizing and Campaigning) eine Lösung für oben angesprochene politische Probleme der Gewerkschaften dar.
Das Organizingkonzept, welches in der bisherigen Darstellung eher als Projektmanagementtechnik klassifiziert werden kann, hat seinen Ursprung allerdings in Auseinandersetzungen um unterschiedliche Versuche der Revitalisierung der Gewerkschaftsbewegung in den USA. In einer viel weiter gefassten gesamt-strategischen Debatte geht es dabei seit Ende der 1990er Jahre in den USA um eine Umorientierung der Gewerkschaft vom traditionellen Business Unionism (beschränkt auf wirtschaftliche Forderungen auf der betrieblichen Ebene) zu einer neuen Art der Gewerkschaft, dem Social Movement Unionism (SMU). Dabei handelt es sich um mehr als einen Wiederbelebungsversuch der traditionellen ArbeiterInnen-Organisationen, die Gewerkschaft soll hier zur Sozialen Bewegung werden. Das Zusammenkommen von Gewerkschaft und sozialer Bewegung nimmt hier wiederum in verschiedenen Konzeptionen des SMU unterschiedliche Formen an.
Anstoß der seit den 1980ern geführten Debatte über alternative Organisationsmodelle waren zunächst Arbeitskämpfe in Brasilien und Südafrika, sowie die Ansätze der Neuen Sozialen Bewegungen20. Die ersten theoretischen Überlegungen von Waterman, der sich selbst als Erfinder des SMU bezeichnet, waren weniger als Handlungsanleitung für Gewerkschaften gedacht, sondern viel mehr eine Konzeptionierung und Theoretisierung des Zusammenkommens der Gewerkschafts- mit der sozialen Bewegung, dessen stärkster Ausdruck die Demonstration 1999 in Seattle gegen die WTO war. Watermans Intention kann dabei eher dahingehend gedeutet werden, die Gewerkschaftsbewegung in der breiteren Bewegung21 aufzulösen. In seinen retrospektiven Texten22 verwehrt er sich gegen jede Lesart, die versucht, „leninistisches“ Avantgarde-Denken in seine Konzepte zu packen. Jede strategische Überlegung zu einer spezifischen Positioniertheit der ArbeiterInnenklasse ist für ihn abzulehnen. Hier wird ein Bezug auf negrianische Denkfiguren deutlich23, sowohl in seiner Anti-Klassentheorie und der damit verbundenen Anti-Strategie, als auch in einer gewissen Terminologie vom „Informationsarbeiter“ und der „Netzwerkgesellschaft“24. In seinen neueren Arbeiten versucht Waterman, sich gegenüber SMU-Theorien abzugrenzen, die von einem Klassenstandpunkt ausgehen und praxisorientierter sind, deshalb bezeichnet er seine Theorie jetzt als New Social Unionism.
Eine klassenorientierte Konzeption des SMU stammt beispielsweise vom amerikanischen Gewerkschaftsaktivisten Kim Moody. In Moodys SMU soll sich die Gewerkschaft nicht in der Bewegung auflösen, sondern sich auf ihre Stärke als ArbeiterInnenbewegung besinnen. „Die Social-Movement-Unionism-Bewegung ist zutiefst demokratisch, denn das ist die beste Art, die Stärke der Vielen zu mobilisieren, um den größtmöglichen ökonomischen Druck aufzubauen. Sie ist kämpferisch in gemeinsamen Verhandlungen durch den Glauben, dass jeder Rückzug nur zu mehr Rückschlägen führt – der Schaden des/der Einzelnen ist der Schaden von allen. Sie versucht, Forderungen zu entwickeln, die mehr Arbeitsplätze schaffen und die gesamte Klasse unterstützen. Sie kämpft um die Macht und die Organisation am Arbeitsplatz, weil dort der Hebel am meisten Wirkung hat, wenn er richtig angesetzt wird. Sie ist politisch, indem sie unabhängig von den nachgiebigen liberalen oder sozialdemokratischen Parteien agiert, egal in welchem Verhältnis die Gewerkschaft zu solchen Parteien steht. Sie vervielfacht ihre politische und soziale Macht, indem sie sich bemüht, andere Sektoren der Klasse zu erreichen, seien es andere Gewerkschaften, Nachbarschaftsorganisationen oder soziale Bewegungen.“25
Ausgehend von dieser Definition können drei Eckpfeiler einer klassenorientierten SMU-Strategie ausgemacht werden:26
• Die Rückbesinnung auf den Klassencharakter der Gewerkschaften als Interessensorganisationen
Hier geht es um eine aktive Abgrenzung von Business Unionism oder Sozialpartnerschaft und einer Identität als außerparlamentarische Gegenmacht. Dies bedeutet ein militantes Auftreten mit Mitgliedermobilisierung und kollektiven Aktionen als zentralem Handlungsfokus. Dahinter steht eine Klassenideologie, die über jeglichem Partnerschaftlichkeitsverständnis steht, wobei die „Klasse“ breit definiert wird und auch Gemeinde- oder KonsumentInneninteressen mit einbezogen werden.
• Die Bemühungen, Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Initiativen, Gruppen und sozialen Bewegungen zu schließen
Im Sinne der Erweiterung des Handlungsfelds sind Gewerkschaften damit auch Trägerinnen von sozialen Interessen (wie in den Bereichen Bildung, Infrastruktur, Wohnen, Kinderbetreuung und Umwelt). Hier kommen auch Ansätze des Community-based Organizings zum tragen. Als Kampagnenorganisatorin muss die Gewerkschaft Bündnisse mit den sozialen Bewegungen suchen. Ziel sind Synergie-Effekte, im Sinne von größerer Reichweite, befruchtender Zusammenarbeit mit Nicht-GewerkschaftaktivistInnen und gesellschaftlichem Machtzuwachs.
• Die Demokratisierung der eigenen Organisationsstrukturen und die Aktivierung der Organisationsbasis
Neben der Organisation neuer Mitglieder soll eine breitere Partizipation und Mobilisierung der Mitglieder den Charakter der Gewerkschaft ausmachen. Statt bürokratischer und intransparenter Entscheidungsfindung sollen die Mitglieder selbst über Ziele und Aktionsformen der Gewerkschaft direkt mitbestimmen. Auch dadurch gewinnt die Gewerkschaft an Schlagkraft. Die Debatte über die beste formale Umsetzung, partizipative vs. repräsentative Demokratie, ist dabei noch nicht abgeschlossen und muss letztlich auch situationsabhängig diskutiert werden. Ein Spannungsfeld zwischen größtmöglicher Partizipation und einheitlicher Aktion bleibt dabei aber erhalten.
Diese gegensätzlichen politischen Positionen im SMU, dargestellt anhand der Konzeptionen von Waterman und Moody, finden sich in der aktuellen Organizing-Debatte wieder, auch wenn sie gerne hinter technokratischen Diskussionen versteckt werden.
Zunächst soll hier festgehalten werden, dass es verschiedenste internationale Beispiele gibt, die den Organizing-Ansatz als eine erfolgreiche Praxis zeigen. Am bekanntesten ist wohl die „Justice for Janitors“-Kampagne in den USA, aber auch in Großbritannien und Deutschland waren Kampagnen vor allem in Bereichen mit vorwiegend „prekär“ beschäftigten MitarbeiterInnen erfolgreich. Erfolg wird dabei meist an Mitgliederzuwachs gemessen, aber auch die Aktivierung der Mitglieder und das Erregen öffentlichen Interesses macht den Erfolg von Projekten wie der Lidl-Kampagne in Deutschland oder der Canary Wharf-Kampagne in London aus.
Natürlich wird diskutiert, inwiefern es möglich war, über solche Kampagnen Mitglieder dauerhaft an die Gewerkschaft zu binden27, bzw. ob die Rekrutierung der so genanten „Unorganisierbaren“ nicht ein schwaches Pendant zum stetigen Mitgliederschwund ist und damit als eine halbherzige Alibi-Aktion bezeichnet werden sollte.
Viel wichtiger ist, dass die Debatte über die Interessen (potentieller) Mitglieder überhaupt geführt wird. Bisher konnte in sozialpartnerschaftlichen Modellen der gesellschaftliche Einfluss der Gewerkschaften auch über institutionellen Machtgewinn gestärkt werden. Im Gegensatz dazu ist eine ernsthaft geführte Debatte über den Charakter einer Gewerkschaft, die neue Mitglieder anziehen soll und „alteingesessenen“ die Motivation gibt, wieder aktiv zu werden, ein progressiver Lösungsansatz. Die Frage ist, wie tief die Debatte geht und ob die Kernfragen einer politischen Agenda davon berührt werden. Schlagworte wie „Organizing“ machen noch kein politisches Programm aus.
So fordert Susanne Kim28 als ersten wichtigen Punkt einer eventuellen Übernahme von SMU-Strategien für deutsche Gewerkschaften die Überwindung der Sozialpartnerschaft und des Glaubens an die Soziale Marktwirtschaft: „Sie [die Gewerkschaften] müssen sich entscheiden, entweder Ordnungsfaktor oder Gegenmacht zu sein, sich in konflikthafter Opposition oder partnerschaftlicher Verbindung zu bewegen und entweder auf einen Wiederaufbau der Sozialen Marktwirtschaft zu insistieren oder einzusehen, dass diese beiden Elemente unvereinbar sind.“ In einem Beitrag des von Ver.di-FunktionärInnen herausgegebenen Organizing-Buchs „Never work alone“29 steht dagegen unter der Überschrift Organizing und Sozialpartnerschaft: „Organizing setzt Konfliktbereitschaft voraus. Damit steht es vordergründig im Spannungsverhältnis zu (sozial)partnerschaftlichen Strategien. Dennoch sollten einzelne Organizing-Techniken nicht darüber hinwegtäuschen, dass Organizing im Grundsatz keine Festlegung einer bestimmten Grundhaltung im Verhältnis von Gewerkschaften und Unternehmen beinhaltet.“
„Organizing pur“ als Mutation eines technischen Details einer wichtigen und spannenden Grunddebatte verzichtet also auf eine politische Strategie und kann daher, wenn überhaupt, nur eine kurzfristige Lösung zum Problem des Mitgliederschwunds darstellen. Eine starke Organisation der ArbeiterInnenklasse, wie sie in prekarisierten Zeiten dringend gebraucht wird, muss sich den grundlegenden Fragen nach Demokratie und Klassenkampf stellen.
1 Aus verschiedenen Quellen ist ersichtlich, dass sich der Verlauf der Mitgliederzahlen je Land unterscheidet. In den skandinavischen Ländern etwa verringert sich die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder erst seit Mitte der 1990er. (Ebbinghaus, Bernhard/ Visser, Jelle: Trade Unions in Western Europe since 1945, London 2000) In Osteuropa ist der Mitgliederschwund seit Anfang der 1990er extrem hoch (EIRonline, Trade Union Membership 1993 -2003)
2 Von 1971 bis 2001 erhöhte sich die Zahl der beschäftigten Frauen um ein Drittel, seit 1991 um 9 Prozent. (Statistik Austria, Bevölkerung nach sozioökonomischen Merkmalen)
3 Mitgliederstatistik ÖGB von 1945-1999, Mitgliederstatistik ÖGB 2006
4 Hälker, Juri/ Vellay, Claudius (Hg.): Union Renewal – Gewerkschaften in Veränderung. Texte aus der internationalen Gewerkschaftsforschung, Düsseldorf 2007. Hier sind Aufsätze Frankreich und Großbritannien betreffend rezensiert.
5 Vgl. z. B. Tálos, Emmerich: Atypische Beschäftigung in Österreich, in: ders. (Hg.): Atypische Beschäftigung. Internationale Trends und sozialstaatliche Regelungen, Wien 1999, S. 252-284
6 Dörre, Klaus: Prekarität – Selbstorganisation fördern. www.perspektiven.verdi.de
7 Dörre, Klaus: Prekarität. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts und Möglichkeiten zu ihrer Politisierung. in: Kulturrisse 4/2006, S. 8-13
8 Vgl. Müller-Hilmer, Rita: Gesellschaft im Reformprozess. TNS Infratest, Juli 2006
9 Hyman, Richard: An emerging agenda for trade unions? Discussion Paper Series des International Institute for Labour Studies 98/1999, Genf
10 Hyman, Richard: Understanding European Trade Unionism. Between market, class and society, London 2001, zit. n. Kim, Susanne: Gewerkschaften zwischen Organisation und Bewegung im Zeitalter der Globalisierung. Zur Konzeption des „Social Movement Unionism“, Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Hamburg 2004
11 Vgl. ÖGB – Gefangen in der Sozialpartnerschaft?, in: Perspektiven 1 (2006)
12 Hyman: Understanding European Trade Unionism, a.a.O., zit. n. Kim: Gewerkschaften zwischen Organisation und Bewegung im Zeitalter der Globalisierung, a.aO.
13 „Yet the triumph of the social partnership model half a century depended strongly on economic foundation; as these foundations have been undermined, so unions have had to seek instruments of market regulation which transcended the consensual. And as the clash of economic interests has returned to centre stage, so the logic of class has acquired new resonance.”
14 Bremme, Peter/ Fürniß, Ulrike/ Meinecke, Ulrich (Hg.): Never Work Alone. Organizing – Ein Zukunftsmodell für Gewerkschaften, Hamburg 2007, S. 195
15 Zit. n. Bachmann, Andreas: [Rezension zu „Never Work Alone“], in: Express – Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 6/2007
16 In erster Linien sind das die in den 1990er Jahren geführten Kampagnen der SEIU (Service Employees International Union).
17 Nach Bremme et al.: Never Work Alone, a.a.O.
18 Insgesamt ist das Klima in den USA sehr gewerkschaftsfeindlich. Das Management vieler Betriebe stellt eigene Union Buster an, die die Gründung einer Gewerkschaft verhindern sollen. Im heute oft praktizierten Closed Shop System wird eine Gewerkschaft dann zugelassen, wenn mehr als 50 Prozent der Beschäftigten beitreten wollen, das ist der sogenannte Card Check.
19 Ver.di hat hier einen eigenen Arbeitskreis aufgebaut: „ORKA ist ein bundesweit aktiver Kreis von Kampagnenberatern, der gewerkschaftliche Kampagnen plant, organisiert und begleitet. Das Team bündelt Erfahrungen aus der Durchführung von Kampagnen in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Neben betrieblichem, gewerkschaftlichem und sozialwissenschaftlichem know-how sind us-gewerkschaftliche Konzepte der Kampagnen- und Organisierungsarbeit wichtige Bezugspunkte für die Arbeit.“ (www.verdi.de)
20 Waterman, Peter: The New Social Unionism: A New Union model for a New World Order, in: Munck, Ronaldo/ Wateman, Peter (Hg.): Labour Worldwide in the Era of Globalisation. Alternative Union Models in the New World Order, London 1999
21 Nach Waterman kann diese Bewegung nicht definiert werden, es ist nur festzuhalten, dass sie keine sozialistische aber auch keine NGO-Bewegung ist.
22 Waterman, Peter: Adventures in emancipatory labour strategy as the new global movement challenges unionism. www.labournet.de/disskussion/gewerkschaft/smu/smuadvent.html (2003)
23 Vgl. Birke, Peter: Tristesse und Suchbewegungen. Der Social Unionism und die Gewerkschaften in der Bundesrepublik. Beitrag zum buko, 20.-23. Mai 2004 in Kassel
24 Waterman, Peter: Re-Conceptulising the World Working Class: A Matter of What and Who? Or Why and Wherefore?, Manuskript, Amsterdam 2003
25 „Social Movement Unionism is one that is deeply democratic, as that is the best way to mobilize the strength of the numbers in order to apply the maximum economic leverage. It is militant in collective bargaining in the belief that retreat anywhere only leads to more retreats – an injury to one is an injury to all. It seeks to craft bargaining demands that create more jobs to aid the whole class. It fights for power and organization in the workplace or on the job that is there that the greatest leverage exists, when properly applied. It is politically by acting independently of the retreating parties of liberalism and social democracy, whatever the relations of the union with such parties. It multiplies its political and social powers by reaching out to other sectors of the class, be they other unions, neighbourhood-based organisation, or other social movements.“
26 Kim: Gewerkschaften zwischen Organisation und Bewegung im Zeitalter der Globalisierung, a.a.O.
27 Vgl. das Interview mit Kim Moody in dieser Ausgabe.
28 Kim: Gewerkschaften zwischen Organisation und Bewegung im Zeitalter der Globalisierung, a.a.O.
29 Bremme et al.: Never Work Alone, a.a.O.