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Was macht die Linke in… Mexiko?
von Michael Botka, Ramin Taghian

Die Kommune von Oaxaca ist ein inspirierendes Beispiel, wie aus Brot-und-Butter-Kämpfen Strukturen politischer Selbstverwaltung und Massendemokratie entstehen können. Ramin Taghian und Michael Botka erzählen die Geschichte der Bewegung zwischen Repression und Gegenmacht.

Im letzten Jahr erschütterten zahlreiche soziale und politische Bewegungen die Gesellschaftsordnung Mexikos. Die Aufstände stellten nicht nur korrupte und repressive Herrschaftsstrukturen in Frage, es wurden auch alternative Wege, wie eine „andere“ Gesellschaft organisiert und gestaltet sein könnte sichtbar und sogar möglich. Der Kampf um soziale Gerechtigkeit, die Notwendigkeit partizipativer Massendemokratie und die Auseinandersetzung mit dem repressiven Staatsapparat wurden Bestandteil des alltäglichen Lebens von Millionen.

Im April 2006 streikte die Belegschaft Villaceros, einem der größten Stahlwerke Mexikos. Zwei Arbeiter wurden während der erfolgreichen Abwehr eines Polizeiangriffs ermordet. Nach vier Monaten konnten die Arbeiter einen überwältigenden Sieg über die Geschäftsleitung vorweisen.1

Auch die Zapatistas ließen im letzten Jahr über die Grenzen von Chiapas hinaus wieder von sich hören. Schon Ende 2005 wurde eine neue politische Initiative vorgestellt – L’Otra Campana, die „Andere Kampagne“, deren Ziel die landesweite basisdemokratische Vernetzung aller außerparlamentarischen linken Kräfte Mexikos sowie die Einigung auf eine gemeinsame Vorgehensweise ist. Mit ihrer klaren Abgrenzung zum politischen Parteiensystem und den 2006 stattgefundenen Präsidentschaftswahlen schließt sich die Kampagne einer Entwicklung an, die sich in ganz Lateinamerika abzeichnet. Seitdem tourt eine Delegation der Zapatistas mit Subcommandante Marcos an der Spitze, unterstützt von etlichen SympathisantInnen, durch Mexiko.
Dem gegenüber stand die Wahlkampagne des linksreformistischen ehemaligen Bürgermeisters von Mexiko-City Andrés Manuel López Obrador (PRD). In seinen Wahlkampf konnte sich Obrador auf die Hoffnung von Millionen der untersten Schichten Mexikos auf eine linke Trendwende und die Abwahl der neoliberalen Wirtschaftspolitik stützen.2
Die Wahl Anfang Juli brachte ein knappes Ergebnis zugunsten Obradors Kontrahenten, Felipe Calderón von der rechts-konservativen PAN. Dieser Ausgang war aber äußerst umstritten. Unzählige Berichte von doppelt gezählten Stimmen (für Calderón), in Straßengräben gefundenen versiegelten Wahlboxen aus armen Regionen und andere Formen von Wahlbetrug wurden bekannt. Die PRD reagierte mit Massenmobilisierungen, Straßenblockaden und gründete die Convencion Nacional Democratica, Nationale Demokratische Versammlung, welche in einer Massenveranstaltung, mit mehr als eine Millionen Anwesenden, Obrador am 16. September zum „echten“ Präsidenten kürte.

Anfang Mai revoltierten BäuerInnen in Atenco3, einer Stadt nahe Mexiko-City, gegen Maßnahmen zur Unterbindung des illegalen Straßenhandels. Der Staat reagierte mit massiver Polizeirepression, im Zuge derer mindestens zwei Menschen ermordet, hunderte verletzt und verhaftet wurden.
Noch im gleichen Monat streikten die LehrerInnen im Bundesstaat Oaxaca. Wieder gingen die Behörden brutal gegen die Streikenden vor. Diesmal sollte sich die Bewegung jedoch nicht einschüchtern lassen. Ihr Kampf entwickelte sich zu einem ausgewachsenen Aufstand zur Absetzung des korrupten und illegitimen PRI-Gouverneurs Ulises Ruíz Ortíz. Das neue organisatorisches Zentrum der Kämpfe, die Asemblea Popular del Pueblo de Oaxaca – Volksversammlung der Bevölkerung Oaxacas (APPO) wurde zu einer politischen Struktur basisdemokratischer Kontrolle und Gegenmacht, die die bestehende Gesellschaftsordnung grundlegend in Frage stellte.

Avanti Zócalo

Der Aufstand von Oaxaca nahm seinen Anfang Mitte Mai mit den Streiks der LehrerInnen und der Besetzung des Zócalo, dem zentralen Platz von Oaxaca-Stadt. Die traditionell militante Sektion 22 der Nationalen LehrerInnengewerkschaft (SNTE)4 spielte dabei die führende Rolle. Obwohl die 70.000 LehrerInnen Oaxacas im Vergleich zum Rest der Bevölkerung relativ gut gestellt sind und zur „staatlichen Mittelklasse“ gezählt werden können, wurde ihr Kampf zum Ausdruck der sozialen Widersprüche in der Provinz Oaxaca.5

Der Protest und die Besetzung des Zócalo durch die LehrerInnen ist für sich allein genommen noch nichts Außergewöhnliches. Seit 26 Jahren kommen die LehrerInnen regelmäßig im Mai zu einem „live-in“ am Zócalo zusammen, um gegen die neoliberale Bildungspolitik und für Gehaltserhöhungen zu protestieren und so ihre Position in Verhandlungen mit der Regierung zu stärken. Entgegen der neoliberalen Grundsätze des Gouverneurs Ulises Ruíz Ortíz forderten die LehrerInnen eine allgemeine Erhöhung des Mindestlohns, Gehaltserhöhungen, die Verbesserung der schulischen Infrastruktur sowie die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse der SchülerInnen.6

Die LehrerInnengewerkschaft ist die einzige demokratisch organisierte Kraft mit einer flächendeckenden kommunalen Verankerung im ganzen Bundesstaat Oaxaca. Die besondere Rolle die den LehrerInnen folglich zukam, resultierte aus ihrer organisatorischen Stärke und Vernetzung. Sie identifizieren sich auch mit den prekären sozialen Bedingungen in ihren Gemeinden und sind somit nicht nur KämpferInnen in der eigenen Gewerkschaft, sondern oft auch SprecherInnen für die sozialen Forderungen ihrer Gemeinden.7
Anfang Juni fanden zwei Massendemonstrationen in Solidarität mit den LehrerInnen statt, an denen sich jeweils ca. 100.000 Menschen beteiligten.8 Bereits in dieser Phase schlossen sich andere Gruppen mit ihren eigenen Forderungen an.
Anstatt die Verhandlungen fortzusetzen und einen Kompromiss auszuhandeln, versuchte die Regierung Oaxacas die streikenden LehrerInnen mit Polizeigewalt mundtot zu machen. In der Nacht des 14. Juni stürmten tausende Polizisten das Camp, verbrannten das Eigentum der LehrerInnen, verletzten etwa hundert Personen und schossen Tränengas aus Polizeihelikoptern. Die Berichte über mehrere Todesopfer wurden offiziell nie bestätigt. Wie gegen die BäuerInnen in Atenco versuchte der Staatsapparat mit purer Gewalt die Bewegung zu unterdrücken und ein Exempel an ihr zu statuieren. Diese Strategie zur Demobilisierung ging in Oaxaca nicht auf. Diesmal konnten sich die LehrerInnen nach stundenlangen Kämpfen gegen die Polizei durchsetzen und eroberten den Platz zurück.
Die harten Auseinandersetzungen wirkten wie ein Dammbruch für die Bewegung. Zwei Tage später fand eine Demonstration mit 400.000 Menschen statt. Diesmal ging es nicht nur um Solidarität mit den LehrerInnen, „Fuera Ulises!“ – Ulises Raus!, der Sturz des korrupten Gouverneurs war nun die zentrale Forderung.

Die weit verbreitete Diskreditierung der herrschenden Eliten und der massive Bruch der politischen Bewegungen mit der Regierung, liegen vor allem in der dominanten Rolle der PRI in Mexiko begründet. Mittels Klientelismus und Korporativismus übte die Partei seit der mexikanischen Revolution ein effizientes Kontrollsystem auf die sozialen Kräfte aus, welches jedoch nach dem neoliberalen Paradigmenwechsel der PRI in den 80er Jahren und der Orientierung auf Freihandel und Deregulierung zerbrach. Seitdem steht die ehemalige „Staatspartei“ in wachsendem Widerspruch zu den sozialen Bewegungen und den verarmten Massen.

Gegenmacht

In Oaxaca weiteten sich die Kämpfe aus und hinter den Barrikaden wurde eine neue politische Macht geboren – Asemblea Popular del Pueblo de Oaxaca, APPO. Die erste Versammlung der APPO fand bereits drei Tage nach dem Sieg der LehrerInnen über die Polizei auf dem wieder besetzten Zócalo statt und 170 Personen von 85 Organisationen nahmen daran teil.9 Im weiteren Verlauf kamen 350 Gruppen zusammen und formierten sich zu einem qualitativ als auch quantitativ neuen Organ der Bewegung. Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die beteiligten Gruppen in der APPO geeinigt hatten war der Sturz des „illegitimen“ Gouverneurs Ulises. Die Strategie der APPO war es, den Behörden die Unregierbarkeit Oaxacas vor Augen zu führen. Mit gezielten Aktionen des zivilen Ungehorsams sollte die Illegitimität des etablierten politischen Systems vorgeführt werden. Provinzregierungsgebäude wurden von APPO-AktivistInnen blockiert, Straßen die zum Zócalo führen mit Barrikaden gepflastert und Radio- und Fernsehstationen besetzt und übernommen. Die APPO erklärte sich zum einzigen rechtmäßigen politischen Organ in Oaxaca.10

So wurde die APPO zum Vehikel für die angesammelte Wut jahrelanger Ausbeutung und Unterdrückung – Korruption, Wahlbetrug und teils massive Gewalt gegen Gemeinden und die politische Opposition. Fortschreitende soziale Polarisierung zwischen den ProfiteurInnen des Tourismus-Booms in Oaxaca und den VerliererInnen11 sowie die Durchsetzung neoliberaler Projekte – der Plan Puebla Panama (PPP) ist hier als eines der größten transnationalen Infrastruktur- und Wirtschaftsprojekte primär zu nennen12 – bilden den Rahmen für den Bruch mit der alten und der Entstehung einer neuen sozialen und politischen Ordnung.
Die StudentInnen der Universität Oaxacas spielten im Aufstand ebenfalls eine wichtige Rolle. Auf der einen Seite stellten sie viele der AktivistInnen bei der Besetzung von Blockaden, usw. auf der anderen Seite bot die Universität eine wichtige Infrastruktur für die Bewegung. Das Radio Universidad entwickelte sich zu einem offiziellen Organ der APPO und bot rund um die Uhr Informationen zum Aufstand. Die StudentInnen stehen dabei in einer, bis in die 70er Jahre reichenden Tradition der Vernetzung mit BäuerInnen und ArbeiterInnen sowie der aktiven und radikalen Beteiligung an Bewegungen.13

Ein wichtiger Moment im Formierungsprozess der APPO war auch der Besuch der Otra Campaña, unter Leitung Subcommandante Marcos im Februar. Hier wurde die Notwendigkeit der Zusammenarbeit der progressiven Kräfte besonders deutlich. Es galt eine gemeinsame Stimme zu finden und die Isolierung und Rivalität der zahlreichen kleineren und größeren Gruppen zu überwinden.14

Genau dieser Punkt war bei der Etablierung der APPO eines der größten Anliegen: Die APPO soll eine „alternative partizipative Demokratie“ sein an der jeder und jede teilnehmen kann und keine politische Partei oder sonstige Gruppe dominieren darf. Die verschiedenen Ideologien oder politischen Visionen durften dem Funktionieren dieses Organs der Demokratie von unten nicht im Weg stehen. Trotz unterschiedlicher Vorstellungen über die Transformation der Gesellschaft wurden alle durch den Willen zum gemeinsamen Handeln auf partizipativ-demokratischer Basis vereint. Dieses Verständnis hat seine Wurzeln auch in einer langen Tradition indigenen Widerstands und kommunaler Organisierung.15 So wird zum Beispiel die basisdemokratische konsensorientierte Entscheidungsfindung und die Wahl von Delegierten im Stil der Zapatista nun auch bei der APPO praktiziert. Sie basiert die APPO auf dem indigenen Prinzip des mandar obedeciendo („gehorchend befehlen“), in dem Entscheidungen zuerst von der Basis diskutiert und gefällt werden, um dann von Delegierten wie beschlossen umgesetzt werden. Die APPO ist somit ein Versuch der Revitalisierung einer bestimmten oaxacanesischen Tradition kommunaler Organisierung der ländlichen Bevölkerung, die sich an den traditionellen usos y costumbres (Gewohnheiten und Bräuche) orientiert und in der politische Parteien abgelehnt werden. Seit Jahrzehnten versucht die PRI diese Formen gewohnheitsrechtlicher Praktiken zu unterbinden.16

Anfang Juli erklärte sich die APPO zur neuen regierenden Körperschaft in Oaxaca und nahm den alten Regierungspalast am Zócalo17 in einer symbolischen Geste für die „alternative Regierung“ in Besitz.

So entwickelte sich die APPO zu einer Art Embryo einer grundsätzlich anderen Gesellschaftsordnung. Die Regierungsinstitutionen verloren immer mehr an Autorität, während die Versammlungen der APPO zu einem Instrument der basisdemokratischen Kontrolle wurde. Nach und nach übernahmen immer mehr Dörfer im ganzen Bundesstaat dieses Prinzip demokratischer Selbstverwaltung. Die Gemeindehäuser wurden besetzt und PRI-Funktionäre entmachtet. Gemeindedelegierte kamen trotz Geld- und Transportproblemen nach Oaxaca-Stadt um an den großen APPO-Versammlungen teilzunehmen.18

Diese Entwicklungen stellten eine massive Gefahr, nicht nur für die Eliten Oaxacas sondern ganz Mexikos dar. Dazu kam, dass zeitgleich eine weitere Bewegung den mexikanischen Herrschenden Kopfschmerzen bereitete.

Parlamentarische Parallelgefechte

Im Sommer organisierte die PRD Massendemonstrationen gegen den Wahlbetrug des konservativen Präsidentschaftskandidaten Calderón (PAN). Trotz der potentiell explosiven Mischung mehrerer gleichzeitiger Kämpfe kamen diese nicht zusammen. Die PRD hielt sich bei allen anderen politischen Auseinandersetzungen wie in Oaxaca, Atenco und Chiapas, weitgehend im Hintergrund, trotz ihrer Massenverankerung in den ärmsten Bevölkerungsschichten des Landes.19 Die Unterstützung blieb meistens bei verbalen Verurteilungen der polizeilichen Repression und der Rücktrittsforderung an Ulises stehen.
Die zögerliche Politik der PRD hat historische Wurzeln. Die PRD erlangte politische Relevanz in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, im Zuge der Neoliberalisierung der PRI. Ihre ursprüngliche Basis waren mehrere kleine Linksgruppierungen, Elemente der Kommunistischen Partei Mexikos (PCM) sowie linksreformistische DissidentInnen aus der PRI,20 welche sich gegen die neoliberale Entwicklung der PRI wendeten und ein Zurück zu der staatsorientierten Wirtschaftsstrategie der Vergangenheit anstrebten.
Die PRD ist also ein Sammelbecken unterschiedlicher linker reformistischer Projekte und leidet daher regelmäßig unter fraktionellen Kämpfen. Die konstante politische Migration von ehemaligen PRI-Funktionären zur PRD, oft aus karrieristischen Gründen, verwässerte die politische Linie zusätzlich. Eine aktive Unterstützung der Aufstände in Oaxaca würde die Spaltung zwischen den linken und rechten Fraktionen innerhalb der PRD provozieren und die Gefahr des Kontrollverlusts über die Parteibasis mit sich bringen.21

Adolfo Gilly, radikaler mexikanischer Autor und bekanntes Mitglied der PRD, setzt mit seiner Kritik an Obrador genau hier an.22 Während Hundertausende von der PRD gegen den Wahlbetrug in wochenlangen Protesten mobilisiert werden konnten, bemühte sich Obrador nicht, seiner Kritik am Vorgehen der PRI und PAN und seiner verbalen Solidarität mit den Menschen in Oaxaca auch auf dieser Ebene einen praktischen Ausdruck zu verleihen. Die Isolation in der sich der Aufstand Oaxacas aufgrund der Passivität der mexikanischen Massenbewegungen befand, wurde so zu einem der wesentlichen Stolpersteine für die Bewegung.

Die letzte Schlacht…

Die Rechte Mexikos bereitete sich unterdessen auf den Gegenschlag vor. Bis Oktober zeichnete sich ein Bündnis zwischen der PAN-Regierung und dem in die Ecke gedrängten PRI Gouverneur von Oaxaca ab. Beide waren aufeinander angewiesen. Ulises brauchte Bundesunterstützung für die Niederschlagung des Aufstands in Oaxaca und Calderón benötigte die PRI-Unterstützung in der Auseinandersetzung um die Präsidentschaftswahl. Daraufhin wurden die von Ulises lange angeforderten Bundespolizeieinheiten (PFP) nach Oaxaca entsandt.
Dies war aber nur der Höhepunkt einer Hetz- und Repressionswelle gegen die APPO. Bereits über den ganzen Sommer hinweg wurden zahlreiche APPO-SprecherInnen von ZivilpolizistInnen oder PRI-AnhängerInnen ermordet. Bewaffnete Männer fuhren auf nicht gekennzeichneten Pick-Ups durch die Stadt und ließen regelmäßig Mitglieder der APPO verschwinden. Die APPO beschloss daraufhin noch mehr Barrikaden zu errichten und diese stärker zu besetzen. Trotzdem tappte sie nicht in die Falle, sich auf eine militärische Auseinandersetzung einzulassen. Zwei gefährliche Szenarien bestanden für sie: Das erste ist, die APPO zu provozieren, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Damit hätte sie sich in das politische Aus katapultiert und ein militärisches Vorgehen des Staates ermöglicht. Das zweite beschreibt er als den Gang durch die Institutionen, welcher die APPO zu genau dem gemacht hätte, was sie ursprünglich bekämpft hatte – einen Teil des politischen Systems. Die APPO ließ sich auf beides nicht ein und das ist auch der Grund, weshalb trotz massiver Repression der Kampf in den letzten Monaten weitergeführt werden konnte.
Ende November fühlte sich der Staat stark genug, um die direkte Konfrontation mit der APPO zu suchen. Ausgangspunkt war ein friedlicher Massenprotest am 25. November, der von bewaffneten PRI-AnhängerInnen und Polizeieinheiten angegriffen wurde. In stundenlangen Auseinandersetzungen gewann die Polizei nach und nach die Oberhand und die letzten Barrikaden fielen. Hunderte Verhaftete und Verletzte waren das Resultat. Die APPO-Führung wurde in den Untergrund gedrängt.
Die Bevölkerung Oaxacas musste für ihre Herausforderung der Staatsmacht mit Blut bezahlen. Doch die Erfahrungen des letzten Jahres schufen ein neues kollektives Bewusstsein, welches mit schierer Polizeirepression nicht einfach gelöscht werden kann.

…gewinnen wir!

Die oft gezogene historische Parallele zwischen den Ereignissen in Oaxaca und der Kommune von Paris 1871 ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. In beiden Fällen entstanden aus den politischen und organisatorischen Notwendigkeiten einer Massenbewegung Strukturen demokratischer Selbstverwaltung, die eine tatsächliche Gegenmacht zum bürgerlichen Herrschaftsapparat darstellten. Die Frage nach der Macht in der Gesellschaft musste nicht bewusst gestellt werden, sondern drängte sich aufgrund der Herausforderung von selbst auf. Die Alternative „die Welt zu verändern ohne die Macht zu ergreifen“, wurde in dieser Situation obsolet.
Auch die Niederlagen der Kommunen in Paris und Oaxaca haben gemeinsame Ursachen. Die fehlende überregionale Vernetzung, zum Beispiel mit der Massenbewegung von Obrador, führte durch Isolation zum vorläufigen Ende dieses Experiments einer Gesellschaft unter sozialistischen Vorzeichen. Doch der Prozess ist noch lange nicht beendet. Noch immmer sind zahlreiche Gemeinden in Oaxaca in Verbindung zur APPO selbstverwaltet. Die APPO hat sich nach einer massiven Repressionswelle und der Rückkehr des Staatsapparats Ende November wieder neu formieren können und formulierte bereits ihr weiteres Vorgehen. Zentrale Herausforderung ist es nun, den Kampf auf eine nationale Ebene zu heben – das schließt eine noch radikaler ausformulierte Kritik an den Institutionen und dem Machtgefüge der bürgerlichen Gesellschaft mit ein.

Der Aufstand in Oaxaca und die Formierung der APPO stehen im Kontext einer Entwicklung, die sich in ganz Lateinamerika abzeichnet. Poder popular ist der Slogan sowohl in den Bewegungen in El Alto und Cochabamba, Bolivien, als auch in der bolivarianischen Revolution in Venezuela.23 Die Kommune von Oaxaca ist damit ein weiterer Baustein des Projekts eines Sozialismus im 21. Jahrhundert.

Vielen Dank an Lukas Hammer und Stephanie Deimel für die Diskussion und die Unterstützung bei der Recherche.

Anmerkungen

1 Es wurden 6 Prozent Gehaltserhöhung, 2 Prozent mehr Zuschüsse und sogar die Nachzahlung der Löhne für die Zeit des Streiks erkämpft. Siehe dazu: http://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2006-08/artikel-6883884.asp.
2 Dabei wurde auf den Erfolg sozialer Bewegungen und die Wahl von linken Präsidenten wie in Bolivien (Evo Morales) und Venezuela (Hugo Chávez) Bezug genommen.
3 Atenco ist seit dem Kampf der Bevölkerung gegen ein Flughafen-Großprojekt 2001 ein Symbol für erfolgreichen Widerstand.
4 Die große und mächtige SNTE war in den letzten 70 Jahren stark mit der regierenden PRI verbunden. Entgegen ihrer hierarchischen Organisationsstruktur war die Sektion 22 lange Zeit die Bastion der demokratischen Fraktion in der Gewerkschaft. Siehe: Carlsen, Laura: Oaxaca Fights Back, 8. November 2006, http://www.fpif.org/fpiftxt/3688.
5Salzman, George: From Teachers’ Strike Towards Dual Power. The Revolutionary Surge in Oaxaca, 30. August 2006, http://www.counterpunch.org/salzman08302006.html.
6Ebd.
7Navarro, Luis Hernández: Lessons from the Teachers. Repression and Resistance in Oaxaca, 21. November 2006, http://www.counterpunch.org/navarro11212006.html.
8Das waren die bisher größten Proteste in Oaxaca, die sich aber in den nächsten Monaten noch mehrmals verdoppeln sollten. Salzman: a.a.O.
9 Davies, Nancy: Oaxaca Teachers Organize “Popular Assembly” to Oppose the State Government. Talks with Federal Negotiators Cancelled as Teachers’ Strike Dedicates Itself to Ousting the Governor, 21. Juni 2006, http://www.narconews.com/Issue42/article1928.html.
10 Salzman: a.a.O.
11 Der Tourismus, ein Segen für die Kassen der Reichen und der oberen Mittelschicht Oaxacas, hat dafür gesorgt, dass die Preise in den letzten Jahren stark anstiegen während die Gehälter bei weitem nicht mitziehen haben können. Das schön herausgeputzte Kolonialidyll der Stadt Oaxaca steht somit in einem krassen Gegensatz zu verfallenden Schulgebäuden und Armut insbesonders in den indigenen ländlichen Regionen.
12 Der Plan Puebla Pananma umfasst fast den gesamten Mittelamerikanischen Raum. Er führt zur Enteignung von ehemals indigenem Land für Infrastrukturprojekte zur Verbesserung des Zugriffs der Multinationalen Konzerne und des Tourismus auf die Region. Durch den PPP wird die „Maquiladorisierung“ des Südens angestrebt, dessen dramatische soziale Auswirkungen bereits seit den 80er Jahren im Norden Mexikos an der US-Grenze zu beobachten sind.
131972 wurde die COCEO (Coalición de Obreros, Campesions, y Estudiantes de Oaxaca – Koalition der Arbeiter, Bauern und Studenten) gegründet. Ihr Einfluss reichte weit über die Universität hinaus und schuf Verbindungen zu ruralen und urbanen Gruppen. Außerdem war die Koalition an der Gründung unabhängiger Gewerkschaften beteiligt. Bereits Mitte der 70er Jahre, im Zuge der oft radikalen Kämpfe um Land und soziale Gerechtigkeit, wurde die korrupte Herrschaft der PRI massiv kritisiert. Letztlich wurde die Bewegung jedoch blutig niedergeschlagen. Siehe dazu: Murphy, Arthur D./ Stepick, Alex: Social Inequality in Oaxaca. A History of Resistance and Change, Philadelphia 1991, S. 120.
14 Davies, Nancy: In The Wake of the Otra: Because We are all Prisoners, 7. März 2006, http://narcosphere.narconews.com/story/2006/3/7/115248/3372.
15 70 Prozent der 3,5 Millionen EinwohnerInnen des Bundesstaates Oaxaca sind Indigenas. Über die Hälfte von ihnen lebt in Armut mit schlechter sozialer Infrastruktur und in 46% der Haushalte gibt es mindestens eine Person die in die USA migrieren musste weil ihre Gemeindeökonomien durch die neoliberalen Reformen der Regierung zerstört oder einfach nicht mehr lebenserhaltend waren. Siehe dazu: Gause, Rochelle: Toward dual power. People’s alternatives in Oaxaca, in: Left Turn 23 (Jänner/Februar 2007), S. 22.
16 Seit den 70er Jahren findet ein Kampf um die Restoration solcher kommunaler Formen der Selbstverwaltung, kollektiver Arbeit und Identität statt. Siehe dazu: Davies, Nancy: Oaxaca Initiates Alternative Government: Popular Assembly Reclaims Government Palace for the People, 7. Juli 2006, http://narconews.com/Issue42/article1964.html; Carlsen: a.a.O.
17Ulises verlegte 2005 den Regierungssitz vom Zócalo nach außerhalb der Stadt – aus Angst vor Protesten und um eine stabile Regierungstätigkeit zu ermöglichen. Siehe in: Davies: Oaxaca Initiates Alternative Government, a.a.O.
18Ebd.
19Tatsache ist, dass Obrador durch Infrastrukturprogramme, reale soziale Verbesserungen für die Ärmsten und einem Schuss Populismus eine Massenverankerung in den mexikanischen Unterschichten, besonders in Mexiko-City gewinnen konnte. Schließlich bekam Obrador in der Präsidentschaftswahl am 2. Juli die Stimmen von (wahrscheinlich mehr als) 15 Millionen MexikanerInnen.

20Camp, Roderic Ai: Politics in Mexico. The Democratic Consolidation, New York 2007, S. 233. Der populärste PRI Dissident war Cuauhtémoc Cárdenas, der in der Präsidentschaftswahl 1988 der PRD-Kandidat war und sich wahrscheinlich nur wegen Wahlmanipulation nicht gegen den PRI-Kandidaten Salinas hat durchsetzten können. Siehe dazu: Giordano, Al: Mexico‘s Presidental Swindle, in: New Left Review 41 (2006), S. 5-27
21Cárdenas kritisierte Obrador bereits für seine respektlose Haltung gegenüber den mexikanischen politischen Institutionen. Ebd.
22Gilly, Adolfo: Solitary in Flames, in: La Jornada, 1. November 2006, Englische Übersetzung: http://www.narconews.com/Issue43/article2257.html.
23Vgl. die Artikel zu Bolivien und Venezuela in Perspektiven Nr. 0.





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