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Quo vadis, Sozialdemokratie?
von Benjamin Opratko

Die Hoffnungen, mit einem sozialdemokratischen Kanzler ein „Ende der Wende“ herbei zu wählen, wurden in den Koalitionsverhandlungen brutal zerschlagen. Jedoch darf die Überraschung ob der unerwarteten Dreistigkeit, mit der Gusenbauer und Konsorten das Programm der Regierung Schüssel fortsetzen, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die SPÖ wesentlich jenes Modell übernommen hat, das von der europäischen Sozialdemokratie schon seit einem Jahrzehnt vorexerziert wird. „Sozialismus, der fällt nicht vom Himmel“, sangen einst die Schmetterlinge in der „Proletenpassion“. Eine neoliberale Sozialdemokratie auch nicht, schreibt Benjamin Opratko.

Die Geschichte der neoliberalen Wendung der Sozialdemokratie ist untrennbar mit dem immer-noch britischen Premierminister Tony Blair verbunden. Als er 1997 die Wahlen gegen die Konservativen gewann, tat er das mit einem runderneuerten, „modernisierten“ Parteiprojekt – es war die Stunde des „Dritten Wegs“. Seither wurde Blairs „New Labour“ zur Blaupause für fast alle sozialdemokratischen Parteien Europas, medienwirksam besiegelt mit dem 1999 vorgestellten „Schröder-Blair-Papier“. Damals legte der soeben gewählte deutsche „Genosse der Bosse“ gemeinsam mit Blair ein Manifest vor, dessen Lektüre einiges davon wieder erkennen lässt, was aktuell oft nur als Dilletantismus oder persönlicher Verrat der SPÖ-Spitze erscheinen mag. Eine intellektuelle Schlüsselfigur in der Entwicklung der „modernisierten“ Sozialdemokratie ist dabei der britische Soziologe Anthony Giddens. Er war und ist der wichtigste Stichwortgeber für Tony Blair, und sein Buch „Der Dritte Weg“ wurde zu einer Bibel für New Labour und die Schröder-Blair-Achse in Europa. In diesem Buch will Giddens die Politik Blairs und der übrigen „neuen“ sozialdemokratischen Parteien „theoretisch unterfüttern“ 1. Er tritt an, um einen neuen Weg vorzuzeichnen, der die Sozialdemokratie in eine Zukunft jenseits von Neoliberalismus und der „alten Linken“ führen sollte. Dieser Anspruch erscheint heute absurd, ist doch die Implementierung neoliberaler Politik durch die Parteien des „Dritten Wegs“ kaum noch zu leugnen. Doch gerade deshalb kann die Beschäftigung mit der Ideologie des Dritten Wegs helfen, zwei der aktuell wichtigsten politischen Fragen zu beantworten, nämlich: Wie lässt sich das Paradoxon einer „neoliberalen ArbeiterInnenpartei“ begreifen? Und: kann die Einbindung der Parteibasis und weiter Teile der ArbeiterInnenklasse in dieses Projekt langfristig stabil bleiben?

Giddens’ Welt

Der Ausgangspunkt für Giddens’ programmatisches Buch ist eine scheinbar radikale Zeitdiagnose: Alles ist neu (wie überhaupt alles am Dritten Weg), nichts ist mehr wie es war. Natürlich ist nichts älter als die Feststellung, dass alles neu ist – doch Giddens präsentiert seine programmatischen Vorschläge als zwingende Konsequenzen dieser „neuen Ära“. Tatsächlich werden in „Der Dritte Weg“ real vorhandene Tendenzen im ökonomischen, politischen und kulturellen Bereich erfasst, jedoch gleichzeitig vereinfacht, überhöht, und auf eine einheitliche Bewegung hin zu einer neuen Epoche der globalisierten Welt reduziert. Die Widersprüchlichkeiten und Brüche der tatsächlichen Entwicklung werden ignoriert oder geleugnet, um die klaren Vorschläge der Giddens’schen Politikberatung nicht in Gefahr zu bringen. Das beginnt bei der Diskussion um Globalisierung: Alex Callinicos weist darauf hin, dass für jemanden, der in seiner früheren Karriere als Sozialwissenschafter den angeblichen Klassenreduktionismus des Marxismus so scharf angegriffen hat, Giddens’ Erklärungen der sozialen Welt erstaunlich monokausal sind, indem sie „sämtliche sozialen Phänomene auf die Konsequenzen der Globalisierung reduzieren.“2 Trotz aller Beteuerungen, von Globalisierung dürfe nicht „wie von einem Naturereignis gesprochen“ werden, stellt Giddens sie als unaufhaltbare Kraft dar, die sich „Wege bahnt“, einen „Sog erzeugt“, die „Institutionen der Gesellschaft, in der wir leben, umformt“ etc. Globalisierung mag dementsprechend „durch eine Mischung aus politischen und ökonomischen Faktoren vorangetrieben“ werden – politischen Einfluss darauf zu nehmen steht bei Giddens jedoch nicht zur Debatte.3
Ähnliches kann über Giddens’ Beschreibung kultureller und politischer Veränderungen gesagt werden. Auch hier werden
vorhandene Veränderungen der letzten dreißig bis vierzig Jahre verabsolutiert und in ein Schema gepresst, das notgedrungen auf Giddens’ vorweggenommene politische Conclusio, den Dritten Weg, hinausläuft. Und auch hier mischt Giddens eine holzschnittartige Analyse mit beschwichtigender Apologie: Es handle sich bei den Umwälzungen um einen „institutionellen Individualismus“, der „nicht mit Egoismus gleichzusetzen ist“ und deshalb „auch keine so große Gefahr für die gesellschaftliche Solidarität“ darstellt4. Tatsächlich wäre der entscheidende Unterschied gegenüber früheren Generationen eine „Verschiebung von sogenannten ‚Knappheitswerten’ zu ‚postmaterialistischen Werten’“.
„Postmaterialistisch“ bedeutet hier, dass die „Werte des wirtschaftlichen Erfolgs und Wachstums mit zunehmendem Wohlstand an Bedeutung verlieren. Selbstverwirklichung und der Wunsch nach einer sinnvollen Arbeit treten an die Stelle der Einkommensmaximierung“5. Natürlich verändern sich politische Präferenzen über Generationen, sind Fragen zu Umweltschutz, Menschenrechten oder sexueller Selbstbestimmung zu wichtigen Themen der Gesellschaft geworden.
Doch daraus abzuleiten, materielle Bedürfnisse – Lohnhöhe, soziale Infrastruktur, Altersvorsorge usw. – wären zu Nebenschauplätzen sozialer Auseinandersetzung degradiert worden, heißt eine Giddens’sche Traumwelt zu imaginieren. In dieser hören dann auch, weil sich Wahlverhalten nicht (mehr) klassenspezifisch zuordnen lässt, Klassen überhaupt auf zu existieren. Dass eine Klassengesellschaft mehr mit Lohnarbeit und Kapitalverwertung zu tun hat als mit Entscheidungen in der Wahlkabine, wird tapfer ignoriert. Die viel beschworene, immer weiter auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich – auf globaler Ebene wie innerhalb der „Wohlstandsgesellschaften“ des Nordens – lässt sich jedenfalls schwer mit Giddens’ „postmaterieller Welt“ in Einklang bringen.

Jenseits von Jedem

Die Konstruktion einer widerspruchsfreien Entwicklung hin zur „neuen“, globalisierten Gesellschaft ist die Voraussetzung für den rhetorischen Taschenspielertrick, den Giddens im „Dritten Weg“ präsentiert. Denn auf die Zeitdiagnose folgt der Vorschlag für die Erneuerung der Sozialdemokratie wie selbstverständlich, als „objektiv notwendige“ Reaktion der Politik auf „objektiv vorhandene“ Tatsachen in Ökonomie und Kultur. Der rhetorische Kniff, den Giddens schon im Titel des Buches anwendet und erbarmungslos auf 180 Seiten durchzieht, ist wohl so alt wie die menschliche Sprache: der Weg der goldenen Mitte. In jedem Politikfeld werden die (angeblichen) Vorschläge sowohl des Neoliberalismus als
auch der so genannten „alten Sozialdemokratie“ gegeneinander gestellt, um dann den „Dritten Weg“ als widerspruchsfreie Synthese jenseits des Alten zu präsentieren, dem Durchbruch der Vernunft im sich selbst erkennenden Weltgeiste gleich. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass die Gegenpole „alte Sozialdemokratie“ und „Neoliberalismus“ höchst unterschiedlich bewertet werden. An ersterer wird kaum ein gutes Haar gelassen: der Glaube an die Überwindung oder bloße Zähmung des Kapitalismus habe Wachstum und Fortschritt gebremst, Verstaatlichungen in Kernindustrien die Innovativkraft der Märkte behindert. Vor allem aber war der Sozialstaat und die damit verbundene „Gleichheitsorientierung der alten Linken […] gut gemeint, hat aber […] mitunter genau gegenteilige Ergebnisse gezeitigt – deutlich sichtbar an einer gesellschaftlichen Planung mit ihren Überbleibseln verfallende, kriminalitätsgeplagter Siedlungen im sozialen Wohnungsbau. Der Wohlfahrtsstaat, der allgemein als das Herzstück sozialdemokratischer Politik angesehen wird, schafft heute mit seiner Lösung der Probleme ständig neue Probleme.“6
Während die alte Sozialdemokratie als Auslaufmodell gebrandmarkt wird, das den Aufgaben einer globalisierten Welt nicht gewachsen ist, streift Giddens im Umgang mit dem Neoliberalismus die Samthandschuhe über. Dem von Margaret Thatcher vertretenen Programm wird in groben Zügen zugestimmt: Der (Sozial-)Staat wird als Bedrohung für Freiheit und Selbstbestimmung dargestellt, der Markt als überlegener Distributionsmechanismus von Ressourcen und Informationen gefeiert, dessen Befreiung letztlich allen zu Gute kommen würde. Giddens’ Kritik beschränkt sich auf den sozialen Konservativismus der Thatcher-Ära. Die „Verteidigung traditioneller Institutionen wie Familie und Nation“, teilweise verbunden mit fremdenfeindlichen Untertönen, sowie das Festhalten an einer neorealistischen Doktrin in den internationalen Beziehungen, die die Weltgesellschaft als „nach wie vor eine Gesellschaft der Nationalstaaten“ betrachtet, wären die anachronistischen Fehlleistungen des orthodoxen Neoliberalismus.7 So läuft es letztlich darauf hinaus, den Neoliberalismus von seinem sozialkonservativen Ballast zu befreien und ihn mit einem Diskurs der Modernität auszustatten – jenem des „Dritten Wegs“. Das ist, kurz gesagt, das Programm der „Neuen Sozialdemokratie“, theoretisch erdacht von Giddens, praktisch umgesetzt von Blair und Schröder: Die Fortführung des Neoliberalismus mit anderen
Mitteln.

Die Gleichheit, die sie meinen

Neoliberale Wirtschaftsdoktrin als Politik der sozialen Gerechtigkeit zu tarnen ist das Herzstück des Dritten Wegs. Dazu bedurfte es eines enormen Aufwands vor allem am Feld der Begriffe und Bedeutungen: eine „schöne neue Begriffswelt“ musste ersonnen werden.8 Bei Giddens, schreibt Frigga Haug, „wird Arbeitslosigkeit umgedeutet in ‚Zeit für Qualifikation’, Risiko in ‚Lebenselixier’, Familie in einen Hort demokratischer Erziehung, Rente als Ausschluss fähiger Mitglieder aus der Gesellschaft (…). Über alledem steht die Parole, ‚nützlich zu sein’.“9 „Rechte“ existieren in diesem Zusammenhang nicht mehr als BürgerInnen- oder gar Menschenrechte. Ein Leben in Würde und auf ausreichender materieller Grundlage wird nur noch jenen zugestanden, die sich den Spielregeln des neoliberalen Marktes unterordnen: „Keine Rechte ohne Verpflichtungen“ lautet „das zentrale Motto der neuen Politik“ bei Giddens – und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, fügt er gleich ein Beispiel an: „Die Arbeitslosenunterstützung sollte beispielsweise an die Verpflichtung zu aktiver Arbeitssuche gekoppelt sein; Aufgabe des Staates ist es, drauf zu achten, dass die Sozialsysteme die Motivation für eine solche nicht dämpfen.“10
Die bedeutendste Begriffsarbeit wurde dabei an der Neubesetzung des Gerechtigkeitsbegriffs geleistet – schließlich müsse, so Giddens, das „Hauptanliegen der Politik des dritten Weges […] nach wie vor die soziale Gerechtigkeit sein“.11 Doch was ist die Gerechtigkeit, die sie meinen? Natürlich hat das Streben nach echter sozialer Gleichheit – die Überwindung einer Gesellschaft, die auf der strukturellen Ungleichheit zwischen BesitzerInnen von Produktionsmitteln und VerkäuferInnen von Arbeitskraft beruht – schon lange keinen Platz mehr in der Sozialdemokratie. Doch galt lange Zeit zumindest der Vorsatz, durch die Mittel des Sozialstaats und die Umverteilung materieller Güter die „Ungleichheiten etwas gleicher werden zu lassen“12. Von dieser „Verteilungsgerechtigkeit“ grenzt sich die Politik des Dritten Wegs nun vehement ab. Nicht mehr die möglichst gerechte Verteilung des von einer Gesellschaft erwirtschafteten Wohlstands soll erreicht werden, sondern in der Beteiligung an der Erwirtschaftung des Wohlstands selbst erschöpft sich bereits das neue Ideal der Gleichheit: „Die neue Politik bestimmt Gleichheit als Inklusion und Ungleichheit als Exklusion.“13
Ziel der Gerechtigkeitspolitik des Dritten Wegs soll dementsprechend sein, möglichst viele Menschen in den Produktionsprozess einzugliedern. Mit dieser Umformung des Gleichheitsbegriffs lässt sich etwa die Kürzung von Sozialleistungen als Steigerung der „sozialen Gerechtigkeit“ präsentieren. Schließlich sei Arbeitslosigkeit eine Form der Exklusion und als solche zu bekämpfen, und „hohe Arbeitslosigkeit hängt mit großzügigen und zeitlich unbegrenzten Sozialleistungen und mit einem schlechten Ausbildungsstand am unteren Ende des Arbeitsmarktes […] zusammen.“14 Daher müsse das leitende Prinzip der neuen Sozialpolitik lauten: „Investition in menschliches Kapital statt direkter Zahlungen. An die Stelle des Sozialstaats sollten wir den Sozialinvestitionsstaat setzen […]“.15 Investiert wird dabei vor allem in Ausbildung – etwa in Form von Weiterbildungskursen, wie sie in Österreich vom Arbeitsmarktservice verpflichtend „angeboten“ werden. Mit ähnlicher Argumentation kann Giddens auch die Abschaffung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters als „soziale Forderung“ stellen – ist doch der Ruhestand eine Form der Exklusion und damit der „Ungleichheit“ im neuen Sinne. Praktisch alle Argumente des Neoliberalismus werden so in vollem Umfang übernommen und mit kaum zu überbietender Chuzpe als sozial gerechte Politik verkauft. „Der Wohlfahrtsstaat ist prinzipiell undemokratisch“, heißt es dann, „denn er beruht auf einer Umverteilung der Mittel von oben nach unten.“ Wie demokratisch die Auslieferung der arbeitenden Bevölkerung an (privatisierte) Unternehmen – und damit die Logik des Profits – ist, steht nicht zur Diskussion.

Blair-Schröder-Project

Die „modernisierten“ Sozialdemokratien Europas sind der Forderung Giddens’, eine „Umverteilung der Chancen“ an Stelle der Umverteilung des Wohlstands zu setzen, nachgekommen und haben erfolgreich auch die letzten Reste sozialer Politik aus ihren Programmen getilgt. Paradigmatisch ließ sich dies in der Programmdiskussion der SPD nachvollziehen. Hier wurde ab Ende der 1990er Jahre von maßgeblichen Parteigranden ein „umfassender Gerechtigkeitsbegriff“ eingefordert – entsprechend der Giddens’schen Rede von der „Chancengleichheit“, die die Begriffe Gleichheit und Gerechtigkeit von jeder progressiven Bedeutung befreit. So meldete sich der damalige Landesparteivorsitzende der nordrheinwestfälischen SPD mit dem Beitrag zu Wort: „Umverteilung ist leistungsfremd, und das kann keine Partei ernsthaft verfolgen“16. Dabei konnte er auf die Unterstützung seines damaligen Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers Gerhard Schröder zählen. Dessen gemeinsam mit Tony Blair 1999 veröffentlichte Papier „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“ gilt als politische Geburtsurkunde der neoliberal gewendeten Sozialdemokratie.17 Hier finden sich alle wesentlichen Motive des Giddens’schen Projekts wieder: der sozialdemokratischen Vergangenheit wird abgeschworen und einer „Modernisierung“ das Wort geredet, um „sich an objektiv veränderte Bedingungen anzupassen“. Auch hier ist die Umformulierung des Gerechtigkeitsbegriffs Ankerpunkt derTransformation der Sozialdemokratie: „In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt“ – nunmehr sollten die BürgerInnen in die Pflicht genommen werden, die sich an den Werten „persönliche Leistung und Erfolg, Unternehmergeist, Eigenverantwortung und Gemeinsinn“ zu orientieren hätten. Um die „notwendigen Kürzungen der staatlichen Ausgaben“ durchzuführen, würde man „nicht zögern, Effizienz-, Wettbewerbs- und Leistungsdenken einzuführen“. Ebenfalls kein Zögern gab es bei der öffentlichen Ankündigung, Kapital steuerlich zu entlasten, wie es bisher nur konservative Kräfte gefordert hatten: Körperschaftssteuer und Unternehmensbesteuerung sollten reduziert werden, um damit „Investitionsneigung und Investitionskraft der Unternehmen“ zu stärken.18 So weit, so bekannt. Doch Schröder und Blair „verdarben das von Giddens empfohlene Konzept ein wenig“19, als sie es in die politische Praxis übersetzten. Das betrifft in erster Linie die Rolle des Wirtschaftswachstums. Giddens betont immer wieder die Bedeutung ökologischer Fragen für die „neue Politik“ und äußert sich skeptisch zu Politikvorstellungen, die auf ein unbegrenztes Wachstum der Wirtschaft abzielen. Schröder und Blair jedoch setzten auf die unbegrenzte „Stimulierung von Produktivität und Wachstum“, vor allem indem der europäische Wirtschaftsraum „wettbewerbsfähig“ gemacht wird – das heißt attraktiv für weltweit operierende Konzerne. Diese ideologische Verschiebung hat wesentliche Bedeutung auch für den „neuen Gerechtigkeitsbegriff“. Die alte neoliberale These, dass Wachstumssteigerung per se sozial ist und daher Umverteilung ersetzen soll, wird damit zum sozialdemokratischen Programm. Gesellschaftliche Ungleichheit wird dabei als Motor für ökonomische Produktivitätssteigerung begriffen: „Begrenzte Ungleichheit“ wird in den Worten von Wolfgang Clement, damaliger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und späterer SPD-Wirtschafts- und Arbeitsminister, „ein Katalysator (…) für individuelle (und) (…) auch für gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten“.20 Der „Dritte Weg“ führt damit in letzter Konsequenz zu einer an Absurdität nicht mehr zu überbietenden Logik: Sozial gerecht ist, was Wachstum schafft. Soziale Ungleichheit schafft Wachstum, ergo ist soziale Ungleichheit sozial gerecht.

Made in Austria

Am neoliberalen Umbau der europäischen Sozialdemokratienwaren die österreichischen Parteigranden mittendrin statt nur dabei. Der „Spin-Doctor“ des damaligen Bundeskanzlers und heutigen VW-Südamerika-Chefs Viktor Klima, Andreas Rudas, hatte selbst an den Beratungen, die zum Schröder-Blair-Papier führten, teilgenommen21. Der einzige Grund, warum Klimas Unterschrift fehlte, war laut Rudas, weil Schröder und Blair „es als eindeutiges, klares deutschbritisches Projekt haben wollten“.22 Tatsächlich finden sich schon im 1998 – also ein Jahr vor dem Schröder-Blair-Papier – verabschiedeten SPÖ-Parteiprogramm die wichtigsten Begrifflichkeiten des Dritten Wegs wieder. „Gleichheit“ wird
auch hier zu „Chancengleichheit“, Gerechtigkeit zur „gleichberechtigten Teilhabe aller an der Gesellschaft“, und ganz im Stile von Giddens wird ein vorgeblicher „Mittelweg“ gesucht, der in der Formulierung der „solidarischen Leistungsgesellschaft“ gipfelt.23 Dabei konnte sich die Führung der „modernisierten“ SPÖ auf praktische Vorarbeit stützen: Bereits seit den 1980er Jahren sahen sich die Regierungen Sinowatz und Vranitzky „gezwungen, ‚im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Wirtschaft’ eine neoliberale Reform nach der anderen umzusetzen“24 – mit dem Ergebnis, dass die Lohnquote seit 1981 kontinuierlich sinkt.25 Doch erst unter Klima wurde das Neusprech des Dritten Wegs auch zum Vokabular der österreichischen Sozialdemokratie. Nach dessen unrühmlichem Abgang schien es manchen BeobachterInnen zunächst, als würde mit Alfred Gusenbauer eine Abkehr vom Schröder-Blair Modell einsetzen – so werden in einer ÖGB/AK-Broschüre von 2002 „Anzeichen einer Distanzierung vom Konzept des ‚dritten Weges’“ ausgemacht.26 Diese Hoffnungen – zuletzt genährt von einer tendenziell „altlinkeren“ Rhetorik im jüngsten SPÖ-Wahlkampf – wurden jedoch mit dem Koalitionsabkommen mit der ÖVP vollends zunichte gemacht. Die Offenheit, mit der hier die Fortführung neoliberaler Politik angekündigt wird, steht jener der „Gründerväter“ des Dritten Wegs in Nichts nach. Als Paradebeispiel kann dafür die so genannte „Grundsicherung“ gelten. In bester Tradition des Dritten Wegs als Maßnahme der sozialen Gerechtigkeit propagiert, läuft sie auf jene sinnentleerte „Teilhabe“ hinaus, die schon bei Giddens gefordert wird. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein Instrument zur Zwangsintegrierung von Erwerbslosen in unterbezahlte Lohnarbeit. Wie von der Wirtschaftskammer seit Jahren gefordert, werden die Zumutbarkeitsbestimmungen massiv verschärft (im Neusprech des Dritten Wegs: „gerechter und praxisnäher gestaltet“27), Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und Sozialhilfe zusammengelegt und damit dafür gesorgt, dass wer sich weigert, einen unterbezahlten Job irgendwo im Umkreis von mehreren hundert Kilometern anzunehmen, jedes Anrecht auf Unterstützung verliert. Keine Rechte ohne Verpflichtungen heißt eben auch kein Recht auf Essen ohne Verpflichtung zur Lohnarbeit – zu (fast) jeder Bedingung. Indem der Anspruch auf Grundsicherung anhand des
Haushaltseinkommens berechnet wird, werden damit darüber hinaus insbesondere Frauen in die Abhängigkeit des „Hauptverdieners“ getrieben – „Hausfrauenarbeit“ bleibt weiterhin unbezahlt.28 Dass der sozialpolitische Kahlschlag mit einer Fortführung der rigiden Politik der „inneren Sicherheit“ einhergeht, ist dabei kein Zufall: „Ein zum ‚workfare’ degenerierter Wohlfahrtsstaat bedarf der Absicherung durch ‚law and order’ – zumal in jenen innerstädtischen Zonen, in denen die ‚überflüssige Restbevölkerung’ lebt“.29 Die im Regierungsabkommen angekündigte Ausweitung
der elektronischen Überwachung öffentlicher Räume (auch durch Private!) gehört dazu ebenso wie restriktive Zuwanderungspolitik und disziplinierende Maßnahmen des AMS zur Herstellung von „Arbeitswilligkeit“.

Das sozialdemokratische Paradoxon

Die Konsequenz, mit der die Politik des Dritten Wegs in den letzten zehn Jahren durchgezogen wurde, legt den Schluss nahe, dass die Sozialdemokratien Europas sich bereits völlig in „normale“ neoliberale Parteien transformiert hätten. Tatsächlich ist die vergebliche Suche nach der „sozialdemokratischen Handschrift“ etwa im aktuellen österreichischen Koalitionsabkommen nicht in erster Linie dem Verhandlungsgeschick Wolfgang Schüssels oder dem „Verrat“ Gusenbauers zuzuschreiben, sondern Ausdruck der weitgehenden Deckungsgleichheit von sozialdemokratischen und neoliberalen Positionen. Dennoch ist die SPÖ keine neoliberale Partei wie jede andere. Das spezifische an der Politik des Dritten Wegs ist, dass sie die neoliberale Transformation als fortschrittliches Projekt formuliert, als Politik für ArbeitnehmerInnen und sozial Schwache. Dieser Versuch der Quadratur des Kreises ist nur mit Blick auf die Klassenbasis der Sozialdemokratien erklärbar. Der entscheidende Unterschied zwischen SPÖ und anderen neoliberalen Parteien liegt in der weiterhin tiefen Verwurzelung in der (vor allem traditionellen Industrie-)ArbeiterInnenklasse und den Gewerkschaften. Zwar hat die Abzweigung zum Dritten Weg auch eine Orientierung hin zu einer jungen,
urban geprägten, gebildeten, aufstrebenden „neuen Mitte“ bedeutet; um als Massenpartei (mit entsprechendem WählerInnenzuspruch) bestehen zu bleiben, reicht diese quantitativ relativ schmale Schicht, die dazu auch von klassisch liberalen und grünen Parteien umworben wird, jedoch nicht aus. Die Einbindung der Gewerkschaften – verbunden mit deren Umbau zu reinen Lobbying-Agenturen mit Kalmierungsfunktion für aufbegehrende Ausgebeutete – und eines großen Teils der ArbeitnehmerInnen ist daher weiterhin notwendig für eine „erfolgreiche“ Sozialdemokratie. Genau hier liegt auch die besondere Gefahr der Politik des Dritten Wegs für die anti-neoliberale Linke. Die entscheidende Frage ist schließlich, ob neoliberale Politik, Denk- und Handlungspraxen in Europa stabil hegemonial werden, also sich als unhinterfragte und unhinterfragbare Logiken im „Alltagsverstand“ der Menschen absetzen können. Dabei spielt die Sozialdemokratie eine wichtige Rolle als „Relaisstation“ neoliberaler Ideologie, schließlich „macht es einen Unterschied, ob die größer gewordenen sozialen Ungleichheiten von jener Partei gerechtfertigt werden, die einmal die der ‘kleinen Leute’ war oder von Vertretern konservativer und liberaler Parteien“.30 Gleichzeitig aber bietet die Sozialdemokratie – teils aus Tradition, teils wegen ihrer quasi-Monopolstellung in vielen Bereichen der ArbeitnehmerInnenvertretung, teils auf Grund von progressiver Rhetorik – auch tatsächlichen GegnerInnen des neoliberalen Programms eine (wenn auch nicht sehr gemütliche) politische Heimat. Das Paradoxon einer „neoliberalen ArbeiterInnenpartei“ läuft letztlich auf die Frage hinaus, ob und wie sich der Bruch zwischen sozialdemokratischen Parteien und deren sozialer Basis politisch ausdrücken wird.

Gute Aussichten?

Damit können wir auch zur zweiten zuvor gestellten Frage zurückkehren: Kann das Projekt des Dritten Wegs langfristig erfolgreich sein? Mit „erfolgreich“ ist dabei nicht gemeint, ob der von Giddens und seinen Jüngern formulierte Anspruch einer Politik „jenseits“ des Neoliberalismus eingelöst wird – diese Frage kann eindeutig negativ beantwortet werden – sondern ob die hegemoniale Einbindung von ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften in das neoliberale Projekt stabil funktionieren kann. Einiges spricht dafür: So kann nicht geleugnet werden, dass viele Motive neoliberaler Ideologie – Eigenverantwortung, Flexibilisierung, etc. – bereits Eingang in den Alltagsverstand auch vieler Menschen gefunden hat, die materiell unter neoliberaler Politik leiden. Damit zusammenhängend muss auch die (teilweise resignierende) Akzeptanz vormals bekämpfter neoliberaler Transformationsprojekte durch weite Teile der sozialdemokratischen Basis erwähnt werden. Studiengebühren können hier als drastisches Beispiel dienen: Protestierten bei deren Einführung noch mehrere zehntausende Studierende auf den Straßen, beteiligten sich an den Demonstrationen gegen deren Beibehaltung unter einer SPÖ-geführten Regierung nur noch einige Tausend. Und schließlich gibt es aktuelle und historische Beispiele, die zumindest für die Möglichkeit der erfolgreichen langfristigen Bindung einer ArbeiterInnenbasis an eine neoliberale Partei sprechen. So zeigen die Erfahrungen der US-amerikanischen Linken mit der Demokratischen Partei – bei allen wichtigen Unterschieden zur europäischen politischen Landschaft – dass, wenn keine glaubwürdige alternative Kraft existiert, neoliberale Politik über sehr lange Zeiträume hinweg mit der Unterstützung der ArbeitnehmerInnen-Basis und der Gewerkschaftsbürokratien praktiziert werden kann.31 Andererseits weist vor allem in jüngster Zeit viel darauf hin, dass das Projekt des Dritten Wegs möglicherweise doch zum Scheitern verurteilt ist. So verlieren seit einigen Jahren „modernisierte“ sozialdemokratische Parteien an der Macht massiv an Unterstützung – was sich in Massenaustritten ebenso manifestiert wie in ausbleibenden Wahlerfolgen.32 Den politisch bedeutsamsten Hinweis auf die Krise der Sozialdemokratie des Dritten Wegs können wir in Österreich jedoch (noch?) nicht ausmachen: Die Entstehung neuer politischer Kräfte, die mit dezidiert linker Programmatik jene ansprechen, die traditionell sozialdemokratisch orientiert sind, sich von der neoliberalen Politik „ihrer“ Partei jedoch angewidert abwenden. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die aus der Fusion von WASG und PDS entstandene Linkspartei in Deutschland (siehe Interview mit Klaus Henning in diesem Heft), aber auch in Großbritannien („Respect“), Portugal („Linksblock“), Dänemark („Rot-Grüne Allianz“) oder Holland („Sozialistische Partei“) gibt es ähnliche Projekte. Größe und Erfolg dieser Parteien und Bündnisse der „neuen Linken“ unterscheiden sich stark – was sie eint ist die konsequente Ablehnung des Neoliberalismus, auch und besonders in seiner sozialdemokratischen Reinkarnation sowie eine unsektiererische, offene Haltung gegenüber der traditionellen Basis der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften. Ob die neoliberale Sozialdemokratie politisch scheitert, wird maßgeblich davon abhängen, ob glaubwürdige Alternativen auf der Linken entstehen, die sich den praktischen und ideologischen Herausforderungen des Dritten Wegs stellen. Das bedeutet etwa, der Logik des „Keine Rechte ohne Pflichten“ Konzepte entgegen zu stellen, die das Recht aller Menschen auf ein würdevolles Leben unabhängig von ihrem „Nutzen“ für den kapitalistischen Verwertungsprozess einfordern. Gelingt dies nicht, kann eines mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden: die Lehre aus der Ablöse Schüssels durch Gusenbauer wird ihre Gültigkeit behalten – es kommt nichts Besseres nach.

Anmerkungen

1 Giddens, Anthony: Der Dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie,
Frankfurt 1998, S. 12.
2 Callinicos, Alex: Against the Third Way. An Anti-Capitalist Critique,
Cambridge 2001, S. 17.
3 Giddens: a.a.O., S. 44-46.
4 Ebd., S. 49.
5 Ebd., S. 32f.
6 Ebd., S. 28.
7 Ebd.: S. 23-25.
8 Bourdieu, Pierre/ Wacquant, Luc: Schöne neue Begriffswelt, in: Le Monde diplomatique, Mai 2000, S. 7.
9 Haug, Frigga: Krise der Sozialdemokratie?, in: Das Argument 256 (2004), S. 459.
10 Giddens: a.a.O., S. 81.
11 Ebd.
12 Mahnkopf, Birgit: Formel 1 der neuen Sozialdemokratie: Gerechtigkeit durch Ungleichheit. Zur Neuinterpretation der sozialen Frage im globalen
Kapitalismus, in: Prokla 121 (2000), S. 489–525.
13 Giddens: a.a.O., S. 120.
14 Ebd., S. 142f., Hervorhebungen im Original.
15 Ebd., S. 137, Hervorhebungen im Original.
16 Zit. nach Draheim, Susanne/ Reitz, Tilman: Work Hard and Play by the Rules. Zur Neubesetzung des Gerechtigkeitsbegriffs in der SPD-Programdiskussion, in: Das Argument 256 (2004), S. 470.
17 Berüchtigt geworden als „Schröder/Blair-Papier“: Blair, Tony/ Schröder, Gerhard: Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair (1999), http://www.glasnost.de/pol/schroederblair.html
18 Ebd.
19 Haug: a.a.O., S. 459.
20 Zit. nach Mahnkopf: a.a.O.
21 Selbstverständlich haben nicht Blair und Schröder selbst das Papier verfasst. Maßgebliche Autoren waren die jeweiligen „grauen Eminenzen“, Peter Mandelson und Bodo Hombach.
22 Zit. nach Der Standard, 30. Juni 1999.
23 SPÖ: Das Grundsatzprogramm, 1998, S. 5, 6, 10, online: http://www.spoe.at/bilder/d251/spoe_partei_programm.pdf. „Teilhabe“ ist die seit der
SPD-Programmdebatte geläufige deutsche Übersetzung von „Inklusion“. „Teilhabegerechtigkeit“ wird dabei als Gegenentwurf zur Verteilungsgerechtigkeit“ ins Spiel gebracht – vgl. Draheim/Reitz: a.a.O., S. 473.
24 So formuliert in einer von ÖGB und Arbeiterkammer herausgegebenen Broschüre: Eberhard, Erik: Austromarxismus und Sozialdemokratie. Politische Strömungen der Arbeiterbewegung II, Politik und Zeitgeschehen 2, 2006, S. 39.
25 Zwischen 1980 und 1990 sank die Lohnquote von 78,7 auf 72,4 Prozent, bis 2000 auf 69,8 Prozent. Guger, Alois/ Marterbauer, Markus: Die
langfristige Entwicklung der Einkommensverteilung in Österreich. Wien: Institut für Wirtschaftsforschung 2004, online: http://www.armutskonferenz.at/einkommen_0304.pdf.
26 Sandner, Günther: Der ‚Dritte Weg’ der Sozialdemokratie, Politik und Zeitgeschehen 10, 2002, S. 19.
27 Regierungsprogramm für die XXIII. Gesetzesgebungsperiode, 2007, S.110, online: www.bmf.gv.at/Service/Regierungsprogramm.pdf
28 FrauenLesben gegen Zwangsarbeit: Wie entsteht ein gesamtösterreichisches Arbeitshaus?, in: grundrisse 21 (2007), S. 20-22.
29 Mahnkopf: a.a.O.
30 Ebd.
31 Natürlich hinkt dieser Vergleich: Zwei-Parteien-System, geringer gewerkschaftlicher Organisierungsgrad und extrem niedrige Wahlbeteiligung
vor allem der unteren Klassen machen das Ziehen von Parallelen schwierig.
32 Der Wahlsieg der SPÖ ist hier nur auf den ersten Blick eine Ausnahme – schließlich war der Wahlkampf gerade keiner des „Dritten Wegs“.





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