Seit Che Guevara und Salvador Allende hat kein lateinamerikanischer Politiker stärker die Hoffnungen der Linken in aller Welt repräsentiert als Hugo Chávez. Doch die Strahlkraft Chávez’ und der weit verbreitete Enthusiasmus führt nur zu oft dazu, die Entwicklungen in Venezuela als Projekt eines Mannes zu betrachten und auf die Frage „Wer ist/was will Chávez?“ zu reduzieren. „Chávez ist ein Symbol für uns“, meint der venezolanische Gewerkschaftsaktivist Roland Denis, „unsere Herausforderung ist es, ein Symbol nicht mit Politik zu verwechseln.“1 Benjamin Opratko und Philipp Probst versuchen diese Verwechslung zu vermeiden und analysieren Errungenschaften und Probleme der „bolivarianischen Revolution“.
Ein flüchtiger Blick auf die Geschichte Venezuelas zeigt Muster, die sich kaum von jenen anderer lateinamerikanischer Staaten unterscheiden. Blutig erkämpfte Unabhängigkeit vom Kolonialismus, eine extrem reiche und politisch einflussreiche Schicht von Großgrundbesitzern die den armen Massen gegenübersteht sind weithin bekannte Eckpunkte. Was aber Venezuela in erster Linie von seinen Nachbarstaaten unterscheidet ist sein Reichtum an fossilen Rohstoffen. Seit den 1920er Jahren macht der Export von Erdöl knapp 90 Prozent des Staatseinkommens aus. Die Auswirkungen waren und sind gravierend: Zwar prosperierte die Wirtschaft Venezuelas über weite Teile des 20. Jahrhunderts konstant, sodass das lateinamerikanische Land in den 1950er Jahren ein beliebtes Ziel südeuropäischer MigrantInnen war – der Reichtum aus den Ölexporten kam aber nur einer schmalen Schicht zugute. Caracas, die Hauptstadt Venezuelas, ist ein Monument dieser Entwicklung: Während die zentralen Bezirke von modernistischen Betonbauten gesäumt sind, ziehen sich Ringe von Slumvierteln –„Barrios“ – die Caracas umschließenden Berghänge hinauf. Die ProfiteurInnen der Erdölwirtschaft – in erster Linie UnternehmerInnen und die obere Mittelschicht der Hauptstadt – brachten es zu beachtlichem Wohlstand, sodass in den 1960er Jahren, am Höhepunkt des Erdölbooms, die Lebenserhaltungskosten in Caracas höher als jene in Chicago waren, während die BewohnerInnen der Barrios sozial und ökonomisch ausgegrenzt blieben.
Der 1958 geschlossene „Punto-Fijo-Pakt“, der die Kollaboration der zwei größten Parteien Venezuelas2 institutionalisierte, sorgte über mehrere Jahrzehnte für relative politische Stabilität. Die Ölindustrie Venezuelas wurde ebenfalls in den 1950er Jahren zusammengefasst und ließ die Profite aus dem Ölexport in die Taschen der Eliten und der oberen Mittelschicht fließen. Die „Stabilität“ des Systems beruhte in erster Linien auf diesen Profiten und einer Mischung aus Patronage (die zwei Prozent der Beschäftigten, die in der Ölindustrie arbeiteten, genossen hohe Löhne und privilegierten Sozialstatus), Repression und vereinzelter sozialer Inklusion. Im Rahmen einer Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung3 (und auf Druck der Linken) wurde unter anderem die so wichtige Erdölindustrie zur PDVSA4 verstaatlicht und stetig kleine Teile der bis in die 1970er Jahre buchstäblich sprudelnden Gewinne in Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsprogramme gesteckt die, gemeinsam mit den im Punto-Fijo-Pakt integrierten Gewerkschaften, die armen Massen ruhig halten konnten. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Politik keineswegs zu einer Angleichung der Lebensstandards geführt hat. Im Gegenteil war das Resultat der Politik des „Puntofijoismo“ eine enorme Konzentration des gesellschaftlichen Reichtums – so befindet sich seit damals praktisch die gesamte Medienlandschaft in den Händen von vier Industriellenfamilien5 – und die zunehmende Armut der BewohnerInnen der Barrios.
In den 1980er Jahren, als die Regierung Venezuelas als Reaktion auf den Absturz des Ölpreises und die weltweite Rezessionskrise (und auf Druck des Internationalen Währungsfonds IWF) immer schärfere neoliberale Reformen durchführte6, konnte das alte korporatistische System die soziale Sprengkraft der sich zunehmend verschärfenden Ungleichheiten kaum noch eindämmen. Der große Ausbruch kam im Jahr 1989, als Proteste gegen die Verdoppelung der Preise für öffentliche Busse in Caracas sich zu einem gewaltigen Aufstand gegen die sozialdemokratische AD-Regierung entwickelten. Die Armen der Barrios stürmten von den Hängen in das Stadtzentrum und plünderten die luxuriösen Häuser und Geschäfte der superreichen BewohnerInnen des Zentrums. Die herrschende Klasse reagierte, indem sie Militär und Polizei mit Waffengewalt gegen die Protestierenden vorgehen ließ. Nach zwei Tagen heftiger Kämpfe und mehreren tausend Toten mussten sich die DemonstrantInnen wieder in die Barrios zurückziehen. Doch die Regierung hatte einen Pyrrhussieg errungen. Zwar konnte sie mit Gewalt und Repression ihre Herrschaft vorübergehend sichern – der Preis dafür war jedoch der endgültige Verlust an Konsens und Vertrauen in breiten Teilen der venezolanischen Bevölkerung. Das zentrale Moment bürgerlicher Machtausübung – die Organisierung von aktiver oder passiver Zustimmung unter der Mehrheit der Unterdrückten – war damit abhanden gekommen.
Der als „Caracazo“ in die Geschichte eingegangene Aufstand von 1989 wirkte als Initialzündung für die Widerstandsbewegungen Venezuelas. Auf lokaler Ebene entstanden Netzwerke und Basisinitiativen, die sich auf kämpferische Traditionen der Barrios beriefen7 und von alternativen Radiosendern über Stadtteilversammlungen bis zur Unterstützung von seit den 1960ern existierenden Guerillatruppen reichten. Gleichzeitig gewannen linke, nicht in den Staat integrierte politische Parteien wie „La Causa R“, die ab 1993 den Bürgermeister von Caracas stellte, mehrere Regionalwahlen. Und schließlich regte sich immer stärkerer Widerstand im Militär, wo nicht zuletzt die Ereignisse des „Caracazo“ viele davon überzeugt hatten, dass das zutiefst korrupte Regime gestürzt und die immer größere Teile der Gesellschaft in Armut stoßende neoliberale Politik beendet werden musste.8
Die Kombination aus massenhafter Unzufriedenheit mit den Herrschenden, vielfältiger Organisierungsformen an der Basis und dem glaubwürdigen politischen Projekt des „Movimiento Quinta República“ (MVR), in dem sich progressive Militärs mit Teilen der politischen Linken gegen das korrupte System des Puntofijismo und die neoliberale Politik der Regierung verbanden, spülte schließlich bei den Wahlen von 1998 den seit den Putschversuchen von 1992 populären Offizier Hugo Chávez förmlich ins Präsidentenamt. Anfangs noch bedacht, soziale Reformen durchzusetzen und den Kampf gegen die korrupte Bürokratie des Puntofijismo aufzunehmen, ohne das Großbürgertum Venezuelas allzu sehr zu verprellen, wurde Chávez bald klar, dass dessen Bereitschaft zur Kooperation mit der neuen Regierung kaum vorhanden war. Dies war kaum überraschend – schließlich versprach Chávez nicht weniger als die komplette Neugestaltung der venezolanischen Gesellschaft im Rahmen der „bolivarianischen Revolution“, die den Staatsapparat komplett transformieren will, ohne dabei die Bahnen des bürgerlich-demokratischen Rechtsstaates zu verlassen.
Der Name des legendären Unabhängigkeitskämpfers Lateinamerikas, Simon Bolivar, dient Chávez dabei als Symbol für dieses politische Projekt. Was genau den „Bolivarianismus“, die „bolivarianische Revolution“ ausmacht, darüber sind sich nicht nur die politischen KontrahentInnen in Venezuela uneinig, auch im Lager von Hugo Chávez und dessen weltweiten SympathisantInnen bleiben die Begrifflichkeiten oft eher Projektionsflächen eigener Vorstellungen – was nicht zuletzt ein Geheimnis der globalen Popularität des Bolivarianismus ist. Hugo Chávez selbst gibt in einem Interview aus dem Jahr 1996 – also vor seiner Wahl zum Präsidenten, einige Hinweise auf die Grundlagen seiner Politik:
„Die bolivarianische Bewegung wurde vor 15 Jahren in den Baracken geboren, als eine Gruppe von Soldaten erkannte, dass der Feind nicht der Kommunismus, sondern der Imperialismus war. Viele Jahre lang arbeiteten wir vorsichtig und schrittweise an der Entwicklung einer nationalistischen, patriotischen Bewegung mit einer Hand in den Baracken und einer in den Straßen (…) In unserem Modell von Demokratie (…) muss es direkte Demokratie, eine Regierung des Volkes mit Volksversammlungen und –kongressen geben, wo die Menschen das Recht ausüben, ihre gewählten Delegierten abzuwählen, zu nominieren, zu sanktionieren und abzusetzen.“9
In diesem Zitat lässt sich die Essenz des Bolivarianismus erkennen: Einerseits ein „progressiver Nationalismus“, der den gesellschaftlichen Reichtum der Nation gerecht auf die gesamte Bevölkerung verteilen will – im Kontext des Erdöl-Staates Venezuelas heißt das in erster Linie „die Verteidigung der Souveränität über die Ressourcen, von deren Ausbeutung und Exporten in die Industriestaaten das Land lebt“10; Souveränität vor allem gegenüber den ökonomischen Interessen der großen US-amerikanischen und multinationalen Konzerne. Andererseits eine Vorstellung von Demokratie, die mit den traditionellen Repräsentationsmustern des Parlamentarismus – ein Kreuz alle x Jahre – bricht und an deren Stelle ein System der direkten Demokratie von unten setzen will. Der Rückgriff auf Bolivar scheint dabei in erster Linie ein symbolisches Reservoir zu öffnen, das großen Teilen der venezolanischen Bevölkerung eine direkte, affektive Identifikation mit dem Projekt der Regierung Chávez ermöglicht.
Die Heftigkeit, mit der die alten Eliten auf die Politik Chávez’ reagierten, zeigte sich erstmals im April 2002, als die Opposition im Bündnis mit rechten Militärs und den mächtigsten Medienunternehmen einen Putschversuch organisierten. Chávez wurde kurzzeitig entführt, und der Vorsitzende der Arbeitgeberorganisation erklärte sich kurzerhand zum neuen Präsidenten. Gerettet wurde Chávez von jenen, die ihn bereits 1998 zu seinem Wahlsieg verholfen hatten: Wie während des Caracazo stürmten die Armen zu hunderttausenden aus den Barrios und forderten die Wiedereinsetzung von Chávez und seiner Regierung. Große Teile der Armee solidarisierten sich darauf hin mit Chávez und die Putschisten mussten aufgeben. Auch zwei weitere Versuche, Chávez zu stürzen, scheiterten: Als die Teile der UnternehmerInnenschaft und insbesondere die BürokratInnen der PVDSA in einen „Managerstreik“ traten – also die Betriebe schlossen und die Maschinen anhielten – reagierten ArbeiterInnen, indem sie die Ölproduktion selbst organisierten; und 2004 versuchte die Opposition einen Passus der unter Chávez ausgearbeiteten und implementierten „Bolivarianischen Verfassung“, der die Möglichkeit der Abwahl von PolitikerInnen durch ein Referendum nach der Hälfte der Amtszeit vorsieht, gegen den Präsidenten zu nutzen, konnte aber trotz massiven Einsatzes aller großen Medien keine Mehrheit gegen Chávez erreichen.11
Diese enorme und nachhaltige Unterstützung für das Projekt des Präsidenten – von den letzten Präsidentschaftswahlen noch einmal unterstrichen – kann nur im Zusammenhang mit den konkreten Reformen verstanden werden, die von der Regierung Chávez seit ihrem Amtsantritt 1998 durchgeführt wurden.
Die meisten Projekte werden über so genannte misiónes (Missionen) verwirklicht, deren KoordinatorInnen von Chávez ernannt und ihm direkt verantwortlich sind. Durch die Programme Robinson I und II wurde 1,4 Millionen Menschen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten erstmals Lesen und Schreiben gelehrt, wodurch die Analphabetismusrate in Venezuela laut UNESCO-Studie auf nahezu null gesenkt werden konnte. Zusätzlich zur Grundausbildung wurde weiterbildende und höhere Bildung ermöglicht: Seit 1999 haben fünf neue „Bolivarianische Universitäten“ eröffnet, bis Ende 2006 sollen noch weitere hinzukommen. Im Moment sind etwa 275.000 Menschen in diversen universitären Programmen eingeschrieben. Im Gegensatz zur Zeit vor Chávez ist Bildung von Grundschule bis Universität frei zugänglich und gratis.
Es gibt eine Reihe von Initiativen um freie, umfassende und qualitative hochwertige Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung zugänglich zu machen. Mehr als 500 medizinische Zentren wurden errichtet. Mit Hilfe von 20.000 kubanischen ÄrztInnen konnte eine Vielzahl neuer Krankenhäuser betrieben werden. 70% der venezolanischen Bevölkerung erhielten dadurch erstmals Zugang zu freier medizinischer Versorgung, die über einfachste Behandlungen weit hinaus geht und etwa auch Zahnmedizin umfasst.
Die misión „Vuelvan Caras“ ist ein Programm zur administrativen und technischen Ausbildung von ArbeiterInnen, um ihnen die Fähigkeiten für zukünftige Jobs zu geben. Ziel ist es, dass viele dieser ArbeiterInnen in den neu gegründeten und von der Regierung unterstützten Kooperativen arbeiten. Diese Kooperativen werden als zentrale Komponente eines neue ökonomischen Models gesehen, das auf „gemeinschaftliches Wohlergehen statt Kapitalakkumulation“ zielt. Derzeit werden etwa 700 Unternehmen überprüft, die nach dem Unternehmerstreik von 2002/2003 nicht mehr produzieren. Diese sollen enteignet (allerdings nicht ohne den EigentümerInnen Entschädigungen zu zahlen), von ArbeiterInnen übernommen und als Kooperativen weitergeführt werden. 49% des Betriebes sind dann in der Hand der ArbeiterInnen, während die restlichen 51% in Staatshand wandern. Diese Art des Ko-Managements soll partizipative Demokratie in der Arbeitswelt verankern. Zurzeit gibt es acht Fabriken, die von ArbeiterInnen übernommen worden sind, doch erst bei zwei ist der juristische Prozess abgeschlossen. Auch die in Lateinamerika traditionell enorm wichtige Frage der Landverteilung wird von der Regierung Chávez angegangen. Im Rahmen der „Leyes Habilitantes“ wird geregelt dass Land, das von armen Bauern und Bäuerinnen als Anbau- oder Wohnfläche genutzt wird, rechtmäßig in deren Besitz übergehen kann, wenn nachgewiesen werden kann, dass das Land gar nicht oder zu wenig von seinen EigentümerInnen genutzt wird.
Die Möglichkeit diese misiónes und Sozialprogramme zu finanzieren, hängen stark von den Einnahmen der Öl-Industrie ab. Venezuela ist der fünftgrößte Erdölexporteur der Welt, mit den größten Reserven an normalem Öl der Westlichen Hemisphäre. Der starke Anstieg des Ölpreises seit 2002 führte zu einem Wirtschaftswachstum von 17% im Jahr 2004 und über 9% in 2005. Durch die Erhöhung der Abgaben auf Erdöl, die ausländische Erdölkonzerne an den venezolanischen Staat zu liefern haben, von 1% auf 16,66% seit Januar 2005, sind die Nettoeinkünfte Venezuelas aus dem Erdölexport von 46 Millionen Dollar auf über 750 Millionen Dollar im Jahr 2005 gestiegen. Der Staatshaushalt für 2006 beträgt ca. 33 Mrd. Euro, wovon 41% in soziale Programme fließen sollen. Damit sind die öffentlichen Ausgaben seit 1998 verdreifacht worden.12 Das Bolivarianische Projekt hat es geschafft Millionen bisher randständiger Menschen Hoffnung zu geben und in das politische und gesellschaftliche Leben mit einzubeziehen. Dennoch die Menschen in Venezuela sind noch weit davon entfernt alle Aspekte ihres Landes selbst zu kontrollieren. Der Großteil der Industrie ist noch in privater Hand. GroßgrundbesitzerInnen heuern Schläger an, um Bauern und Bäuerinnen von ihren Grundstücken zu vertreiben, während die Regierung zu langsam ist, die Anerkennung des unbenutzten Landes zu regeln.
Trotz Versuchen und Maßnahmen den Staat zu demokratisieren, wie die Möglichkeit gewählte Kandidaten nach der Hälfte ihrer Amtszeit abzuwählen, bleibt die Staatsmaschinerie und Bürokratie größtenteils in Takt. Chávez’ Regierung deregulierte das venezolanische Finanzsystem, was dazu führte, dass spanische Banken sehr stark darin involviert sind. Die Stromversorgung wurde privatisiert, Medien und die großen Dienstleistungsindustrien bleiben nach wie vor in privater Hand. Es gibt Hindernisse bei der Einführung des Ko-Managements von Fabriken, wichtige Industriezweige wie die Ölindustrie und wichtige Dienstleistungssektoren (etwa im Bereich Telekommunikation) werden von der Mitverwaltung der ArbeiterInnen ausgeschlossen.
Angesichts dieser Probleme wird auch unter jener Mehrheit der Bevölkerung Venezuelas, die auf der Seite der „Bolivarianischen Revolution“ steht, Kritik an der Umsetzung des revolutionären Prozesses laut. So kam es bei Gemeindewahlen zu Auseinandersetzungen zwischen BasisaktivistInnen der „chavistischen“ Partei und führenden Parteimitgliedern, weil die BasisaktivistInnen die vorgegebene KandidatInnenliste nicht akzeptieren wollte. Viele Menschen sind skeptisch gegenüber der Regierung und dem bürokratischen Apparat rund um Chávez. „Es ist wichtig, dass es einen Druck von der Basis gibt. Und es gibt ganze Schichten wie die Bürgermeister, die über den Raum, der den Massen gegeben wird, beunruhigt sind, und nahe dran sind ihn zurück nehmen zu wollen. Sie wollen das Erreichte umdrehen. Deswegen gibt es einen Kampf der Basis gegen die Bürokratisierung und die Korruption.“, berichtet ein Aktivist einer Gemeinde. Roland Denis, Aktivist eines Netzwerks von GewerkschafterInnen, spricht das Problem direkt an: „Das Problem ist nicht nur die Bürokratie, sondern auch die Korruption. Bürokratie und Korruption werden zu einer furchtbaren Maschine, die den revolutionären Prozess in Venezuela zu zerstören droht. Eine Menge Geld wird über den Öl-Export eingenommen, doch nur wenig kommt zu den Massen. Ein Großteil geht verloren in den Sozialprogrammen, die eine direkte Verbindung zur Regierung haben. Doch bis jetzt hat nur ein Viertel der Bevölkerung davon profitiert.“13
Auf internationaler Ebene geht es Chávez in erster Linie um die Verteidigung der „bolivarianischen Revolution“ und ein von den großen Blöcken USA, Europa, und Japan unabhängiges Lateinamerika. Öl-Lieferungen an Kuba und Argentinien im Austausch gegen kubanische ÄrztInnen, und argentinische Agrarprodukte sind einige von mehreren Ansätzen, eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den lateinamerikanischen Staaten zu erreichen.
Zusätzlich arbeitet Chávez an der Verwirklichung der „Bolivarianischen Alternativen Handelszone“ (ALBA) als Gegengewicht zu der von den USA dominierten Freihandelszone für Amerika (FTAA/ALCA).
Das Ziel der ALBA soll sein, eine umfassende Integration Lateinamerikanischer Staaten zu erreichen, die „auf den Grundsätzen der Solidarität, der Gemeinschaft, Zusammenarbeit und Respekt für jede Nation frei von Kontrolle andere Nationen und Konzerne“ aufbauen soll. Dieser Plan umfasst den Aufbau von drei regionalen Organisationen. Neben der Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarkts soll „Petrosur“ die einzelnen Ölindustrien zusammenfassen und mit „Bansur“ eine gemeinsame Bank entstehen, die die nationalen Reserven zusammenfassen und dadurch Kredite unabhängig von IMF bzw. der Weltbank und deren Zinsen vergeben könnte. Die Umsetzbarkeit dieser Strategie scheint aber mehr als fraglich, angesichts der von links-liberalen Regierungen in Lateinamerika verfolgten Politik. Für Petrosur zum Beispiel müsste Argentinien die Ölindustrie wieder verstaatlichen, was eher unwahrscheinlich ist.
Chávez nimmt in allen wichtigen Fragen eine gegenüber den USA konträre Haltung ein.
Neben einigen verbalen Angriffen gegen die USA und George Bush im besondern, den er als „Mr. Danger“ bezeichnete, sprach er sich vehement gegen den so genannten „Krieg gegen Terror“ in Afghanistan und im Irak aus. 2005 spendierte Venezuela 1,15 Millionen Gallonen Billigheizöl, das tausenden ArbeiterInnenfamilien und Armen in sieben US-Bundesstaaten an der Ostküste zugute kam, was besonders nach der Hurrikan-Katastrophe in New Orleans auf große Sympathie stieß. Gleichzeitig sucht sich Chávez seine anti-imperialistischen Partner sehr undifferenziert. Die Abhängigkeit der bolivarischen Revolution vom Erdöl zwingt ihn überall Partner zu suchen. Nach seiner letzten Frankreichreise meinte Chávez, dass Venezuela eine verlässlicher und langfristiger Öl- und Gaslieferant Europas werden will. Mit China wurden Handelsvereinbahrungen über Technologieaustausch beschlossen und selbst der Iran wird als potentieller Partner genannt. Die immer stärkere Verknüpfung mit potenten kapitalistischen Partnern, wie Europa oder China, hindert Chávez an klaren Positionierungen zu Auseinandersetzungen in diesen Ländern. Während die imperialistische Politik der USA zu Recht kritisiert wird, fehlen Stellungnahmen zu Protesten gegen neoliberale Reformen in Europa, zur Kriegspolitik der EU oder der Menschenrechtssituation in China.
Ein Blick auf die Politik hinter dem „Symbol Chávez“ ist ein Blick auf eine höchst komplexe und widersprüchliche politische Situation. Innerhalb des „bolivarianischen Projekts“ entstehen Elemente eines echten demokratischen Sozialismus von unten – in Form von selbstverwalteten Betrieben, Netzwerken der sozialen Bewegungen und lokalen Organisationsformen, etwa im Rahmen der misiónes. Gleichzeitig verbleiben weite Bereiche des politischen Systems in den Händen der staatlichen Bürokratie – die zu großen Teilen noch aus prä-Chávez-Zeiten stammt, und die ArbeiterInnen-Verwaltung bleibt zumindest bisher auf einige Betriebe beschränkt und muss selbst dort, wo sie existiert, Zugeständnisse an die Staatsbürokratie machen. In der Außenpolitik trifft ein zumindest verbal radikaler Antiimperialismus auf Versuche, durch die Annäherung an andere lateinamerikanische Staaten sowie Kooperationen mit Ländern wir Russland, China oder dem Iran einen alternativen Wirtschaftsblock aufzubauen, der keineswegs mit den Spielregeln der globalen Marktwirtschaft brechen will.
Wohin sich die bolivarianische Revolution bewegt, wird maßgeblich davon abhängen, ob ihre soziale Basis erfolgreich politischen Druck nach oben ausüben kann. Der kometenhafte Aufstieg von Chávez wurde von der verarmten Bevölkerung der Barrios getragen. Sie waren es, die ihren Präsidenten vor dem Putschversuch der Opposition schützten, indem sie in Massen nach Caracas stürmten, und sie sind es auch, die mit Nachbarschaftsversammlungen, lokalen politischen Netzwerken (etwa zur Durchführung der misiónes) und sozialen und kulturellen Projekten das politische Vakuum füllten, das die Implosion der alten Parteien und die Ablehnung der traditionellen Formen der Politik hinterließen. Die physische Mobilisierung der armen Bevölkerung konnte die bolivarianische Revolution zwar in der Vergangenheit verteidigen, die soziale Basis des Projekts bleibt damit allerdings fragil. Wie oft noch können die BewohnerInnen der Barrios so auf die zweifellos wiederkehrenden Angriffe der Opposition reagieren? Die zwei Standbeine des Bolivarianismus – die fortschrittlichen Teile des Militärs und die verarmte Bevölkerung, „die Baracken und die Straße“, werden eine dritte, entscheidende Stütze brauchen, um sich erfolgreich zu behaupten: die ArbeiterInnen und Angestellten als ProduzentInnen des gesellschaftlichen Reichtums Venezuelas. Ein gewaltiger Schritt in diese Richtung wurde im Managerstreik von 2002 getan, als ArbeiterInnen in Eigenregie die Produktion aufnahmen – insbesondere in der zentralen Ölindustrie, deren traditionell privilegierte Angestellte bis dahin als Bollwerk der Opposition galten. Die Politik des Ko-Managements, in deren Rahmen immer mehr Betriebe von ArbeiterInnen verwaltet werden, setzte diese Dynamik fort und integrierte sie in das bolivarianische Projekt. Eine wichtige Entwicklung ist dabei auch die Entstehung eines neuen Gewerkschaftsverbands, nachdem sich die alte, seit dem Punto-Fijo-Pakt mit den traditionellen Eliten verbandelte CTV offen auf die Seite der Opposition geschlagen hat. Heute zählt die neue Gewerkschaft UNT bereits mehr Mitglieder als die CTV.
Die „Bolivarianische Revolution“ ist ein Prozess mit offenem Ende. In der venezolanischen Regierung und der UNT kämpfen verschiedene Kräfte um ihre Politik. Manche von ihnen propagieren eine „solidarische“ Marktwirtschaft und die Einbindung der KapitalistInnen in das bolivarianische Projekt. Die chilenische Journalistin und enge Beraterin von Chávez, Martha Harnecker, meinte etwa in einem Interview, dass „um die Armut zu beseitigen, es unter anderem notwendig ist, produktive Arbeitsplätze zu schaffen, und die Reaktivierung des privaten Sektors war die Hauptquelle der Arbeitsplätze im Land“.14 Gleichzeitig aber argumentieren wachsende politische Strömungen für eine Vertiefung und Ausweitung der bolivarianischen Revolution: „Chávez sagt, wir müssen den Menschen Macht geben. Nun, Macht bedeutet, Kontrolle über deine Fabrik, deine Community, die Menschen die du wählst auszuüben“, meint etwa Stalin Pérez Borges, Vorsitzender der UNT und Mitbegründer der PRS, einer neuen Partei, die für eine sozialistische Perspektive des Bolivarianismus eintritt.15
„Bolivarianismus“ ist somit weniger ein kohärentes politisches Projekt als eine Art begrifflicher Überbau, der unterschiedliche und teilweise gegensätzliche politische Strategien zumindest vorläufig zusammenhält. Für den konservativeren „Mainstream“ der „bolivarianischen Revolution“ ist das Ziel ein staatskapitalistisches Entwicklungsregime, das die Einnahmen aus dem Erdölexport via Sozial- und Bildungsprogrammen breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich macht und begrenzte Reformen zur Stärkung partizipativer Demokratie durchsetzt. Bei allen positiven Veränderungen, die dadurch möglich wären, sind diesem Projekt doch enge Grenzen gesetzt: Die Weltmarkt-Interessen Venezuelas zwingen zu Bündnissen mit neoliberalen Regierungen, die Aufrechterhaltung kapitalistischer Produktions- und Distributionsformen degradiert die ArbeiterInnenmitbestimmung letztlich zu einer Art von Selbstausbeutung und Demokratisierung macht vor den Entscheidenden Bereichen der Gesellschaft – den Produktionsstätten – halt.
Gleichzeitig gibt es wichtige Kräfte innerhalb des Bolivarianismus, die aus der „bolivarianischen“ eine tatsächliche soziale und politische Revolution machen wollen. Dazu müssten die existierenden und entstehenden demokratischen Basisstrukturen – in den Betrieben, den Stadtteilen, Schulen usw. – den Anspruch stellen, tatsächlich die politische und ökonomische Kontrolle zu übernehmen. Das Projekt des Bolivarianismus hat es ermöglicht, den Kampf um die Macht „von unten“ zu führen. Daraus sollte aber nicht geschlossen werden, dass ein „glatter“, gradueller Übergang von einem kapitalistischen Staat zu einem demokratischen Sozialismus geben kann.16 Die venezolanische Bourgeoisie hat schließlich bereits angesichts der Reformen der Regierung Chávez gezeigt, dass sie ihre Machtposition nicht kampflos abgibt.
Letztlich wird es von der erfolgreichen politischen Organisierung der ökonomischen, sozialen und kulturellen Initiativen, unabhängig von staatlichen Strukturen, abhängen, ob im Namen der Bolivarianismus ein altes System rot angestrichen, oder die Übernahme der politischen und ökonomischen Kontrolle durch demokratische Strukturen von unten ermöglicht wird. An ihnen liegt es, ob sich die radikale Rhetorik Chávez’ tatsächlich in Politik umsetzen lässt. Der hat schließlich in seiner wöchentlichen TV-Show „Álo Presidente“ verkündet: „Ich bin überzeugt, dass der Weg in eine neue, bessere Welt nicht der Kapitalismus ist. Der Weg ist der Sozialismus.“
1 Zit. nach Harman, Chris: Revolution in the Revolution; in: Socialist Review, February 2006.
2 Der Pakt umschloss die sozialdemokratische „Acción Democratica“ (AD) und die christlich-bürgerliche COPEI.
3 Importsubsituierende Industrialisierung (ISI) war eine in den 1950er und 1960er Jahren weit verbreitete Entwicklungsstrategie peripherer Staaten. Ziel der ISI ist es, durch den Aufbau einer eigenständigen nationalen Industrie und die temporäre Abschottung der Inlandsmärkte, langfristig den Import von Konsumgütern durch eigene Produkte zu ersetzen.
4 „Petroleo de Venezuela S.A.“, meist ausgesprochen „Pédevésa“.
5 Für die der venezolanische Volksmund die Bezeichnung „die vier Reiter der Apokalypse“ kennt.
6 Zwischen 1983 und 1989 fielen die Reallöhne um ein Fünftel, der Armutsanteil der Bevölkerung stieg von zehn Prozent Ende der 1970er bis 1991 auf 68 Prozent. (Zelik, Raul: Venezuelas „bolivarianischer Prozess“. Mit Gilles Deleuze in Caracas; in: Prokla 142, 1/2006. 26ff)
7 Diese Traditionen werden wohl am besten vom Barrio-Bezirk „23 de Enero“ repräsentiert, der nach dem Datum eines Aufstands seiner BewohnerInnen gegen den Diktator Jimenez im Jahr 1958 benannt ist.
8 Die progressiven Teile des Militärs, organisiert in losen „Bolivarianischen Zirkeln“, organisierten 1992 zwei Putschversuche, die zwar fehlschlugen, ihrem charismatischen Kopf Hugo Chávez aber zu enormer Popularität verhalfen.
9 Zit. nach Gonzales, Mike: Venezuela: Many steps to come; in: International Socialism Journal 104, Autumn 2004.
10 Melcher, Dorothea: Venezuelas Erdöl-Sozialismus; in: Das Argument 262, 4/2005. 506.
11 Zum Referendum siehe ausführlicher: Gonzales a.a.O.
12 Herrman, Jan Peter: Ein Modell für eine andere Welt?; in: Argumente 8, November 2005.
13 Harman a.a.O.
14 Harnecker, Martha: In the laboratory of the revolution. An interview with Martha Harnecker; in: International Socialism Journal 109, Winter 2006.
15 Pérez Borges, Stalin: The Party of Revolution and Socialism. Interview with Stalin Pérez Borges; in: International Socialism Journal 109, Winter 2006.
16 Diese falsche Vorstellung eines graduellen Übergangs tritt in zwei Formen auf. Einerseits wird aus der zunehmend radikaleren Rhetorik von Hugo Chávez eine revolutionär-sozialistische Orientierung der Führung des Bolivarianismus abgeleitet. Andererseits meinen TheoretikerInnen wie John Holloway, die Entstehung von molekularen Formen von Demokratie und Solidarität in den „Rissen im Gewebe der kapitalistischen Herrschaft“ mache die Frage nach der Macht obsolet. (Holloway, John/Negri, Toni: Die Revolution hat bereits begonnen. Interview; in: ak – Analyse & Kritik, März 2006)