Rezension: Martin Birkner/ Robert Foltin: (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Geschichte und Gegenwart, Theorie und Praxis. Stuttgart:Schmetterling 2005. 10,30 €
„In gemeinsamer Arbeit mit den Protagonisten des Kampfes der arbeitenden Klassen selbst die Ziele und die Formen suchen, mit denen der aktuell geführte Kampf selbst die Richtung auf die bewusste Verwirklichung eines sozialistischen Systems nehmen kann“ (18).
„Das In-den-Vordergrund-Rücken des Intellekts als solchen, die Tatsache, dass die allgemeinsten und abstraktesten sprachlichen Strukturen zu Instrumenten werden, die das eigene Verhalten auszurichten erlauben, stellt meines Erachtens eine der Hauptbedingungen, die die zeitgenössische Multitude bestimmen, dar.“1
Zwischen diesen beiden Sätzen liegen etwas mehr als dreißig Jahre und, so scheint es, politische Welten. Dass und was sie trotzdem miteinander zu tun haben, zeigen Martin Birkner und Robert Foltin, Redakteure der in Wien erscheinenden Zeitschrift „grundrisse“, in ihrer Einführung in den „(Post-)Operaismus“.
Aus dem Versuch, im Italien der 1960er marxistisch orientierte Theorie und Praxis aus dem tödlichen Würgegriff der stalinistischen KPI zu entwinden, entwickelte sich eine eigenständige, lebendige Tradition. „Operaistische“ AktivistInnen stellten die konkreten Kämpfe der Lohnarbeiter (weit seltener auch jene der Arbeiterinnen) ins Zentrum ihrer Politik. Dazu wurde das Instrument der „Mituntersuchung“ („conricerca“; auch als „militante Untersuchung“ übersetzt) entwickelt: In den Fabriken selbst wurden wissenschaftliche Untersuchungen zur Lage der ArbeiterInnen durchgeführt, die gleichzeitig als Agitation für den Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung dienten. Erfasst werden sollte die „Klassenzusammensetzung“, d.h. jener Prozess, in dem ArbeiterInnen „ihren Zusammenhang als Arbeitskräfte als organisatorischen Ausgangspunkt ihres Kampfes nutzen“ (30). Als in den riesigen Automobilfabriken Norditaliens Anfang der 1960er zehntausende ArbeiterInnen in den Streik traten und sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, fand die frühe operaistische Theorie ihr konkretes revolutionäres Subjekt: Der „Massenarbeiter“ („operaio massa“) war geboren: „An den Fließbändern der norditalienischen Großfabriken arbeitend und in den Schlafsiedlungen der Großstädte wohnend, sollte er bald zur zentralen Figur der autonomen Klassenkämpfe werden“ (20).
„Autonom“ waren die Kämpfe vor allem gegenüber den etablierten Parteien der Linken – der stalinistischen KPI und der sozialdemokratischen SPI. Hier liegen auch die Wurzeln für eines der (bis heute) wichtigsten Charakteristika operaistischer Theorie und Praxis: die radikale Ablehnung „etablierter“ Gewerkschaftsstrukturen. Die Erfahrung des Verrats der KPI-dominierten Gewerkschaftsführung in den Kämpfen der 1960er und 1970er Jahre wurde theoretisiert verarbeitet in der fürderhin axiomatischen Vorstellung, die Gewerkschaften wären per se die „Agenten der Bourgeoisie in den Reihen des Proletariats“.
Insgesamt sah die Hochphase operaistisch inspirierter ArbeiterInnenmilitanz in den 1970ern bis zum „historischen Ort 1977/79“, als der italienische Staatsapparat den Terror der Roten Brigaden zum Vorwand nahm, mit militärischer Gewalt und massiven Verhaftungswellen gegen die Bewegung vorzugehen2, auch die Entstehung der innovativsten theoretischen Arbeiten des Operaismus. Die Thesen von AktivistInnen wie Mario Tronti, Sergio Bologna oder Toni Negri sowie feministische Interventionen wie jene Mariarosa Dalla Costas wurden nicht nur angeregt diskutiert, sondern waren organisch mit den Kämpfen von Lohn- und Hausarbeitenden und Studierenden verknüpft. Als einende theoretische Prämisse diente den verschiedenen Strömungen des Operaismus eine Lesart der politökonomischen Werke von Marx, die der „lebendigen Arbeit“ das absolute Primat im Produktionsverhältnis zugesteht. Die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise wird also als angetrieben von den Kämpfen der ArbeiterInnen begriffen. Die andere Seite des Verhältnisses, das Kapital, ist gleichsam eine nachgeordnete Instanz, deren Bewegungen letztlich als Reaktionen auf die Aktionen der lebendigen Arbeit erklärbar sind. Diese These ist es auch, die – wenn auch in unterschiedlicher Form – den Bogen spannt vom italienischen Operaismus der 1960er/70er Jahre zum „Postoperaismus“ der Jahrtausendwende.
Die Lichtgestalt des Postoperaismus ist zweifellos Toni Negri, Autor des gefeierten Weltbestsellers „Empire“. Er war in den 1980er Jahren vor der italienischen Klassenjustiz ins französische Exil geflohen und traf dort auf eine intellektuelle Landschaft, die sich deutlich von jener der radikalen Linken Norditaliens unterschied. Die poststrukturalistischen Theorien Michel Foucaults, vor allem aber jene Gilles Deleuzes und Felix Guattaris, prägten seine Versuche, operaistische Theorie weiter zu entwickeln. Besondere Bedeutung hatten philosophische Rückgriffe auf Nietzsche und besonders Spinoza. Negri wandte sich gegen die hegelianische Tradition im Marxismus, „gegen Humanismus, Historizismus/ Teleologie und Dialektik“ (56), und setzte ihr entgegen: das Denken von Macht und Gesellschaft als molekulare Netzwerke („Rhizome“ in der Diktion von Deleuze/Guattari); die Betonung des singularen, schlagenden Ereignisses („Kairós“ bei Hardt und Negri); sowie die „Immanenz“ als Alternative zum Begriff der Dialektik. „Immanenzdenken“ geht auf Spinoza, den radikalen Aufklärungsphilosophen des 17. Jahrhunderts, zurück: „Marxistisch gewendet verabschiedet spinozistisches Denken jede Möglichkeit einer Trennung von ökonomischer Basis und politischem Überbau, von Produktion und Demokratie, die ja selbst zentrale Elemente der bürgerlichen Gesellschaftskonstitution sind“ (57). Die Kontinuität zu operaistischen Thesen liegt dabei vor allem in der radikalen Betonung des „Lebendigen“, die das Kapital letztlich auf ein („parasitäres“) Anhängsel der lebendigen Arbeit reduziert, als Teil eines immanenten Ganzen statt eines dialektischen Widerspruchs. In „Empire“ und „Multitude“ verknüpfen Negri und Hardt ihre philosophischen Thesen mit einer Zeitdiagnose der „postmodernen“ Welt und gelangen dadurch zu ihren vieldiskutierten Argumenten.
Birkner und Foltin beschränken sich jedoch nicht auf den Superstar Negri, sondern diskutieren im Abschnitt zum Postoperaismus auch die Werke zweier anderer Autoren: John Holloway und Paolo Virno. Während der Teil zu Virno eher knapp gehalten ist und nicht ganz schlüssig erklärt, wie die aktuellen Thesen des italienischen Philosophen an die Theorietradition des Operaismus rückgekoppelt werden können3, ist die Diskussion zum Theoretiker des Zapatismus Holloway ausführlich und interessant. Die Autoren zeigen, wie auch ein nicht-spinozistischer Ansatz wie jener Holloways am (Post-)Operaismus anknüpfen kann, indem er die Unmittelbarkeit des Widerstands und der Kämpfe betont. Holloways These der „Anti-Macht“ als treibende Kraft des Kapitalismus ist dafür ein glaubwürdiger Beleg, ebenso wie sein Plädoyer für das „Hier und Jetzt“ der Revolte, das sich fast nahtlos an Negris Versuch einer Alternative zu einem mechanisch-teleologischen Geschichtsbild fügt.
Um es vorweg zu nehmen: die Rundschau ist gelungen. Der schmale Band ermöglicht Nichteingeweihten ebenso einen relativ problemlosen Einstieg in die Geschichte und Weiterentwicklung des Operaismus, wie er jene LeserInnen, die sich schon durch Negri und Konsorten geackert haben, eine fundierte Diskussion zentraler Themen und Probleme bietet. Die Herausforderung, die oftmals esoterische Sprache der PostoperaistInnen in auch für „EinsteigerInnen“ verständliches Deutsch zu übersetzen, wurde fast immer bravourös bewältigt. Und bis auf wenige Ausnahmen gelingt es dem Buch auch, trotz der oftmals weiten Streifzüge durch die politische Philosophie Europas (Spinoza! Machiavelli! Heidegger!) den roten Faden des Operaismus nicht zu verlieren.
Dies gesagt, müssen jedoch zwei Kritikpunkte genannt werden. Der erste betrifft die letztlich doch recht in sich geschlossene Diskussion. Postoperaistische TheoretikerInnen werden wenn, dann meist nur von anderen PostoperaistInnen kritisiert. Der im Buch präsentierte Teil der Debatte verbleibt damit im eigenen „Forschungsprogramm“. Kritik aus nicht-operaistischer linker Perspektive wird oftmals mit einem polemischen Nebensatz vom Tisch gefegt, um sogleich alle Aufmerksamkeit auf theorieinterne Spitzfindigkeiten zu lenken. Kritik von Autoren wie Alex Callinicos (an Negri) oder Daniel Bensaïd (an Holloway) kurzerhand als „Wiederkehr des immergleichen trotzkistischen Mantras“ (146) abzutun, ist einer fruchtbaren Debatte über „Schulgrenzen“ hinweg jedenfalls sicherlich nicht zuträglich. Zumal beide Autoren einige wichtige Einwände gegen die Konzepte Negris und Holloways formulieren, die in dem vorliegenden Buch schlicht ignoriert werden.4
Die zweite Kritik zielt sowohl auf das Buch, als auch auf den Postoperaismus selbst. Dessen großes Problem seit den Tagen der „Diaspora“ in den 1980ern war die Entkopplung von Theorie und politischer Praxis. Nach der italienischen Niederlage von 1979 blieb die Weiterentwicklung der operaistischen Theorie durch Negri und andere weitgehend isoliert von Kämpfen oder gar Organisationen der Linken. Dies wird jedoch im Buch nicht problematisiert, schlimmer noch: die Entkopplung von Theorie und Praxis schlägt sich teilweise auch bei den Autoren selbst nieder.
Der letzte Teil des Buches, „Bewegung & Organisierung“, ist nicht zufällig der mit Abstand kürzeste. Was Fragen der konkreten Kämpfe betrifft, haben sowohl Negri als auch Holloway nicht allzu viel zu sagen. Das Vorstellen von vier (post-)operaistisch inspirierten Bewegungsprojekten bleibt leider genau das: eine Vorstellung. Die Gelegenheit, die im Buch vorgestellten Theorien anhand dieser praktischen Projekte auf den Prüfstand der Praxis zu legen, wurde leider versäumt.
Der Operaismus steht in der Tradition des „Sozialismus von unten“, eines undogmatischen Marxismus, der das Diktum von der Befreiung des Proletariats, die nur die Sache des Proletariats selbst sein kann, ernst nimmt. Für eine ebenso notwendige wie ernsthafte (aber nicht freudlose) Auseinandersetzung mit operaistischen Theorien ist der vorliegende Einführungsband Gold wert (und zu diesem Preis auch äußerst wohlfeil). Der durchaus erfrischende Grundton des Buches macht die Vorbemerkung der Autoren, dass ihnen „Kampf gegen Herrschaft und Ausbeutung gleichermaßen Lebensfreude und Notwendigkeit ist“, glaubwürdig. Ausführliche Kritik an (post-)operaistischer Theorie und Praxis sollte jedoch an anderer Stelle nachgelesen werden.
1 Virno, Paolo: Grammatik der Multitude. Mit einem Anhang: Die Engel und der General Intellect, Wien 2005, S. 46.
2 Die politische Niederlage des Operaismus kann jedoch – was im vorliegenden Band leider nicht ausreichend diskutiert wird – nicht allein aus der brutalen Repression seitens des italienischen Staatsapparats erklärt werden. Blinder Voluntarismus, die Militarisierung der Kämpfe und die Weigerung, sich auf breitere Bündnisse einzulassen, müssen bei einer Erklärung der Ereignisse von 1977/79 in den Blick genommen werden. Für eine ausgezeichnete (selbst-)kritische Analyse aus operaistischer Perspektive siehe Wright, Steve: Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus, Berlin 2005.
3 Virno kommt selbst aus der Tradition des italienischen Operaismus. Seine aktuellen Arbeiten – v.a. die „Grammatik der Multitude“ – knüpfen ebenso wie Negri an Spinoza an, enthalten aber nur noch homöopathische Dosen operaistischen Denkens.
4 Siehe Calliniocs, Alex: Toni Negri in Perspective, in: International Socialism 92 (2001), S. 33-61; Bensaïd, Daniel: On a recent book by John Holloway, in: Historical Materialism 13:4 (2005), S. 169-192.