Rezension: Joachim Hirsch: Materialiastische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems, Hamburg: VSA-Verlag 2005, 18,30 €
Karl Marx konnte seine Staatstheorie niemals ausführlich darlegen. Anmerkungen zum Staat finden sich zwar viele, doch keine systematisch ausgereifte Darlegung einer Staatstheorie.
An diesem Punkt knüpft Joachim Hirsch mit seinem Buch an.
Ausgehend von der Marxschen Methodik und aufbauend auf der Forschungsarbeit von mehreren Jahrzehnten, entwirft Hirsch, Professor für Politikwissenschaft an der Goethe Universität Frankfurt, ein Bild des Staates, das weit über die klassischen Schemata von Basis und Überbau hinausreicht. Ein ambitioniertes Vorhaben, das sicherlich auf weiten Strecken des Buches gelingt.
Hirsch beginnt damit, die Aufgaben des Staates und seine “relative Autonomie“ gegenüber den Klassen zu erklären. Hirsch stellt die Frage, warum das Politische im Kapitalismus überhaupt eine von Ökonomie und Gesellschaft getrennte öffentliche Form annimmt, und nicht als privater Zwangsapparat der herrschenden Klassen organisiert ist. Die Antwort liegt in der Besonderheit der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise, die durch die Trennung der unmittelbaren ProduzentInnen von den Produktionsmitteln, Privatproduktion, Lohnarbeit und Warentausch charakterisiert ist. Ungehinderter Warentausch, Konkurrenz der PrivatproduzentInnen und ‚Freiheit’ der Lohnarbeit sind aber nur möglich, wenn die ökonomisch herrschende Klasse ihr Verhältnis untereinander und gegenüber der ArbeiterInnenklasse nicht auf unmittelbare, individuell angewendete Gewalt gründet. Die Aneignung des Mehrprodukts durch die ökonomisch herrschende Klasse findet nicht durch Zwang, sondern „über den scheinbar äquivalenten Warentausch einschließlich der Ware Arbeitskraft“ statt. (23) Die physischen Zwangsapparate müssen daher eine von allen gesellschaftlichen Klassen getrennte Institutionalisierung erfahren, eben in Gestalt des Staates. Seine Hauptaufgabe ist die Sicherung des Privateigentums an Produktionsmitteln als Voraussetzung der marktvermittelten Ausbeutung.
Die gleichzeitige Trennung und Verbindung zwischen Politik und Ökonomie ist damit selbst Produkt der materiellen Vergesellschaftungsweise im Kapitalismus. Die widersprüchliche Einheit von Wertgesetz und Politik ist nach Hirsch die grundlegende Form, in der sich „der Zusammenhang und die Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft ausdrückt und vollzieht.“
Über diese sehr allgemein gehaltenen Analysen hinaus geht es Hirsch im Besonderen um die Transformationen des Staates in den Phasen des „Fordismus“ – des “goldenen” Nachkriegszeitalters – und des „Postfordismus“ – des Kapitalismus nach den Krisen der 1970er Jahre. Die „integrale Ökonomie“, der Wettbewerbsstaat oder die Internationalisierung des Staates, der Imperialismus im postfordistischen Gewand oder die Probleme bürgerlich-demokratischer Verfasstheit sind Bereiche, die in dem Buch ausführlich behandelt werden. Marx, Gramsci, Poulantzas, Althusser, Harvey, Holloway und viele mehr sind mit ihren Theorien vertreten und fließen in die Arbeit ein.
Manchmal kann man den Eindruck bekommen, dass Hirsch zu viele verschiedene Denkrichtungen zu vereinen versucht. Und leider mündet das Buch in kaum befriedigende emanzipatorischen Strategien: Hirschs Vorschläge laufen auf einen lauwarmen Linksreformismus hinaus. Er schwankt hier zwischen Autonomismus, radikaler Reform und der Angst, sich doch wieder nur in die Fänge staatlicher Macht zu begeben.
Grundsätzlich räumt Hirsch in dem Buch sehr gut mit dem weitverbreiteten Mythos vom Verschwinden des Staates auf. Der Staat ist mitnichten im Verschwinden begriffen, im Gegenteil stellt er sich neu auf, wird neu geformt unter den Bedingungen des neoliberalen Kapitalismus. „Neoliberaler Konstitutionalismus“ verknotet die Macht von staatlichen, transnationalen und supranationalen Akteure.
Zum Verstehen und Begreifen dieser neuen Konstellation leistet Joachim Hirsch einen unverzichtbaren Beitrag.