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Israels permanenter Krieg
von Benjamin Opratko

Israels Krieg gegen den Libanon war nur ein Ausschnitt des Konflikts, der seit 60 Jahren den Nahen Osten in Blut ertränkt. Benjamin Opratko analysiert die Strategien hinter Israels Rhetorik der „Selbstverteidigung“ und verfolgt die Frontlinien dieses permanenten Kriegs.

In der deutschen Ausgabe seines Standardwerks zum Nahost-Konflikts schreibt Noam Chomsky, er stehe oft vor dem Problem, Titel oder Thema für seine Vorträge schon Jahre vorher benennen zu müssen. „Eins kann man, wie ich gemerkt habe, mit Sicherheit immer angeben: ‚Die gegenwärtige Krise im Nahen Osten.’ Wie sich diese Krise entwickeln wird, lässt sich nicht genau sagen, aber dass es sie geben wird, unterliegt keinem Zweifel“.1 So zynisch diese Feststellung scheinen mag, so brutal wurde uns ihre Richtigkeit in den letzten Monaten vor Augen geführt. Mit dem Angriff auf den Libanon, der mehr als Tausend tote LibanesInnen – der größte Teil davon ZivilistInnen – forderte und das halbe Land in Schutt und Asche legte, ist der seit bald sechzig Jahren ungelöste Konflikt zwischen Israel und den AraberInnen wieder ins politische Rampenlicht gerückt. Doch während sich im weltweiten Medienzirkus in einer unüberschaubaren Zahl an Kommentaren, Reportagen, Leitartikeln, Talkshows, Interviews und Diskussionsforen jedeR sich berufen Fühlende über den jüngsten „Selbstverteidigungsakt“ Israels und seine Folgen auslassen durfte, traten die Stimmen jener, deren Gedächtnis weiter als bis zur Entführung zweier israelischer Soldaten durch die Hisbollah zurück reichte, in den Hintergrund. Dass alles darauf hinweist, dass der Krieg gegen den Libanon kein spontaner Akt der Selbstverteidigung angesichts der Entführungen, sondern vielmehr eine lange vorbereitete Kampagne war, wird kaum erwähnt. Das weit verbreitet Bild, das Israels Operationen auf mehr oder wenige spontane Reaktionen auf überall lauernde, gar „existenzbedrohende“ äußere Gefahren reduziert, tut dabei nicht nur dem strategischen und politischen Geschick der Mächtigen in Israel Unrecht, sondern verhindert auch eine halbwegs angemessene Analyse des gesamten Konflikts.

Das Ende eines Mythos

Wie auch immer sich die Situation im Libanon weiter entwickelt, so kann doch nun, da zumindest vorläufig die Waffen schweigen, ein erstes Resümee des israelischen Kriegs gegen den Libanon gezogen werden. Die wichtigste Erkenntnis ist: Israel hat den Krieg verloren. Nach einem Monat israelischer Angriffe gelang es zwar, den Libanon „um 20 Jahre zurück zu bomben“, wie es der Chef der Luftwaffe und oberste militärische Verantwortliche, Dan Halutz, formulierte. Das eigentliche Ziel der israelischen Armee war jedoch, die Hisbollah zu vernichten – und das ist ordentlich schief gegangen. Die Zustimmung zur Waffenruhe und der Rückzug der israelischen Truppen aus weiten Teilen Libanons wurde Israel von der äußerst effektiv und erfolgreich kämpfenden Hisbollah aufgezwungen. Die libanesische Guerilla hat gegen die am besten ausgerüstete und ausgebildete Armee der Region gewonnen. Das war nur möglich, weil die Hisbollah massenhafte Unterstützung aus der libanesischen Bevölkerung erhalten hat, über alle konfessionellen Grenzen hinweg – eine bemerkenswerte Leistung in einem Land, das vor nicht allzu langer Zeit noch vom Bürgerkrieg zerrissen war. Was die Rhetorik der Kriegstreiber in Israel und anderswo gerne verschweigt, ist, dass Hisbollah keineswegs eine terroristische Organisation nach dem Vorbild Al-Qaidas ist. Sie entstand als Reaktion auf den israelischen Krieg von 1982 und die folgende Besetzung des Libanon durch israelische Truppen. In den Jahren nach 1982 entwickelte sich die Hisbollah von einer kleinen schiitischen Guerillatruppe mit Stützpunkten im Süden Libanons, den armen Vororten Beiruts und dem Bekaa-Tal, zur wichtigsten politischen, sozialen und militärischen Kraft im Libanon. Als karitative Organisation betreibt sie auch für verarmte Menschen leistbare Schulen, Kindergärten, Kranken- und Waisenhäuser. Ihre Verankerung in der libanesischen Gesellschaft zeigt auch, dass Hisbollah und Verbündete das größte einzelne Kontingent im libanesischen Parlament stellen.

Das Ergebnis des israelischen Kriegs ist ein Desaster für die israelische Regierung. Die Hisbollah ist politisch stärker als je zuvor – mehr noch als im Jahr 2000, als die israelische Armee sich wegen des anhaltenden Widerstands der Hisbollah aus dem größten Teil der seit 1982 besetzten Gebiete im Süd-Libanon zurückzog, wird die Organisation als Befreierin des Libanon gefeiert. Die Niederlage ist aber nicht nur von regional-strategischer Bedeutung – sie zerstört auch den seit 1948 existierenden Mythos von der Unbesiegbarkeit Israels. Seit dessen Gründung hat die IDF jede Auseinandersetzung mit ihren arabischen Feinden gewonnen. Besonders der Krieg von 1967 hat der israelischen Armee diesen Nimbus verliehen. Er heißt aus gutem Grund Sechs-Tage-Krieg, nach nicht einmal einer Woche waren die Armeen des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser vernichtend geschlagen.

Die Konstante der israelischen Strategie war stets die mili-
tärische Abschreckung. Seitdem der israelische Staat auf den Ruinen palästinensischer Dörfer und Städte aufgebaut wurde, setzten dessen verschiedene Regierungen, ob von der Arbeiterpartei oder dem rechten Likud-Block geführt, auf militärische Dominanz, um sich gegen die Ansprüche der vertriebenen Bevölkerung und ihrer arabischen Verbündeten durchzusetzen. Der Preis, den Israel dafür zahlen musste, war eine Existenz als Handlanger imperialistischer Großmächte. In den ersten Jahren war es Großbritannien, dessen Wohlwollen die Etablierung des Staates Israel erst ermöglicht hatte2, dann Frankreich, das Israel als Verbündeten gegen die Befreiungsbewegungen in den eigenen Kolonien nutzen wollte. Ab den 1960er Jahren entstand dann die bis heute andauernde „Special Relationship“ zwischen Israel und den sich als wichtigste imperiale Macht etablierenden USA. Im Juni 1966 erklärte ein Sprecher des israelischen Außenministers: „Die Vereinigten Staaten sind zu der Auffassung gelangt […], dass sie sich auf regionale Mächte und auf das Abschreckungspotential einer freundlichen Macht stützen müssen, um Amerikas direkte Beteiligung abzufangen. Israel ist der Meinung, dass es diesen Anforderungen entspricht“.3 Seitdem entwickelte sich aus dem „besonderen Verhältnis“ zwischen Israel und den USA ein strategisches Bündnis. Die israelische Strategie der militärischen Abschreckung wurde und wird durch massive militärische und finanzielle Unterstützung der USA ermöglicht. Im Jahr 2005 verkauften oder verschenkten die USA Waffen im Wert von rund 5,4 Milliarden US-Dollar an Israel – rund ein Drittel der gesamten US-Auslandshilfe.4 Das Wissen um einen sicheren Verbündeten im Nahen und Mittleren Osten ist der US-Politik dieser Aufwand wert.
Trotz dieser enormen militärischen Übermacht und obwohl die israelische Armee nicht zögerte, ihr gesamtes Arsenal an konventionellen Waffen gegen den Libanon einzusetzen (einschließlich der international verbotenen Cluster-Bomben), konnte der Krieg nicht gewonnen werden. Der ganzen Welt (und besonders der arabischen) wurde vor Augen geführt, dass Israel sich nicht mehr auf eine scheinbar allmächtige Armee verlassen kann, um seine Interessen in der Region durchzusetzen. Dass die Strategie der militärischen Abschreckung in eine Sackgasse geführt hat, ist die tatsächliche Zäsur des Sommer 2006.

Krieg an drei Fronten

Die israelische Politik lässt sich jedoch nicht allein auf die außenpolitische Dimension der militärischen Abschreckung reduzieren. Um vergangene und aktuelle Strategien des israelischen Staates verstehen zu können muss ein entscheidender historischer Aspekt in Betracht gezogen werden: Als kolonialer SiedlerInnenstaat durch die Vertreibung großer Teile der einheimischen Bevölkerung 1948 gegründet5, hatte Israel stets ein allen anderen Interessen übergeordnetes Ziel. Entsprechend dem politischen Programm des Zionismus soll der Staat in einer spezifischen Form aufrecht erhalten werden, in der Juden/Jüdinnen die Bevölkerungsmehrheit stellen, exklusive Privilegien genießen und der vertriebenen (arabischen) Bevölkerung historisches Recht verwehrt wird. Aus dieser Prämisse ergibt sich für Israel ein permanenter Krieg, der an drei Fronten geführt werden musste und bis heute geführt wird.
Die erste Front ist jene, die der jüngste Libanonkrieges ins Rampenleicht gestellt hat: Hier geht es um die Kriege gegen umliegende arabische Staaten, die – sei es auf Grund des Drucks aus der eigenen Bevölkerung, sei es um den Zorn unzufriedener Untertanen abzulenken – die palästinensische Bewegung unterstützen. Eine weitere Front verläuft quer durch den israelischen Staat selbst und betrifft die arabische Minderheit, die innerhalb der Grenzen Israels lebt; die dritte Front schließlich betrifft die 1967 besetzten Gebiete im Westjordanland und im Gaza-Streifen.

BürgerInnen dritter Klasse

Als die zionistischen SiedlerInnen 1948 den Staat Israel gründeten, wurden nicht alle PalästinenserInnen in die Flucht getrieben. Rund 150.000 von ihnen blieben innerhalb der „Grünen Linie“, die den neuen Staat nach dem Krieg von 1948/49 begrenzte. Diese „1948-PalästinenserInnen“ und ihre Nachkommen zählen heute rund eine Million oder 17 Prozent der israelischen Bevölkerung. Die Präsenz dieser großen arabischen Minderheit stellte die israelischen Eliten vor das Problem, wie der Staat mit ihr umgehen sollte. Einerseits verstand man sich als demokratischer Staat, der jedem/r BürgerIn volle Gleichheit unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit zugestehen sollte. Gleichzeitig war Israel jedoch nicht nur ein Staat von Juden/Jüdinnen, sondern ein exklusiv jüdischer Staat, der die seit Beginn des 20. Jahrhunderts durchgeführte Kolonisierung Palästinas konsolidieren und ausbauen sollte. Die praktische Lösung dieses Widerspruchs bedeutete, dass die meisten der 1948-PalästinenserInnen zwar die israelische Staatsbürgerschaft erhielten, ihnen durch eine Reihe politischer Maßnahmen jedoch viele Rechte, die diese Staatsbürgerschaft für Juden/Jüdinnen garantiert, verwehrt wurden.
Der erste und grundlegende Unterschied, den der israelische Staat zwischen jüdischen und nicht-jüdischen BürgerInnen macht, drückt sich im sogenannten „Rückkehrrecht“ aus. Dieses Gesetz besagt, dass Israel der Staat aller Jüdinnen und Juden weltweit ist; wenn ein Jude/eine Jüdin israelischen Boden betritt, wird er/sie automatisch israelischeR StaatsbürgerIn. Jenen Menschen, die durch die Staatsgründung 1948/49 flüchten mussten, wird dieses Recht jedoch verweigert. Die Definition Israels als exklusiv jüdischer Staat ist in den Gründungsdokumenten festgeschrieben. Endgültig formalisiert wurde diese Entscheidung mit einem Zusatz zum Wahlgesetz 1985, in dem Parteien und KandidatInnen von Wahlen ausgeschlossen werden, wenn sie „die Existenz des Staates Israel als den Staat des jüdischen Volkes“ nicht anerkennen.

Bis 1966 wurden israelische PalästinenserInnen durch eine separate Militäradministration „verwaltet“ – offiziell, um das „Sicherheitsrisiko“, das die palästinensische Bevöl-
kerung angeblich darstellte, zu minimieren. Tatsächlich hatte die Militäradministration jedoch zwei andere Haupt-ziele.6 Erstens sollte der Zugang arabischer Menschen zu Arbeitsplätzen verhindert oder reduziert werden. Schon vor der Staatsgründung war die „Eroberung durch Arbeit“ – d.h. die Vertreibung und Ausgrenzung arabischer Arbeitskräfte – ein zentrales Element der kolonialen Strategie des Zionismus. Das zweite Ziel war, den Transfer von Land, das noch in palästinensischen Händen verblieben war, zu staatlichen oder halb-staatlichen Organisationen zu sichern. Vor allem die Eroberung des Landes blieb auch nach der Aufhebung der Militärverwaltung eine zentrale Aufgabe des Staates. Bis heute wurden etwa zwei Drittel des Landes, das nach 1948 noch in Besitz von PalästinenserInnen mit israelischer Staatsbürgerschaft war, zu Gunsten des israelischen Staates enteignet. Waren vor der Staatsgründung 7 bis 8 Prozent des Landes in jüdischem Besitz, so kontrolliert oder besitzt der israelische Staat heute 93 Prozent des Landes innerhalb der „Grünen Linie“.7 Das offensichtlichste Beispiel für die bis heute andauernde rechtliche Diskriminierung ist, dass PalästinenserInnen mit israelischer Staatsbürgerschaft in rund 80 Prozent des Staatsgebiets kein Land kaufen oder pachten dürfen. Die Landfrage ist dabei nur eine von vielen Dimensionen dieser Politik der Ausgrenzung. Arabische Gemeinden bekommen deutlich geringere staatliche Budgets, im seit 1953 getrennten Schulsystem sind palästinensische Schulen weit schlechter ausgestattet, und eine Reihe von Sozialleistungen werden PalästinenserInnen mit israelischer
Staatsbürgerschaft vorenthalten.8 Das Ergebnis ist, dass in allen sozio-ökonomischen Parametern wie Haushaltseinkommen, Ausbildungsstatus, beruflicher Status, Alphabetisierung oder Kindersterblichkeit PalästinenserInnen deutlich schlechter gestellt sind als ihre jüdischen MitbürgerInnen.

Der israelische Soziologe Oren Yiftachel bezeichnet diese Form des Staates als „Ethnokratie“ – eine Staatsform, die zwar formal demokratisch organisiert ist, einen signifikanten Teil der BürgerInnen jedoch systematisch von Rechten ausschließt und diskriminiert.9 Die Strategie der systematischen Unterdrückung und Ausgrenzung der arabischen Bevölkerung in der so genannten „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ wurde seit der Staatsgründung in verschiedenen Varianten und in unterschiedlicher Intensität angewendet. In den letzten Jahren wurde etwa unter dem Schlagwort der „demographischen Zeitbombe“ auf die „Gefahr“ hingewiesen, dass die hohen Geburtenraten von PalästinenserInnen mit israelischer Staatsbürgerschaft die jüdische
Mehrheit in Israel bedrohen würden. Eine der Reaktionen der Regierung war, die Familienzusammenführung von PalästinenserInnen in Israel zu verbieten, die bis dahin enge Verwandte aus den besetzten Gebieten zu sich holen konn-ten.10 Dass diese und ähnliche diskriminierende Maßnahmen den grundlegenden Widerspruch der „Ethnokratie“ Israels nicht lösen können, scheint offensichtlich. Doch Israels Krieg an der „stillen Front“ des permanenten Kriegs gegen die palästinensische Bevölkerung dauert weiter an.

Das Post-67-Dilemma

Als Israel nach dem vernichtenden Sieg gegen die arabischen Armeen im Juni 1967 auch den in arabischen Händen verbliebenen Rest des historischen Palästinas besetzte, trat das Dilemma der „Ethnokratie“ in einem neuen, noch größeren Maßstab zu Tage. Die IDF hatte innerhalb von sechs Tagen das Westjordanland und den Gaza-Streifen, die bis dahin von Jordanien bzw. Ägypten verwaltet worden waren, unter israelische Kontrolle gebracht – und damit fast eine Million PalästinenserInnen11. Eine vollständige Annexion der besetzten Gebiete, und damit die Erreichung des lange propagierten Ziels eines „Groß-Israel“ vom Mittelmeer bis zum Jordan, war dadurch kaum möglich. Eine „ethnische Säuberung“, wie sie von manchen Politikern der Rechten gefordert wurde, stieß auf Ablehnung. Hätte man der palästinensischen Bevölkerung, wie es 1948 praktiziert wurde, die israelische Staatsbürgerschaft verliehen, wäre die jüdische Mehrheit im Staat Israel in Gefahr gewesen.
In den strategischen Debatten, die auf den gewonnenen Krieg folgten, setzte sich zunächst ein Plan durch, der vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Ygal Allon vorgestellt wurde. Allon, ein Veteran der regierenden Arbeiterpartei und prominenter General, erklärte angesichts des „Post-67-Dilemmas“: „Wenn es notwendig ist, zwischen einem de facto binationalem Staat mit größerem Territorium und einem jüdischen Staat mit kleinerem Territorium zu entscheiden, plädiere ich für die zweite Variante, vorausgesetzt, er hat Grenzen, die verteidigt werden können“.12 Das bedeutete freilich nicht, ganz auf die Besiedelung der besetzten Gebiete zu verzichten. Im Gegenteil sollte dies geplant und konzentriert passieren, um die politischen Prämissen des Zionismus nicht zu gefährden. Durch die strategische Besiedelung eines Streifens entlang des Jordantals sollte eine Grenze geschaffen werden, die, gemeinsam mit der Annexion Ost-Jerusalems und seiner östlichen Vororte, das palästinensische Gebiet in zwei Hälften teilen würde. Gleichzeitig sollte auf die Besiedelung jener Gebiete, die dicht von PalästinenserInnen bevölkert sind, verzichtet werden. Diese Teile des Westjordanlands könnten etwa an Jordanien zurückgegeben werden. Die Vorteile dieser Strategie lagen auf der Hand, meinte Allon: „Diese defensive Anordnung könnte einer modernen Armee standhalten. Sie ist dazu geeignet, das Land zu schützen, nicht nur vor seinen direkten Nachbarn, sondern auch vor der gesamten Region im Osten (…). Sie schafft auch ein Hinterland, das Jerusalem und seine Umgebung vor den Gefahren des Guerillakriegs schützen, und gibt uns die Möglichkeit der Besiedelungen in halbverlassenen Gebieten. Ich füge hinzu, dass die Territorien, die wir zurückgeben, demilitarisiert sein werden, und dass dadurch, dass wir uns an der Flanke der Bevölkerung des Westjordanlands aufstellen, wir in jedem Fall ihr offensives Potential neutralisieren“.13 Es war eine pragmatische Strategie, die ideologisch motivierte Groß-Israel-Phantasien hintan stellte, aber trotzdem die weitere Kolonisierung Palästinas zuließ und die PalästinenserInnen in leicht kontrollierbaren Enklaven einschloss.

Dass dieser Plan nie in vollem Umfang umgesetzt und schließlich gänzlich aufgegeben wurde, hängt maßgeblich mit politischen Umbrüchen in Israel zusammen. Anfang der 1970er Jahre verlor der Block um die Arbeiterpartei, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts die hegemoniale Kraft im Yishuv (der Gemeinschaft der zionistischen SiedlerInnen in Palästina) und später in Israel war, zunehmend an Einfluss. Die Ideologie der traditionellen Eliten, durch niemanden klarer verkörpert als den israelischen Übervater David Ben Gurion, war für die neue, in Israel geborene Generation nicht mehr attraktiv. Diese ideologische und politische Leerstelle wurde vom Lager der Nationalreligiösen besetzt, die einen radikalen religiösen Messianismus mit kompromisslosen anti-arabischen Positionen der zionistischen Rechten verbanden. Besonders für die von den Eliten des „Arbei-terzionismus“ stets verachteten „Mizrahim“ (Juden/Jüdinnen aus arabischen oder muslimischen Ländern) waren die Nationalreligiösen ein Anlaufpunkt. Mit der Gründung des „Gush Emunim“ („Block der Getreuen“) 1974 und der Übernahme der Regierung durch den rechten Likud-Block 1977 wurden alle strategischen Beschränkungen hinsichtlich der Besiedelung in den besetzten Gebieten hinfällig. Die radikale SiedlerInnenbewegung, für die ganz „Erez Israel“ von AraberInnen „befreit“ werden muss, konnte seither erfolgreich ein Netz von Siedlungen aufbauen, das sich durch das gesamte Westjordanland erstreckt. Der Likud versuchte zudem seit Beginn der 1980er Jahre, weitere jüdische Israelis zur Besiedelung der besetzten Gebiete zu bewegen, indem unterprivilegierten Familien massive finanzielle Anreize versprochen wurden. Der unter Menachem Begin 1981 vorgestellte „Einhunderttausend-Plan“ war der erste konzertierte Versuch, die demographischen Verhältnisse in den besetzten Gebieten zu Gunsten der Juden/Jüdinnen zu verschieben. Indem „hochwertige Häuser mit Land zu niedrigen Preisen“ garantiert wurden, sollte die jüdische Bevölkerung im Westjordanland verfünffacht werden.14 Die Kombination der Besiedelungsstrategien – „Sicherheitspuffer“ entlang des Jordantals, Ausnutzen und Anheizen von religiösem Fanatismus, finanzielle Anreize – wurde seither von allen
Regierungen, ob von Likud oder der Arbeiterpartei geführt, mit unterschiedlicher Gewichtung durchgeführt. Sie hat es Israel ermöglicht, die Kontrolle über 42 Prozent des gesamten Westjordanlands zu erhalten.15

„Friedensprozess“ und Rückzug

Nachdem die palästinensische Wut über die unerträglichen Lebensbedingungen in den besetzten Gebieten sich in den Aufständen von 1987, der Intifada, entladen hatte, wurde auch einigen israelischen Strategen klar, dass der Status Quo nicht mehr ohne weiteres aufrechterhalten werden konnte. Die gegenseitige Anerkennung von Israel und PLO und erste zaghafte Friedensbemühungen im Rahmen der Madrider Konferenz 1991 ließen viele vermuten, dass die israelische Führung tatsächlich die Kolonisierung Palästinas gegen Frieden eintauschen könnte. Als dann der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin und Yassir Arafat Hände schüttelnd auf dem Rasen vor dem Weißen Haus standen, schienen sich diese Hoffnungen zu erfüllen. Heute, 13 Jahre nach dem Osloer Abkommen, ist all das in weite Ferne gerückt. Während Israels Regierung sich offiziell zum so genannten Friedensprozess bekannte, setzte sie ihre Strategie der Besiedelung unvermindert fort. Zwischen 1993, als die „Grundsatzerklärung“ des Friedensabkommens unterzeichnet wurde, und dem Ausbruch der zweiten Intifada 2000, stieg die Zahl der SiedlerInnen in den besetzten palästinensischen Gebieten von 116.400 auf 195.000 an. Das Ziel war offensichtlich, Fakten zu schaffen, die auch ein Abkommen mit der PLO nicht mehr rückgängig machen konnten.
Dementsprechend gestaltete sich das „Interimsabkommen“ von 1995, das aus dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen einen palästinensischen „Fleckerlteppich“ machte. Die neu gegründete Palästinensische Autonomiebehörde (PA) kontrollierte danach ganze 3,5 Prozent der Territorien („Zone A“), weitere 420 Kleinstädte und Dörfer durften zwar von der PA zivil verwaltet werden, die übergreifende Verantwortung und Sicherheit verblieb jedoch bei Israel („Zone B“). Im restlichen Teil des Westjordanlands – die 73 Prozent des Landes umfassende „Zone C“ – blieb alles, wie es war.16 Alle wirklich kritischen Punkte – die jüdischen Siedlungen, der Status Jerusalems, das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge – wurden auf spätere Verhandlungen verschoben, die nie stattfanden. Dass auf dieser Basis – die seither die Grundlage aller „Friedenspläne“, nicht zuletzt George W. Bushs „Roadmap“, war – keine friedliche Lösung zustande kommen konnte, verwundert nicht. Der israelische Politikwissenschafter Ilan Pappé brachte es auf den Punkt: „Eine Heimat nach dem Konflikt kann nicht auf der Grundlage geschaffen werden, dass die gemeinsame vorgestellte Heimat auf die denkbar unfairste Art geteilt wird: 78 Prozent ein jüdischer Staat und 22 Prozent eine Art palästinensisches Protektorat. Dies ist als Lösung noch weniger denkbar, wenn das Angebot auf der internationalen Agenda sogar die 22 Prozent weiter aufteilt“.17 Der Aufschrei der palästinensischen Bevölkerung, die sich dagegen wehrten, wie ihre Führung sich von Israel über den (Verhandlungs-)Tisch ziehen ließ, war die zweite Intifada von 2000.

Profitieren konnte von dieser Situation die israelische Rechte. Ariel Sharon, der 1983 wegen seiner Beteiligung am Massaker von Sabra und Shatila als Verteidigungsminister zurücktreten hatte müssen, wurde als Vorsitzender des Likud 2001 Regierungschef. Anfangs noch ein Verfechter der klassischen radikal-rechten, kompromisslosen Positionen der Siedlerbewegung, setzte er 2003 einen entscheidenden strategischen Schwenk in der israelischen Führung durch. Seine Entscheidung, die israelische Armee aus dem Gaza-Streifen abzuziehen und die dortigen Siedlungen aufzulösen, überraschte nicht nur die israelischen Eliten, sondern BeobachterInnen in aller Welt. Seither ist sein Werdegang vom „Falken“ zur „Friedenstaube“ Teil der internationalen Nahost-Folklore. Als er zu Beginn dieses Jahres ins Koma fiel, ließen die politischen Nachrufe vermuten, der von uns Scheidende wäre als historische Persönlichkeit zwischen Mutter Teresa und Mahatma Gandhi anzusiedeln. Tatsächlich könnte dieses Urteil über ihn und seinen Nachfolger und langjährigen Vertrauten, Ehud Olmert, falscher nicht sein. Eine genauerer Blick zeigt, dass Sharon und die Politik, für die er in seinen letzten Jahren gestanden hat, sowohl einen Bruch, als auch eine Kontinuität israelischer Strategien bedeutet. Tatsächlich hat sich Sharon von der kompromisslosen Strategie der radikalen Rechten verabschiedet, die erbittert um jeden Quadratzentimeter heilige Wüste kämpft. Der hochdekorierte General hat erkannt, dass das von Allon formulierte Dilemma noch immer nicht gelöst ist. Es musste eine Balance gefunden werden zwischen einem territorial möglichst großen Staat Israel, der gleichzeitig seinen exklusiv jüdischen Charakter behält. Der Gaza-Streifen war ein kleiner Preis, der für diese Balance zu zahlen war: Von insgesamt 241.000 SiedlerInnen in den besetzten Gebieten lebten bis zum Abzug 2004 ganze 8.195 oder 3,5 Prozent im Gaza-Streifen.18 Was die israelische Regierung dafür erhält, ist trotz des Rückzugs maximale Kontrolle über das Territorium bei gleichzeitig minimaler Verantwortung für dessen nicht-jüdische Bevölkerung. Der Autor Darryl Li beschreibt den Gaza-Streifen nach dem Abzug als „Laboratorium“ für israelische Kontrolltechniken. Durch Ausgangssperren, Zerstörung von Infrastruktur, die Überwachung des Luftraums und gezielte Tötungen oder Verhaftungen palästinensischer PolitikerInnen und AktivistInnen19 wird der Gazastreifen zum größten Freiluftgefängnis der Welt gemacht. Die Massenunterstützung für die Hamas und ihre militärischen Operationen in Gaza erklärt sich nicht zuletzt aus der verheerenden humanitären Lage in Israels “Laboratorium”.
Gleichzeitig wurde die Siedlungstätigkeit im Westjordanland verstärkt, so dass die gesamte Zahl der SiedlerInnen sich seit dem „Rückzug“ aus dem Gazastreifen sogar noch erhöht hat. Die Strategie ähnelt dem Allon-Plan von 1967: Durch die gezielte Förderung von Siedlungen in strategisch wichtigen Gebieten und die Aufgabe kleinerer, unwichtiger Stellungen wird versucht, das palästinensische Land in kleine Fragmente aufzuteilen. Palästinensische Bantustans sind die Folge, die komplett von israelischer Infrastruktur abhängig sind. Die von Sharon in Auftrag gegebene und täglich weiter gebaute Mauer, die sich quer durch palästinensisches Gebiet zieht und mehrere große Siedlungsblöcke de facto an Israel annektiert, ist ein wichtiges Element dieser Strategie. Die Kolonialisierung Palästinas setzt sich damit weiter fort.

Einfach, aber schwer

Die Aussicht auf einen gerechten Frieden ist heute düster. Was die Analyse der Strategien Israels in seinem permanen-ten Kriegs zeigt, ist dass alle drei Fronten dieses Konflikts untrennbar miteinander verwoben sind. Solange Israel an der obersten Maxime der zionistischen Bewegung festhält – der Aufrechterhaltung einer exklusiv jüdischen „Ethnokratie“ – sind Bemühungen zu einem dauerhaften Frieden wohl zum Scheitern verurteilt. Dass die palästinensische Bevölkerung einem faulen Kompromiss nicht leicht zustimmen wird, hat sie mit der Wahl der Hamas, die sich als kompromisslose Alternative zur korrupten und opportunistischen Fatah-Elite dargestellt hat, einmal mehr gezeigt. Eine Lösung des Konflikts ist das, was Brecht einst über den Kommunismus gedichtet hat: Das Einfache, das schwer zu machen ist. Das heißt in diesem Falle, ein gemeinsamer, demokratischer Staat all seiner BürgerInnen, der sich von seiner kolonialistischen Vergangenheit und Gegenwart lossagt und sich nicht mehr als Kettenhund der USA missbrauchen lässt. Solange dieser – heute wohl noch in weiter Ferne liegende – Weg nicht gemeinsam beschritten wird, muss befürchtet werden, dass Noam Chomskys Spruch seine Gültigkeit behalten und der Angriff auf den Libanon im Sommer 2006 nicht der letzte israelische Angriffskrieg bleiben wird.

Anmerkungen

1 Chomsky, Noam 2002: Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und die US-Politik, Hamburg: Europa Verlag. p11.
2 Großbritannien war nach dem Ersten Weltkrieg Mandatsmacht in Palästina und unterstützte das zionistische Projekt der Kolonisierung Palästinas seit der berühmten „Balfour-Erklärung“ von 1917.
3 zit. nach Aruri, Naseer H. 2003: Dishonest Broker. The U.S. Role in Israel and Palestine, Cambridge: South End Press. p19.
4 Berrigan, Frida/Hartung, William D. (2006) Who’s arming Israel?, in: Foreign Policy In Focus, 26. Juli 2006, http://www.fpif.org/fpiftxt/3387
5 Die ausführlichste Aufarbeitung der Vertreibung und teilweise Ermordung der PalästinenserInnen im „Unabhängigkeitskrieg“ liegt mit Benny Morris’ Standardwerk „The Birth of the Palestinian Refugee Problem“ vor, das auf in den 1980er Jahren erstmals zugänglichem, reichhaltigen Archivmaterial beruht (Morris, Benny 2004: The Birth of the Palestinian Refugee Problem Revisited, Cambridge: Cambridge University Press).
6 Shafir, Gershon, Yoav Peled 2002: Being Israeli. The Dynamics of Multiple Citizenship, Cambridge: Cambridge University Press. p112.
7 Yiftachel, Oren 1999: „Ethnocracy“: The Politics of Judaizing Israel/Palestine, in: Constellations, Volume 6, 3/1999, pp364-391, http://www.geog.bgu.ac.il/members/yiftachel/new_papers_eng/Constellations-print.htm

8 Shafir/Peled: a.a.O. pp110–136. Dies meist dadurch, dass PalästinenserInnen der Zugang zum israelischen Militär verwehrt ist. Viele Sozialleistungen sind jedoch an die Ableistung des Wehrdienstes, der für alle jüdischen Israelis (Männer wie Frauen) verpflichtend ist, geknüpft (ebd. p126).
9 Yiftachel, Oren 1998: Democracy or Ethnocracy: Territory and Settler Politics in Israel/Palestine, in: Middle East Report, Nr 207, 2/1998, http://www.merip.org/mer/mer207/yift.htm
10 Peled, Yoav 2006: Zionist Realities. Debating Israel-Palestine, in: New Left Review, II/38: pp21-36.
11 Laut der ersten israelischen Zählung vom Dezember 1967 waren es 604.494 PalästinenserInnen im Westjordanland und 380.800 im Gaza-Streifen (http://www.palestinecenter.org/cpap/stats/dist_pop_67.html).
12 zit. nach Achcar, Gilbert 2004: Eastern Cauldron. Islam, Afghanistan, Palestine and Iraq in a Marxist Mirror, London: Pluto Press. p211.
13 zit. nach ebd. p212.
14 Shafir/Peled: a.a.O. p172f.
15 B’Tselem, Israeli Information Center for Human Rights in the Occupid Territories 2006: Land Expropriation and Settlements, http://www.btselem.org/English/Settlements/
16 Watzal, Ludwig 2001: Bilanz und Kritik des Osloer „Friedensprozesses“, in: Edlinger, Fritz (Hg.): Befreiungskampf in Palästina. Von der Madrid-Konferenz zur Al-Aqsa-Intifada, Wien: Promedia, pp29-44. p 31.
17 Pappé, Ilan 2003: “The Post-Territorial Dimensions of a Future Homeland in Israel and Palestine”, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East, Volume 23, 1&2/2003: pp224 – 233. p232.
18 B’Tselem a.a.O.
19 Li, Darry 2006: “The Gaza Strip as Laboratory. Notes in the Wake of Disengagement”, in: Journal of Palestine Studies, XXXV/2, Winter 2006: pp38-55.





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