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ÖGB: Gefangen in der Sozialpartnerschaft?
von Karin Hädicke

Die fehlende Kampfbereitschaft und die undemokratischen Strukturen des ÖGB haben ihre historischen Wurzeln im Gründungsprozess des Gewerkschaftsbundes in der unmittelbaren Nachkriegszeit, schreibt Karin Hädicke.

Der BAWAG-Skandal hat schonungslos die Widersprüche der Gewerkschaftsführung offen gelegt – auf der einen Seite der offizielle Anspruch, Interessensvertreterin der ArbeiterInnen zu sein, und auf der anderen Seite die Integration in das marktwirtschaftliche System und schließlich der Versuch, selbst an den Spekulationen auf den Finanzmärkten mitzuprofitieren. Die Ereignisse rund um die BAWAG sind Anlass zu Fragen und Diskussionen über die Ursachen der offensichtlich gewordenen Krise des ÖGB, als auch über notwendige Reformen. Forderungen nach mehr Demokratie und Transparenz in den Gewerkschaftsstrukturen wurden aufgestellt und verschiedene Initiativen versuchen, Einfluss auf die Diskussionen zu nehmen.

Die deutlichsten Antworten auf die Krise des ÖGB findet jedoch immer noch die Gewerkschaftsführung. Die
Ursache für die Krise wird am verantwortungslosen Handeln von einzelnen Managern und Spitzenfunktionären in Bank und Gewerkschaft festgemacht. Der Ausweg aus der Krise weist deshalb seitens der Gewerkschaftsführung nicht in eine grundsätzlich neue Richtung: Die Sozialpartnerschaft soll aufrechterhalten werden, was nichts anderes bedeutet als die Fortführung der Strategie „verhandeln statt kämpfen“. Genauso wenig wird die undemokratische Konzentration der Entscheidungskompetenz bei der Gewerkschaftsbürokratie grundsätzlich in Frage gestellt.

Doch kam das Desaster wirklich so überraschend? Einen Teil der Antwort liefert uns die Geschichte der Gewerkschaften, insbesondere die Zeit nach 1945, als der ÖGB neu gegründet wurde. Gleichzeitig können uns die Erfahrungen aus der Geschichte der österreichischen Gewerkschafts-
bewegung Anhaltspunkte geben, wie aus dem ÖGB eine wirkliche kämpferische Interessensvertretung der ArbeiterInnen werden kann.

ArbeiterInnenbewegung nach 1945

Die Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist für uns heute schwer vorstellbar. Inmitten von Hunger, Elend, Zerstörung musste das bloße Überleben gesichert werden. Neue Strukturen, die das Zusammenleben und Überleben regeln konnten, gab es nicht oder waren nicht gefestigt. Viele Entscheidungen wurden zunächst aus der Not heraus und spontan getroffen. Menschen machten die Erfahrung, dass sie sich ihre Strukturen selbst schaffen können. Dr. Kurt Steyrer erinnert sich an die Anfänge im Rudolfspital in Wien: „Es herrschte Teamgeist im besten Sinne des Wortes, und jeder packte in gleicher Weise zu, ob nun Klinikvorstand, Gastarzt, Krankenpflegerin oder Reinigungspersonal … Rückblickend wird mir bewusst, dass wir damals – ohne daran zu denken und ohne dass darüber viel geredet worden wäre – eine wahrhaft demokratisch-menschliche Gesellschaft gebildet haben: ohne schriftliche Satzung oder Festlegung. Das war damals gar nicht notwendig, sondern selbstverständlich.“1

Weiters waren die vom deutschen Kapital errichteten Betriebe und Unternehmen 1945 sozusagen herrenlos. Die Produktion wurde von den ArbeiterInnen selbst in Gang gebracht und den Umständen entsprechend koordiniert. Allein im Mai 1945 wurden in 6.000 Betrieben öffentliche Verwalter eingesetzt, da Manager und Betriebsdirektoren geflohen waren.2 Diese Verwalter stießen dabei auf von ArbeiterInnen selbst geschaffene Strukturen (Betriebsräte u.ä.) und mussten zunächst „notgedrungen“ mit ihnen zusammenarbeiten. Gerade in diesen Betrieben lebten
Ansätze lebendiger ArbeiterInnenbewegung auf – einschließlich Protesten und Streikaktionen.

Dieser Teil der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung Österreichs wird oft ausgeklammert, denn die politisch und wirtschaftlich Mächtigen hatten in der unmittelbaren Nachkriegszeit kein Interesse an der Neuformierung einer kämpferischen ArbeiterInnenbewegung. Im Gegenteil: der ÖGB sollte die Lohnabhängigen für den Aufbau eines
marktwirtschaftlichen Systems in Österreich gewinnen.

Neugründung des ÖGB

Die Neugründung des ÖGB als überparteilicher Gewerkschaftsbund fand bereits am 15. April 1945 – also noch vor der Republiksgründung – statt und wurde am Reißbrett, in Abstimmung mit den Parteizentralen von SPÖ, ÖVP und KPÖ, nach den Vorstellungen der künftigen Führung entworfen. Es sollte eine überparteiliche Einheitsgewerkschaft aufgebaut werden, „die alle ArbeiterInnen und Angestellte, unbeschadet ihrer Weltanschauung, soweit sie demokratisch ist, und die sich zu Österreich bekennen, umfasst“.3

Im Vordergrund stand unmittelbar nach Kriegsende der kapitalistische Wiederaufbau der österreichischen Wirtschaft. ÖGB-Vorsitzender Johann Böhm formulierte 1949 als vorrangiges Ziel der Gewerkschaft die „Steigerung der Produktion und Produktivität“, und dies bedürfe einer gemeinsamen Anstrengung der Interessensorganisationen der ArbeiterInnen und UnternehmerInnen, die „ganz gut ein Stück Weges gemeinsam gehen“ könnten.4 Die ÖGB-Spitze war von der „Verantwortung gegenüber der Wirtschaft als Ganzem“ überzeugt.5 Im Gründungsaufruf des ÖGB heißt es: „Wir wollen uns geloben, unsere ganze Kraft dem heiligen Ziele, dem Wiederaufbau unseres geliebten Vaterlandes zu widmen und unablässig dafür zu arbeiten, dass es in kürzester Zeit erreicht werde.“6 Der ÖGB sollte demnach ein Instrument für klassenübergreifende Zusammenarbeit im nationalen Interesse werden – was in letzter Konsequenz Aufgabe des Klassenkampfes bedeutete.7

Es ist klar, dass sich dieses neue Selbstverständnis nicht ohne weiteres durchsetzen konnte und so wurden Strukturen geschaffen, die die Organisation fest im Griff haben und Initiativen von ArbeiterInnen unterdrücken können, die noch nicht eingesehen haben, dass Klassenkampf jetzt nicht mehr im Maßnahmenkatalog des ÖGB steht.

Die Strukturen wurden zentralisiert und als alleinige Entscheidungsträger ausgebaut, „statt sich an den Wünschen der ArbeitnehmerInnen in den Betrieben zu orientieren, breite Diskussionen innerhalb der Mitgliederschaft zu provozieren und zu fördern“.8 ÖGB-Vorsitzender Böhm betonte 1947: „Über Gesetze kann man nicht in Massenversammlungen beraten. Die Mitglieder des ÖGB werden durch die Veröffentlichungen in den Fachblättern über den Verlauf der Verhandlungen informiert.“ Unliebsame KritikerInnen wurden schnell in die Nähe der KPÖ gerückt. Das Auftreten der russischen Besatzungsmacht – Abbau von Produktionsanlagen, rücksichtsloses Verhalten gegenüber der Zivilbevölkerung – verstärkte noch die Vorurteile gegenüber dem so genannten „Kommunismus“, so dass die antikommunistische Propaganda leichtes Spiel hatte. Der ÖGB war also von Anfang an nicht als eine demokratische Institution aufgebaut.

Wie die undemokratischen Strukturen des ÖGB Kämpfe beeinflussen und abwürgen konnten, zeigt die Reaktion auf die Proteste der ersten Nachkriegsjahre, insbesondere gegen die fünf Lohn-Preis-Abkommen (LPA) ab 1947.

Diese waren als erstes Ergebnis der harmonischen Klassenkooperation zwischen der Führung der Gewerkschaftsbewegung und dem österreichischen Kapital ausverhandelt worden und sollten die drohende Inflation eindämmen: Wenn sich die Wirtschaft zu Preissenkungen bereit erklärte, würde die Gewerkschaft im Gegenzug auf Lohnforderungen verzichten. Tatsächlich jedoch bedeutete jedes LPA massive Reallohnverluste für die ArbeiterInnenschaft, die ohnehin bereits am Rand des Existenzminimums lebte. Ende 1947, nach Abschluss des ersten LPA, resümierte ein Vertreter der Unternehmer triumphierend: „Es ist uns geglückt, ohne Streiks, ohne irgendwelche Unruhen, ohne Ausschreitungen das Preis- und Lohnabkommen, das wir im Sommer
beschlossen haben, zu verlängern. … obwohl die Lebenskosten um etwas mehr als 15 Prozent gestiegen waren … haben die Arbeiter auf Lohnerhöhungen verzichtet.“9

Während die Gewerkschaftsspitzen die Angriffe auf die
ArbeiterInnenklasse mittrugen und als eiserne Notwendigkeiten verkauften, wurden in den Betrieben die Kürzungen jedoch nicht kampflos akzeptiert. Gegen die ungerechte Verteilung von Lebensmitteln gab es so genannte „Kalorienstreiks“ im Herbst 1946. Im Mai 1947 demonstrierten 20.000 Menschen in Wien vor dem Bundeskanzleramt gefolgt von Streiks in Wien und Umgebung. Im Juli 1948 forderten 2.000 Böhler-ArbeiterInnen in Kapfenberg eine Lohnerhöhung, im August 1948 gab es Warnstreiks bei VOEST in Linz. In Donawitz streikten 3.000 ArbeiterInnen für eine 25%ige Lohnerhöhung. Am 24. August 1948 streikten wieder 4.000 ArbeiterInnen in Kapfenberg. Im gleichen Jahr streikten 4.750 SchuharbeiterInnen über 5 Wochen, weil die UnternehmerInnen sich weigerten, die 44-Stunden-Woche anzuerkennen. Im Mai 1949 demonstrierten 200.000 in Wien gegen das dritte LPA.

Die Gewerkschaftsführung distanzierte sich von diesen Aktionen und suchte sie zu verhindern. Durch die Zentralisierung ihrer Strukturen besaßen sie die Kontrolle über die Streikgelder. Der ÖGB gab eine Erklärung heraus, wonach „Streiks und Demonstrationen nur auf ausdrück-
liche Anordnung des Gewerkschaftsbundes oder der zuständigen Gewerkschaft zu erfolgen haben. … die Betriebsräte haben nur Weisungen der zuständigen Gewerkschaft
entgegenzunehmen. Leute, die unter Missbrauch des Namens des Gewerkschaftsbundes zu Aktionen aufrufen, sind zur Verantwortung zu ziehen.“10 Über Aktionen und Proteste wurde wenn, dann nur zusammenhanglos berichtet, wodurch eine breite und koordinierte Bewegung verhindert wurde. Gewerkschaftsführung und SPÖ warnten vor Ausweitung dieser Streiks und Proteste mit dem Argument, dass dann die russischen Besatzungstruppen länger im Land verbleiben und der „Kommunismus“ unausweichlich würde.

Die Ankündigung des 4. LPA im September 1950, das weitere Reallohnverluste zwischen 10 und 15 Prozent bedeutet hätte, brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Ende September und Anfang Oktober streikten mehr als 200.000 ArbeiterInnen in ganz Österreich. Es war der erste landesweite Massenstreik der Zweiten Republik. Am 25. September legten zuerst die Beschäftigten der VOEST in Linz die Arbeit nieder. Betriebe in Steyr, Donawitz und Wien folgten, bis sich am Höhepunkt der Auseinandersetzung 40 Prozent der IndustriearbeiterInnenschaft an Streikaktionen beteiligten.

Der ÖGB verweigerte jegliche Unterstützung und begann im Gegenteil unverzüglich, die Niederschlagung des Streiks zu organisieren. Während Polizei und Gendarmerie Betriebe besetzten und Betriebsräte verhafteten, mobilisierte die Bau-Holz-Gewerkschaft mit finanzieller Unterstützung der Industriellenvereinigung 2.000 Schläger, die gewaltsam gegen die Streikenden vorgingen.

Dem endgültigen Ende des Streiks am 6. Oktober folgten Säuberungswellen in Betrieben und Gewerkschaft: hunderte Betriebsräte wurden entlassen und unliebsame Elemente aus dem ÖGB entfernt. Der Gewerkschaftsbund festigte sich als undemokratischer Apparat, der seine Aufgabe in der Sicherung des „sozialen Friedens“ und der Regulation des Klassenkampfes sah.

Gab es eine Alternative?

Im Nachhinein ist es schwer nachvollziehbar, warum sich nicht alle an Aktionen beteiligten ArbeiterInnen zusammengetan haben, um eine andere Art von Gewerkschaft zu gründen, die ihren Mitgliedern nicht in den Rücken fällt. Fehlende Erfahrungen mit Klassenauseinandersetzungen sowie die Fragmentierung der Kämpfe waren sicherlich ein Grund dafür. Mindestens genauso wichtig war jedoch die unangefochtene Hegemonie der Sozialdemokratie innerhalb der ArbeiterInnenbewegung. Das bedeutete, dass die Stimmen, die nicht Klassenkooperation und den „gemeinsamen Kraftakt Wiederaufbau im nationalen
Interesse“ betonten, wenig gehört wurden. Für viele ArbeiterInnen klang es somit zumindest auf den ersten Blick plausibel – gerade nach den Erfahrungen des Austrofaschismus und Nationalsozialismus – nun noch stärker als zuvor auf „Stabilität“ und die Wahrung des „sozialen
Friedens“ zu setzen.

Genau diese politische Strategie hatte jedoch schon vor 1934 fatale Konsequenzen und führte letztlich in die Katastrophe. Erinnert sei nur an die Politik des „Burgfriedens“ während dem Ersten Weltkrieg. Sie bedeutete, dass „im Interesse des Vaterlandes“ seitens der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften der Klassenkampf aufgehoben wurde; d.h. Einstellung aller Lohnverhandlungen, Aufhebung der sozialpolitischen Gesetze, Verlängerung der Arbeitszeit, militärische Disziplinargewalt für kriegswichtige Betriebe.11

In der Ersten Republik wurde dieser Kurs fortgesetzt und von den austromarxistischen TheoretikerInnen der Sozialdemokratie legitimiert. Folge der inkonsequenten Politik war fortwährendes Stillhalten und Zurückweichen, das den Aufstieg des Faschismus in Österreich nicht aufhalten konnte. Dass es im Februar 1934 trotzdem tagelangen bewaffneten Widerstand gegen den Austrofaschismus gegeben hat, zeigt sowohl das Potential und die Stärke der ArbeiterInnenbewegung in Österreich, als auch ihre tragische Schwäche, das Fehlen einer konsequenten klassenkämpferischen Kraft, die der katastrophalen Politik der sozialdemokratischen Führung eine Alternative hätte entgegensetzen können.

Aus der Niederlage 1934 wurden unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen. Ein Teil der GenossInnen versuchte einen radikalen Bruch mit der bisherigen Politik und gründete die Revolutionären Sozialisten. Einig waren sich die Beteiligten in ihrer Abgrenzung zu den „reformistischen Illusionen“ der Sozialdemokraten. Allerdings trugen die schwierigen Verhältnisse – die Arbeit in der Illegalität – dazu bei, dass die Auseinandersetzung mit der Politik der sozialdemokratischen Führung nicht mit der nötigen Konsequenz geführt und gemeinsame Schlussfolgerungen gezogen werden konnten. Sie erlagen zum Teil der Illusion, dass 1945 die sozialdemokratische Partei unter radikaleren Vorzeichen als sozialistische Einheitspartei wieder aufgebaut werden könnte und unterschätzten völlig die Stärke der alten Funktionäre, die ihre 1934 unterbrochene Politik des Klassen-kompromisses nach dem Krieg fortsetzen wollten. Zum Teil resignierten sie und ließen sich wieder in den Parteiapparat integrieren oder sie wurden unter dem Vorwurf, Verbündete der Kommunisten zu sein, aus der Partei gedrängt.

Der rechte Flügel der Sozialdemokratie dagegen zog völlig konträre Lehren. Das Problem in der Niederlage 1934 bestand ihrer Meinung nach nicht in der Inkonsequenz der Auseinandersetzung, sondern in der Auseinandersetzung selbst – also darin, dass nicht konsequent genug
„kooperiert“ wurde. Die ehemals verfeindeten Lager müssten sich nun am „runden Tisch“ zusammensetzen und gemeinsam den Aufbau bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse in Angriff nehmen. Zu diesem Flügel, der sich nach 1945 durchsetzte, gehörte auch Karl Renner, der Staatskanzler der Ersten Republik. Statt den Kampf gegen den Austrofaschismus zu organisieren, suchte er 1934 bis zum Schluss unter allen Umständen einen Kompromiss mit den konservativen Kräften auszuhandeln. Die Zeit des Faschismus verbrachte er in seiner Villa in Gloggnitz, während seine GenossInnen emigrierten, in Konzentrationslager gebracht wurden oder in der Illegalität weiter arbeiteten. Rechtzeitig zu Kriegsende biederte er sich Stalin an und wurde prompt Staatskanzler der ersten provisorischen Regierung – eine gute Ausgangsposition, um die politischen Verhältnisse nach seinen Vorstellungen zu beeinflussen.

Der Weg zur Sozialpartnerschaft

Die Folgen der von Sozialdemokratie und Gewerkschaftsführung nach 1945 verfolgten Strategie des sozialpartnerschaftlich institutionalisierten Klassenkompromisses wurden mit den Lohn-Preis-Abkommen bereits angedeutet.

Neben den Lohn-Preis-Abkommen war auch die Verstaatlichung ein wichtiges Projekt. Seitens der SPÖ wurden dabei radikale Argumente vorgebracht, die an die Tradition der Austromarxisten erinnern – Otto Bauer war für die schrittweise Vergesellschaftung der Produktionsmittel – und an die aktuellen Forderungen der ArbeiterInnen anknüpften, die gerade die Industrieproduktion wiederaufbauten und die sich natürlich fragten, auf welchem Weg die Produktion am besten im Interesse der ArbeiterInnen angeeignet werden könnte. Der damalige Erste Sekretär der Arbeiterkammer Pittermann: „Den Weg zur Überwindung des kapitalistischen Systems weist uns der marxistische Sozialismus… Wir Sozialisten machen daher die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die planmäßige Lenkung der Erzeugung zu einer Frage der Gegenwartspolitik.“12
Diesen Aussagen konnten Betriebsräte und ArbeiterInnen nur zustimmen, allerdings wurde hier bewusst Vergesellschaftung mit Verstaatlichung verwechselt, denn wie Friedrich Engels schreibt: „Das ist ja gerade der wunde Punkt, dass, solange die besitzenden Klassen am Ruder bleiben, jede Verstaatlichung nicht eine Abschaffung, sondern nur eine Formveränderung der Ausbeutung ist.“ Der Führung des ÖGB war dies durchaus klar und die ÖVP hatte im Grunde nichts gegen die Verstaatlichung von Grundstoffindustrie oder Transport- und Nachrichtenwesen, die erst aufgebaut werden mussten. Die Bourgeoisie profitierte schließlich davon, dass die Mittel zum Wiederaufbau vom Staat aufgebracht wurden und die Produkte billig für andere Industriezweige zur Verfügung gestellt wurden.

Genauso wurde der Marshallplan13 vom ÖGB begrüßt. Obwohl er nicht den ArbeiterInnen zugute kam – die Unterstützung erfolgte in Sachgütern, die verkauft und deren
Einnahmen für die Förderung der Privatwirtschaft verwendet wurden – wurde er als Erfolg der Klassenzusammenarbeit gewertet.

Eine weitere große Enttäuschung war das Betriebsrätegesetz, das die Mitbestimmung der ArbeiterInnen in den Betrieben regeln sollte. Die starke Position von Betriebsräten, die sich bald nach Kriegsende gründeten, wurde mit dem Gesetz ausgehebelt. Z.B. wurde das Mitspracherecht bei Einstellung und Entlassung auf eine „Informationspflicht“ seitens des Unternehmers reduziert. Ebenso wurden Klauseln eingefügt, die es ermöglichten, gewählte Betriebsräte zu entlassen. Das Betriebsrätegesetz war somit ein einziges Zugeständnis an die Unternehmer.

Die Gewerkschaftsführung hingegen verkaufte all das als Etappensiege und verteidigte die Strategie sozialpartnerschaftlichen Konfliktmanagements. Am Gewerkschaftskongress 1948 wurde betont: „Alle bisher erflossenen Gesetze wurden ausschließlich mit den Mitteln der
Verhandlungsmethode erreicht, kein einziger Streiktag musste dafür angewendet werden. Allerdings gibt es Kollegen unter uns, die gerne sehen würden, wenn man auf den
Verhandlungsweg verzichten und bei jedem Anlass zum letzten Mittel, zum Streik, greifen würde. Dieser Forderung ist der Gewerkschaftsbund nicht nachgekommen… Er hat es verstanden, ohne die Mitglieder jede Woche in einen anderen Streik zu führen, soziale Gesetze zu erwirken, die mindestens so gut sind wie in jenen Ländern, in denen die Streikparolen immer wieder verwirklicht wurden.“

Die Politik der SPÖ wurde in den Gewerkschaften rigoros umgesetzt und dafür institutionelle Vorraussetzungen geschaffen. Der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter gehört jedes Gewerkschaftsmitglied an, das auch gleichzeitig SPÖ-Mitglied ist. Diese Fraktion hatte großes Gewicht bei den Entscheidungen und durch die Fraktionsdisziplin wurden radikale Beschlüsse, die nicht im Sinne der Sozialpartnerschaft waren, verhindert.

Der Widerstand gegen die Sozialpartnerschaft fand mit dem Oktoberstreik 1950 ein vorläufiges Ende. Es war das letzte große Aufbäumen gegen die sozialpartnerschaftliche Regulierung des Klassenkampfs. Die tatsächliche Institutionalisierung der „Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft“
erfolgte – nach der vorübergehenden Auflösung der Akkordierung im Bereich der Lohn- und Preispolitik nach Abschluss der Wiederaufbauphase – zwar erst in den späten 50er und frühen 60er Jahren, als die partnerschaftliche Zusammenarbeit für die Unternehmer wegen der Verdichtung der wirtschaftlichen Probleme (Inflationstendenzen, anstehende wirtschaftliche Integration in Europa, Anzeichen einer Wachstumsschwäche, Arbeitskräfteknappheit und
gestiegener Lohndruck) wieder interessant wurde – die Weichen dafür wurden aber bereits in den ersten Jahren der Zweiten Republik gelegt. In den folgenden Jahr-zehnten wurden Konflikte erfolgreich „von der Straße, den Versammlungssälen, den Betrieben in die Verhandlungs-
zimmer und Konferenzsäle verlegt.“14

Klassenzusammenarbeit oder Sozialpartnerschaft – es ist wichtig zu erkennen, dass eine solche Partnerschaft nicht bedeutet, dass es faire „Zusammenarbeit“ gibt, wo jede Seite zufrieden ist mit den jeweiligen Zugeständnissen. In einer solchen Partnerschaft sind die ArbeiterInnen immer die Benachteiligten.

Wege aus der Sozialpartnerschaft

Der ÖGB heute hat seinen Ursprung in den Jahren nach 1945. Das Selbstverständnis, über die Institutionalisierung der Sozialpartnerschaft ein geeignetes Mittel gefunden zu haben, das Vorteile für beide Seiten – Unternehmer und ArbeiterInnen – bringt, ist bis jetzt erhalten geblieben. Das Wirtschaftswachstum mit seinen Spielräumen für soziale Reformen in den 50er und 60er Jahren verstärkte diese Position. Bundeskanzler Kreisky meinte noch auf dem SPÖ-Parteitag 1976, „dass vor allem durch das Wirken sozialdemokratischer Sozialminister der österreichische Wohlfahrtsstaat in den siebziger Jahren weitgehend seiner Vollendung entgegen geführt worden sei“.15

Mit den 80ern jedoch wuchs der ökonomische Druck fallender Profitraten auch in Österreich – die darauf folgenden Umstrukturierungen, stückweise Abbau des Sozialstaates, steigende Arbeitslosigkeit und Erhöhung der Armut spielten sich größtenteils unter einer Rot-Schwarzen Koalition ab. Der ÖGB setzte dieser Entwicklung nichts entgegen – der bürokratische Apparat war überall verankert, träge geworden und konnte sich immer noch auf den gut organisierten Teil der ArbeiterInnenklasse in den zum Teil immer noch verstaatlichten Großbetrieben stützen. Die veränderte Situation weltweit, die Durchsetzung des Neoliberalismus und damit einhergehende Veränderungen in der Arbeitswelt (flexible Arbeitszeitmodelle, Teilzeitbeschäftigung) und der Abbau des Wohlfahrtstaates, konnte eine zeitlang systematisch ignoriert werden. Die Quittung gab es 1999 bei Nationalratswahlen, als etliche von der Rot-Schwarzen Politik Enttäuschte die FPÖ wählten und die darauf folgenden Koalitions-
verhandlungen der SPÖ klarmachten, dass sie nicht mehr in der Regierung gebraucht wird. Die Klasseninteressen der österreichischen Bourgeoisie waren nun mit einer rechts-
konservativen Regierung wesentlich besser durchzusetzen. Heute dienen die Überreste sozialpartnerschaftlichen Konfliktmanagements eigentlich nur mehr dazu, den Lebensstandard der ArbeiterInnen „geordnet“ zu senken.

Trotz allem, was in den letzten Jahren an offensiven Kürzungen im Pensions- und Bildungsbereich durchgeführt wurde und trotz der offensichtlichen Krise der Gewerkschaft nach dem BAWAG-Finanzskandal wird von Teilen der Gewerkschaftsführung immer noch die Sozialpartnerschaft herbeigeredet. Selbst die GPA, die sich noch am ehesten für die Interessensvertretung von prekär Angestellten interessiert und versucht, neue Wege zu gehen, argumentiert für die Sozialpartnerschaft. In der Juni-Ausgabe 2006 ihrer Zeitschrift “Kompetenz” darf sogar die Präsidentin der Wirtschaftskammer Österreichs, Brigitte Jank, die Sozialpartnerschaft feiern.

Es wäre aber falsch, sich resignierend abzuwenden. In den letzten Jahren gab es auch Ansätze und Versuche, innerhalb der Gewerkschaften etwas zu verändern. 2002 mobilisierten Gewerkschaften gemeinsam mit der globalisierungskritischen Bewegung zum ersten Europäischen Sozialforum nach Florenz. 500 AktivistInnen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen und Hintergründen fuhren gemeinsam im Sonderzug der EisenbahngewerkschafterInnen nach
Florenz – ein inspirierendes Zusammenkommen. 2003 schürten der Streik gegen die Pensionsreform und der Streik der EisenbahnerInnen neue Hoffnung, dass es möglich ist, sich gegen die Demütigungen und Erniedrigungen der rechtskonservativen Regierung erfolgreich zu wehren. Die Hoffnungen wurden enttäuscht, denn jahrzehntelang geübte Praxis der Sozialpartnerschaft lassen sich nicht so einfach über Bord werfen.

Veränderungen in der Gewerkschaftsarbeit sind deshalb notwendig. Der einzige Ausweg aus dem Dilemma ist, sich endlich von der Illusion einer „freundschaftlichen Packelei“ zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten zu lösen – kämpfen statt verhandeln ist angesagt! Eng damit verknüpft ist die Frage der Demokratisierung der Gewerkschaften. Wohin es führt, wenn Entscheidungen nur in den Führungsgremien gefällt werden – ohne Kontrollmöglichkeiten – zeigt der Fall Verzetnitsch.16 Es müssen Strukturen geschaffen werden, in denen die Gewerkschaftsmitglieder selbst Beschlüsse fassen können, an die die Gewerkschaftsführung gebunden ist und an denen ihre Arbeit gemessen werden kann.

Anmerkungen

1 Franz Danimann, Hugo Pepper (Hg.): Österreich im April ’45. Die ersten Schritte der Zweiten Republik. Wien: Europaverlag 1985.

2 Tätigkeitsbericht des ÖGB 1945-47; zit. in: Hans Prader: Die Angst der Gewerkschaften vor’m Klassenkampf. Der ÖGB und die Weichenstellung 1945-1950. Wien 1975.
3 Klaus-Dieter Mulley: Der Österreichische Gewerkschaftsbund 1945-1959; in: Wolfgang Maderthaner (Hg.): Auf dem Weg zur Macht. Integration in den Staat, Sozialpartnerschaft und Regierungspartei. Wien: Löcker Verlag 1992. pp73-105, hier: p76.
4 Emmerich Tálos: Sozialpolitik und Arbeiterschaft 1945 bis 1950; in: Michael Ludwig/ Klaus Dieter Mulley/ Robert Streibel: Der Oktoberstreik 1950. Ein Wendepunkt der Zweiten Republik. Wien: Picus 21995. pp25-40, hier: p36.
5 Arbeit und Wirtschaft (ÖGB/AK-Zeitschrift)
6 Zit. in: Klaus-Dieter Mulley: a.a.O. p81.
7 ÖGB-Vorsitzender Böhm prägte dafür das Bild der „Astgemeinschaft“: „Der wirtschaftliche Zusammenbruch, den der Krieg mit sich gebracht hat, die so weitgehende Entgüterung unseres Landes hat uns wohl beiden [Interessensvertretungen der UnternehmerInnen und der ArbeiterInnen] gezeigt, dass wir, mögen wir noch so viele Differenzen miteinander haben, zum Teil vielleicht auch eingebildete, doch auf einem Ast sitzen, von dem wir beide – wenn einer von uns ihn durchsägt – herunterfallen müssen.“
8 Hans Prader: Probleme kooperativer Gewerkschaftspolitik; zit. in: Klaus-Dieter Mulley: a.a.O. p74.
9 Klaus-Dieter Mulley: Der ÖGB und der „Oktoberstreik“ 1950. Aspekte gewerkschaftlicher Politik im Nachkriegs-Österreich; in: Michael Ludwig et al.: a.a.O. pp41-52, hier: p44.
10 Solidarität, Mai 1947, Nr. 32; zit. in: Hans Prader: Die Angst der Gewerkschaften vor’m Klassenkampf. Wien 1975.
11 Hans Prader: Die Angst der Gewerkschaften vor’m Klassenkampf. p10.
12 Zit. in: Geschichte der österreichischen ArbeiterInnenbewegung. p93 (Broschüre)
13 Der Marshallplan, offiziell European Recovery Program (ERP) war das wichtigste wirtschaftliche Wiederaufbauprogramm der USA, das nach dem Zweiten Weltkrieg dem zerstörten Westeuropa zugute kam. Mit dem Marshallplan sollte der Einfluss der Sowjetunion eingedämmt und Absatzmärkte für die amerikanische Überproduktion aufgebaut werden.
14 Fritz Klenner, ÖGB-Zentralsekretär und ÖGB-Haus-und-Hof-Historiker.
15 Emmerich Tálos (Hg.): Der geforderte Wohlfahrtsstaat. Traditionen – Herausforderungen – Perspektiven. Wien: Löcker Verlag 1992.
16 Fritz Verzetnitsch, ehemaliger Vorsitzender des ÖGB. Musste 2006 zurücktreten, weil er den Streikfond des ÖGB für dubiose Finanzgeschäfte verpfändete.





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