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Strategien der Bewegung
von Stefan Probst

Rezension: Daniel Bensaïd: Eine Welt zu verändern. Bewegungen und Strategien. Münster: Unrast 2006. 13,00 €

Nachdem die Diskussion linker Theorie und Strategie Ende der 70er Jahre ihren Nullpunkt erreicht hatte, drängen seit Mitte der 90er, im Zuge der neuen Bewegungen gegen die kapitalistische Globalisierung, erneut Kontroversen „über die Mittel der Veränderung“, zu „neuen Akteuren und strategischen Räumen“ (12) in den Vordergrund. Die Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen Daniel Bensaïds, französischer Philosoph und führendes Mitglied der Ligue Communiste Révolutionnaire, muss als Intervention in diese Debatten begriffen werden.

Wir haben „das Recht und die Pflicht…, die Welt zu verändern, bevor sie in der sozialen und ökologischen Katastrophe versinkt“, (10) betont Bensaïd. Dafür sei jedoch notwendig, dass die radikale Linke die strategischen Sackgassen, gescheiterten Erfahrungen und Probleme der Vergangenheit reflektiert. Es gehe darum, „die Bilanz eines obskuren Jahrhunderts zu ziehen, um erneut die enge Tür der Möglichkeiten einen Spalt breit zu öffnen.“ (12) In diesem Sinn entwirft Bensaïd mithilfe des theoretischen Rüstzeugs eines undogmatischen Marxismus eine zeitgemäße Kapitalismuskritik, und diskutiert die Modetheorien der heutigen Linken – bereit zu lernen, aber auch die strategischen Leerstellen und Defizite zu benennen.

Mit Marx begreift Bensaïd die „Trennung von Gebrauchs- und Tauschwert, zwischen konkreter und abstrakter Arbeit, zwischen Produktion und Reproduktion, zwischen steigender Vergesellschaftung und Privatisierung des Eigentums“ (15) als die grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus. Die aktuelle soziale und ökologische Krise sei Ausdruck der „Reduzierung aller Gegenstände und sozialen Verhältnisse auf die abstrakte Arbeitszeit“, die „immer elendigere und irrationalere Formen“ annimmt. (16) Daran habe auch die verstärkte Ausbeutung geistiger Arbeit im „kognitiven Kapitalismus“ nichts geändert. Bensaïd kritisiert deshalb jene Positionen, die die Transformationen der Arbeitsorganisation der letzten Jahrzehnte überzeichnen und behaupten, der „informelle Kapitalismus“ tendiere spontan „zu einer bestimmten Form von Kommunismus“, der nun über „Netzwerke und nichtaneigenbare Informationsfluten“ definiert sei. (34)

Besonders weist Bensaïd auf die Dringlichkeit ökologischer Fragen für die radikale Linke hin, betont dabei aber die Verknüpfung von sozialen und ökologischen Problemen und deren Verwurzelung im kapitalistischen Verwertungsprozess. Genauso wie das Kapital aus der Arbeitskraft eine Ware oder einen Produktionsfaktor macht, so wird im Kapitalismus auch die Natur zu einem Objekt der Ausbeutung. Konsequenterweise können wir „die ökologische Pflege des Planeten nicht den blinden Prozessen der Märkte anvertrauen“. (43)

Für einen Theoretiker der revolutionären Linken nicht selbstverständlich ist, dass Bensaïd seine Überlegungen auch auf das Verhältnis von Menschen und Tieren ausweitet. „Die moderne Gewalt, die sich in ihrer industriellen Form auch gegen die Tiere wendet, ist untrennbar mit der Gewalt gegen die Natur und natürlich auch die Menschen verknüpft.” Gegen den anthropozentristischen Speziesismus etwa von Steven Rose folgt Bensaïd der Argumentation Ted Bentons, dass die Tatsache, dass allein Menschen moralische Rechte und Pflichten hätten nicht bedeute, dass man sie den Tieren verweigern solle. (55) Dennoch fragt Bensaïd, ob die Forderung nach Tierrechten unbedingt von einem schwer begründbaren moralischen statt von einem ökologischen Standpunkt aus erfolgen müsse. „Wäre es nicht weiser, von einer Interdependenz der Lebewesen innerhalb der Ökosysteme und ihrer gegenseitigen Verantwortung auf der Grundlage einer immanenten und profanen Ethik, einer kritischen Ökologie auszugehen?“ (58) Obwohl Bensaïd hier wichtige Fragen und Herausforderungen anspricht, hängen die im ersten Abschnitt des Buchs zusammengestellten Aufsätze dennoch ein bisschen in der Luft. Richtig zur Sache geht’s dann erst in den folgenden Abschnitten über Akteure und Strategien, die im Kern eine Auseinandersetzung mit Antonio Negri und John Holloway darstellen. Beiden wirft Bensaïd vor, zentrale Fragen politischer Transformationsstrategien auszuklammern.

Negri charakterisiert die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Empire, als „glatten Raum“, dem er das „Begehren nach Befreiung“ der Multitude, dem rhizomatischen Subjekt postmoderner Subversion entgegensetzt – für Bensaïd eine äußerst unbefriedigende Analyse. Der Begriff der Multitude sei „genauso konfus wie soziologisch unpräzise, philosophisch obskur und strategisch leer.“ (62) Zunächst scheint das Konzept der Multitude „der Pluralität und der Differenz der unterschiedlichen Widerstandsgruppen Rechnung zu tragen, der Identitätskrisen und der sozialen Zugehörigkeiten“. (62) Jedoch sei, so Bensaïd, die „Vereinigung der Klasseninteressen, ausgehend von heterogenen beruflichen Bedingungen, unterschiedlichem Status und verschiedenen kulturellen Positionen“ immer schon ein Problem der ArbeiterInnenbewegung gewesen. (63) Die Vereinigung der unterschiedlichen Subjekte in einem „gemeinsamen Projekt gegen den Despotismus des Kapitals“ sei allerdings eine strategische Aufgabe und müsse politisch immer wieder neu erkämpft werden. „Die Komplexität der sozialen Spaltungen, der Vielfalt des Widerstands, die Kreuzung der Zugehörigkeiten und Identitäten, stellen unter einem anderen Licht erneut die Frage ihrer Einheit und Übereinstimmung.“ Die Pluralität der sozialen Bewegungen muss zu einer mindestens relativen Einheit führen: „nicht spontan, sondern als eine strategisch herzustellende Einheit.“ (97) Auf welcher Grundlage kann eine solche Vereinigung angesichts der sozialen und identitären Fragmentierung und der Pluralität von Herrschaftsformen bewerkstelligt werden? Wie kann eine Einheit der Vielfalt hergestellt werden, ohne die Kämpfe auf einen Hauptwiderspruch zu reduzieren? Die Bedingungen, die diese Einheit möglich und notwendig machen liegen, so Bensaïd, in der sozialen Realität selbst: die unterschiedlichen Widersprüche sind durch die globale Logik des Kapitals und damit dem Klassenkonflikt überformt, „überdeterminert“. (92)

Bei Negri hingegen werden all diese Probleme der Klassenmobilisierungen und anderer kollektiver Bewegungen ausgeblendet, indem er die Multitude als „ständiges Streben der Menschen nach Befreiung“ ontologisiert, wodurch die strategischen Fragen der Formierung revolutionärer Subjekte und Subjektivitäten einfach verschwinden. Bezeichnend dafür ist, dass in Negris „Schattentheater, in dem sich Multitude und Empire bekämpfen … die politische Vermittlung [verschwindet]: nicht nur die Nationalstaaten, sondern auch die Parteien, Gewerkschaften, alle organisierten Formen des politischen Kampfes“. Aber: „Wenn die Politik eine Kunst der Vermittlung ist, was bleibt dann von ihr, wenn man letztere abschafft?“ (73) Nicht viel, behauptet Bensaïd. Die Politik der Verweigerung und des Exodus, die Negri vorschlägt, können die strategische Leere seiner Theorie nicht kaschieren. Dem „Elend der Macht die Freude am Sein“ entgegenzusetzen ist wohl kaum Ersatz politischer Strategiediskussion. Die Forderung der Flucht aus dem System sei höchstens die positive Umdeutung „des erlittenen Ausschlusses (durch Arbeitslosigkeit, Armut, Teilzeit- oder prekäre Arbeit)“. (69) Nicht weniger kritisch fällt Bensaïds Resumee der Thesen Holloways aus. Die einzige Form, die Revolution heute noch zu denken, behauptet Holloway, wäre nicht die Eroberung der Macht, sondern ihre Auflösung. (126) Allerdings weiß auch Holloway keine Antwort, wie die Welt verändert werden kann, ohne die Macht zu übernehmen. „Ganz wie am Anfang des Buches, wissen wir es auch am Ende nicht“, schreibt Holloway in ernüchternder Offenheit: „wir wissen nicht mehr, was die Revolution bedeutet.“ (126)

Bensaïd betont, dass wir heute, nach den Niederlagen und Desillusionierungen des 20. Jahrhunderts, Schwierigkeiten damit haben, „uns eine strategische Form der zukünftigen Revolutionen angesichts der Metamorphosen des Kapitals vorzustellen.“ (127) Das sei aber weder neu, noch ein ausreichender Grund, „die Lektionen der Niederlagen und des Scheiterns zu vergessen. Diejenigen, die behauptet haben, die Eroberung der Macht zu ignorieren, wurden oft von ihr eingeholt: Sie wollten sie nicht erobern, die Macht hat sie erobert. Und diejenigen, die glaubten sie zu umgehen, zu vermeiden, ihr auszuweichen, sie einzukreisen, sie zu umgarnen ohne sie zu erobern, wurden oft von ihr zerquetscht.“ (127) Deshalb plädiert Bensaïd: „Ja, zur Öffnung für das Ungewisse, das Holloway fordert. Nein zu dem großen Sprung vorwärts in die strategische Leere“, die Holloways entwaffnende „Antipolitik“ impliziert. (128f )

Richtig sei, dass sich strategische Fragen nicht auf die Übernahme der Macht reduzieren lassen. „Der Raum und die Zeit der sozialen Auseinandersetzungen dehnen sich ständig weiter aus. Der alltägliche Widerstand, die sozialen und politischen Bündnisse, sind integraler Bestandteil eines langfristigen Kampfes für die kulturelle Hegemonie und für eine gesellschaftliche Alternative.“ (166f ) Notwendig dafür sei ein strategisches Denken als „Denken der Krisen und der historischen Brüche, ein Verständnis der Verbindung zwischen dem Ereignis und seinen historischen Bedingungen“ (167), der Ungleichzeitigkeiten und Verdichtungen, der Möglichkeiten und strategischen Perspektiven der täglichen Kämpfe.

Genau hier sieht Bensaïd dann auch die Stärke und „unzeitgemäße Aktualität“ Lenins: „Die zerbrochene Zeit der leninistischen Strategie“, schreibt Bensaïd, ist eine „Zeit des günstigsten Augenblicks und der besonderen Konjunktur, wo sich Notwendigkeit und Zufall verbinden, Akt und Prozess, Geschichte und Ereignis“. (139) Wenn nun aber Revolutionen „ihr eigenes, durch Beschleunigungen und Verlangsamungen gegliedertes Tempo“ haben, dann erhält auch die Leninsche Partei eine bestimmte Aufgabe: „Sie wird zum strategischen Techniker, eine Art Beschleuniger und Fluglotse des Klassenkampfs“ (140), die versucht, die vielgestaltigen politischen Kämpfe zu prägen und zu stärken und „die Glut der Subversion in allen gesellschaftlichen Bereichen“ zu schüren. (143)

Eine Welt zu verändern stellt die Aktualität eines undogmatischen revolutionären Sozialismus auch und gerade für die heutigen Bewegungen und Kämpfe souverän und eindrucksvoll unter Beweis. Es bleibt, Bensaïds Buch eine breite LeserInnenschaft zu wünschen.





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